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REPRESSION/1402: "Stuttgart 21" ... staatsbürgerliches Bildungsprogramm der anderen Art (SB)



Staatspädagogisch wertvoll sind die Erfahrungen, die die Stuttgarter Bürger im Widerstand gegen das Bahnprojekt S21 machen, allemal. Allerdings nicht im Sinne derjenigen, die politische Bildung als Auftrag des Kartells aus Staat und Kapital verstehen, dessen Machtanspruch mit dem Zuckerguß partizipativer Perspektiven zu überziehen. Werden diese einmal im wortwörtlich genommenen demokratischen Sinne eingefordert, dann kann man, wie in der Landeshauptstadt Baden-Württemberg geschehen, Aufklärung am eigenen Leib erfahren.

So dürfen sich die von den Übergriffen der Polizei im Stuttgarter Schloßpark Betroffenen auf so unsanfte wie überzeugende Art und Weise über den interessenbedingten Charakter des staatlichen Gewaltmonopols belehrt fühlen. Wenn staatlicherseits behauptet wird, Mütter hätten ihre Kinder gegen die Polizei in Stellung gebracht und damit unverantwortlicherweise gefährdet, wird sich der eine oder andere an die Bezichtigungslogik der NATO erinnern, die Taliban hätten Zivilisten als Schutzschilde verwendet, die man deshalb leider hätte vernichten müssen. Derartige Lektionen sitzen weit besser als die übliche Indoktrination vom Citoyen als eigentlichem Souverän, an dem die in Aussicht gestellte Entscheidungsfähigkeit auf gegenteilige Weise vollzogen wird. Das Erstaunen und die Empörung der mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Knüppelhieben traktierten Menschen über diese Demonstration staatlicher Vollzugsgewalt kann nur als Beginn eines Lernprozesses verstanden werden, den zu vollziehen es allerdings mehr Mutes bedarf als an einem Protest teilzunehmen, den seine Adressaten von vornherein als wirkungsloses symbolpolitisches Ritual abtun.

So kann angesichts des Insistierens der Landesregierung und der Bahn auf das demokratische Zustandekommen der Baugenehmigung die Frage nach dem egalitären Charakter der Willensbildung in einer repräsentativen Demokratie nicht ungestellt bleiben. Die Interessen mächtiger Akteure bestimmen den parlamentarischen Prozeß auf der Grundlage des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, den zugunsten seiner Aufrechterhaltung und Vertiefung zu moderieren wesentlicher Sinn und Zweck demokratischer Aushandlungsprozesse in einer kapitalistischen Gesellschaft ist.

So besteht die "Veredlung" des Wählerwillens durch Parteien und Regierungsbehörden unter anderem darin, daß antikapitalistische und systemverändernde Kräfte einem breit gefächerten Instrumentarium politischer Repression ausgesetzt werden. Selbst im Bundestag vertretene Parteien sind nicht vor der Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst, die bei entsprechender Beweislage zur Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens führen kann, geschützt. Wer die diese Gesellschaft bestimmenden Produktions-, Eigentums- und Klassenverhältnisse grundlegend in Frage stellt, ist auch dann, wenn er das kleine Parteiverbot der Fünf-Prozent-Sperrklausel überwindet, davon bedroht, auf völlig undemokratische Weise mundtot gemacht zu werden.

In ihrer antidemokratischen Auswirkung bedeutsamer ist allerdings die von Kapitalinteressen dominierte massenmediale Indoktrination, mit Hilfe derer sich politische Außenseiter wirksam zum Feind von Staat und Gesellschaft aufbauen lassen. Der Begriff der "Mediendemokratie" ist ein Euphemismus für die Definitionsgewalt und Diskurshoheit einer Kulturindustrie, von der zu leben voraussetzt, sich für die erwünschte Konsensproduktion verdient zu machen. Schließlich sind die Parteien und die Ministerialbürokratien Einfallstore für Kapitalinteressen, die auf verschiedenste Weise bei Personalentscheidungen, der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen und Parteiprogrammen sowie konkreter Regierungsentscheigungen Geltung erlangen.

Der schöne Schein der demokratischen Gesellschaftsordung weist erst dann Risse auf, wenn die Bürger ihre Forderungen so unbescheiden vertreten, daß das gut ausgebaute Arsenal ihrer Vereinnahmung nicht verfängt. Verhandlungsangebote, die keine sind, weil der Baubeschluß nicht zur Disposition gestellt oder auch nur ausgesetzt wird, um die angebliche Verweigerungshaltung der Protestler zu exemplifizieren; Spaltungsstrategien, bei denen die Gefahr einer Radikalisierung durch "Berufsdemonstranten" und "reisende Gewalttäter" an die Wand gemalt und zudem signalisiert wird, daß die Möglichkeit des Einsatzes von agents provocateurs zur Kriminalisierung des Protestes durchaus machbar ist; die Kooptierung des Protests durch etablierte Parteien wie die Grünen oder NGO-Profis, die in der Sache auf der Seite der Demonstranten stehen mögen, aber jede prinzipielle Infragestellung herrschender Gewaltverhältnisse als Radikalisierungstendenz denunzieren, sind nur einige Beispiele für Methoden der Befriedung, die zurück in etablierte Verfügungsstrukturen führen, bevor man sich ihrer ernsthaft entledigt hat.

