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REPRESSION/1385: Den "Feind" sezieren ... neues EU-Projekt politischer Kontrolle (SB)



Nicht erst mit dem Widerstand der Griechen gegen die massiven Sparpläne, die das Gros der lohnabhängigen Bevölkerung für den Einbruch der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation haftpflichtig machen sollen, scheint sich die Befürchtung der von diesem Verwertungssystem profitierenden Eliten zu bewahrheiten, daß die Menschen nicht bereit sind, die Kosten für die Reichtumsanhäufung einiger weniger zu übernehmen. Um den geordneten Verlauf der weiteren Umverteilung von unten nach oben zu gewährleisten, reicht die neoliberale Indoktrination vom alleinseligmachenden Primat des Marktes ebensowenig aus wie das massenmediale Programm kulturindustrieller Verdummung. Im Ernstfall organisierten Widerstands gegen die Kapitalmacht wird zu bewährten Mitteln der Repression gegriffen, allerdings nicht ohne zuvor mit einem umfassenden Arsenal präventiver Observation und Evaluation tief in die Strukturen und Identitäten des rebellischen Elements einzudringen.

Ein derartiger Versuch wird derzeit auf EU-Ebene unternommen. Wie die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch [1] mitteilt, hat der Europäische Rat Maßnahmen zur Einführung eines EU-weiten Überwachungssystems getroffen, das "Radikalisierungstendenzen" im ganzen Spektrum des politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivismus untersuchen soll. In einer "Schlußfolgerung" [2], einer zwar nicht rechtsverbindlichen, aber wegweisenden politischen Leitlinie des Rats vom 16. April 2010 werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, sich eines "standardisierten, multidimensionalen semistrukturierten Instruments zur Sammlung von Daten und Informationen über Radikalisierungsprozesse in der EU" zu bedienen, um unter anderem "den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten zu optimieren; das Ausmaß, die Merkmale und den Grad von Radikalisierungsprozessen zu evaluieren; das Wissen um das Phänomen zu vergrößern und die Möglichkeiten der Identifikation derjenigen, die an seiner Verbreitung beteiligt sind, zu erweitern". Der letztgenannte Zweck des "Instruments" wird mit dem Hinweis auf Maßnahmen präzisiert, die zu ergreifen sind, "ob sie nun darauf ausgerichtet sind, den sich entwickelnden Radikalisierungsprozeß zu unterbrechen oder Alarmhinweise in Bezug auf ihn zu geben."

So wird die europäische Polizeibehörde Europol dazu aufgefordert, mit ihren Datensammlungen zur Erforschung der Radikalisierungsprozesse beizutragen, "um Listen über diejenigen erstellen zu können, die an Radikalisierung/Rekrutierung oder der Verbreitung radikalisierender Botschaften beteiligt sind und angemessene Maßnahme zu ergreifen". Wie diese im einzelnen aussehen, bleibt dem auslegungsbedürftigen Wortlaut der Schlußfolgerung gemäß den Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten überlassen. In Anbetracht eines Auftrags, für den üblicherweise die Staatsschutzabteilungen der Polizei und die Inlandsgeheimdienste zuständig sind, sowie der bekannten Methoden der Terrorismusabwehr könnten diese Maßnahmen von bloßer Überwachung über Verhöre und Verhaltensauflagen bis hin zur Administrativhaft reichen.

Zwar bedient sich die Schlußfolgerung des Europäischen Rats der üblichen technokratischen Diktion der Antiterrorpolitik, doch wird der Begriff der "terroristischen Gruppe" in dem Dokument, in dem das sogenannte Instrument vorgestellt und erläutert wird, gleichwertig mit dem der "Organisation" verwendet. Auch erweist sich der Titel des Ratsdokuments über das "Instrument zur Verarbeitung von Daten und Informationen über gewalttätige Radikalisierungsprozesse" [3] als ungenau, werden doch die Begriffe "gewalttätige Radikalisierung" und "Radikalisierung", wie Statewatch in seiner Analyse [4] feststellt, ohne nähere Aufklärung über ihren unterschiedlichen Gehalt gleichwertig eingesetzt.

Das eigentliche "Instrument" besteht aus 70 Fragen, die sich als Kriterien zur Bestimmung des individuellen wie kollektiven Charakters der jeweiligen "Radikalisierung" umschreiben lassen. Sein "semistruktureller" Charakter dient dem weiteren Ausbau des Fragenkatalogs, wird doch eigens darauf verwiesen, daß das "Potential des Werkzeugs nicht ohne Einbeziehung der Beobachtungen und analytischen Fähigkeiten des Endnutzers" erschlossen werden kann. Diese Matrix soziologischer, verhaltenspsychologischer, kommunikationswissenschaftlicher und kriminologischer Topoi soll die "totale Summe aller 'Episoden' erfassen, die von einem Individuum erfahren werden", um auf diese Weise die Entstehung "gewalttätiger Radikalisierungsprozesse" greifbar zu machen. Der behaviouristische Ansatz der Untersuchung verrät, daß eine autonome politische Willensbildung von vornherein ausgeschlossen wird.

Dementsprechend wenig erfährt man über das politische Subjekt der Radikalisierung. Zwar wird in einer Fußnote zu der Frage "Spektrum, in dem die Ideologie angesiedelt ist", auf "extreme Rechte/Linke, Islamist, Nationalist, Antiglobalisierung etc." verwiesen, doch näheren Aufschluß über den politischen Gehalt der unter dem ersten Fragenkomplex "Ideologien und Botschaften, die gewalttätige Radikalisierung unterstützen" ausgeleuchteten Dispositionen sucht man in dem Dokument vergebens. Man hat es schlicht mit einer großen Reuse zu tun, mit der alle Aktivisten und Bewegungen erfaßt werden sollen, die dem Begriff der "Radikalisierung" gemäß vom erwünschten politischen Konsens abweichen, sprich sich nicht in ausreichendem Maße der herrschenden Gesellschaftsdoktrin und Staatsräson unterwerfen.

Der schon bei der Lektüre der Schlußfolgerung des Rates entstehende Eindruck, daß es bei dieser Initiative zur Etablierung