Schon die immense Geldverschwendung für ein Infrastrukturprojekt, das Zwecken der Kapitalakkumulation dient und einer sozial- wie umweltfreundlichen Verkehrspolitik nicht ferner liegen könnte, gibt Anlaß, es in den weiteren Kontext sozialer Unterdrückung und Verelendung zu stellen. Den Schaden zu begrenzen, indem die Stuttgarter Proteste strikt auf ihren Anlaß begrenzt werden, so daß es zu keiner übergreifenden Solidarisierung mit AKW-Gegnern, Hartz IV-Empfängern, Antikapitalisten und Antimilitaristen kommt, ist denn auch die vordringliche Absicht jeglicher Beschwichtigung. So wird den S21-Demonstranten weit mehr Verständnis in den Medien entgegengebracht, als es bei den üblichen Verdächtigen aus der radikalen Linken der Fall ist. Der Polizeieinsatz wird als überzogen kritisiert nicht weil er Ausdruck prinzipieller exekutiver Ermächtigung des Sicherheitsstaates ist, sondern weil er in diesem einen Fall unangemessen gewesen sein soll. Der legitime Charakter des Protests der S21-Gegner wird attestiert, um über die Legitimität systemkritischer Demonstrationen schweigen zu können.

"Wir sind das Volk" ... der bei den Einheitsfeiern am 3. Oktober glorifizierte Widerstand dissidenter DDR-Bürger ist der Klassiker eines Demokratiemythos, der in den Himmel gehoben wird, um für antagonistische Kräfte unerreichbar zu bleiben. Der angebliche Volkssouverän wird als solcher nur aufgerufen, wenn es seiner Integration in, sprich Anpassung an herrschende Verhältnisse dient. Wenn der Bahnchef Rüdiger Grube in Richtung der S21-Gegner höhnt, daß es kein Widerstandsrecht gegen den Bahnhofsbau gebe, verweist er nicht von ungefähr auf ein verfassungsrechtliches Grundrecht, das, gerade weil es den Kern radikaldemokratischer Emanzipation berührt, eine bloße Leerstelle exekutiver Ermächtigung ist.

So gehört das Widerstandsrecht nach Artikel 20, Absatz 4 nicht zum verfassungsrechtlichen Gründungsbestand der BRD, sondern resultiert aus der Notstandsgesetzgebung des Jahres 1968. Da die Exekutive mit deren Vollmachten über die Möglichkeit verfügt, einen Staatsstreich von oben zu begehen, fügte man das Widerstandsrecht als Antidot gegen eine solche Ermächtigung ein. Damit sind die Möglichkeiten einer autoritären Machtübernahme auf der Basis des Ausnahmezustands jedoch keineswegs gebannt, wäre jeder Widerstand gegen eine Exekutive, der das ganze Arsenal der Notstandsvollmachten zur Verfügung stände, doch ein wenig erfolgversprechendes und zudem lebensgefährliches Unterfangen. Schlußendlich ist es eine Machtfrage, wer darüber befindet, ab wann die verfassungsmäßige Ordnung so sehr außer Kraft gesetzt wäre, daß gewaltsamer Widerstand nicht nur legitim, sondern auch legal ist. Wer über die Macht verfügt, hat keinen Grund, dagegen gerichteten Kräften zu diesem Rechtsstatus zu verhelfen, wer ihr ohnmächtig gegenübersteht, verfügt über keine rechtsetzende Gewalt. Eine Bahnsteigkarte zu lösen, bevor man den Zug der Revolution besteigt ist nicht widersprüchlicher als bei demjenigen, den man bekämpfen will, um Erlaubnis zu fragen, ob man dies tun kann.

"Seine Zielrichtung ist nicht antistaatlich, sondern Staats- und Verfassungsnothilferecht zur Bewahrung der vom Grundgesetz konstituierten freiheitlich demokratischen Grundordnung. Art. 20 Abs. 4 ist Bewahrungs-, nicht Umgestaltungsinstrument. Es ist verteidigender, nicht umstürzender oder revolutionärer Natur und als solches zudem nur ultima ratio. Der Verfassungsstaat hat das Widerstandsrecht auf den äußersten Fall reduziert. Darum wäre diese Waffe vielleicht besser in der Scheide des ungeschriebenen Rechts geblieben."
(Klaus Stern: Verfassungsrechtliche wider "ideologische" Deutung der Grundrechte; Beitrag aus "Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel", hg. vom Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, 1983)

Dem Urheber dieser herrschaftsförmigen Exegese mag noch der Nachhall des revolutionären Aufbruchs der 1960er Jahre in den Ohren geklungen haben. Grube hingegen ist sich mit Carl Schmitt einig, daß souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, und das ist eben nicht "das Volk", das als Akteur einer friedlichen Revolution gefeiert wird, weil die Freiheits- und DM-Propaganda ganze konterrevolutionäre Arbeit geleistet hat. In der Arroganz der Macht liegt der Keim ihrer Überwältigung, und in Stuttgart sind zumindest einige Menschen dabei, eben dies zu lernen.

4. Oktober 2010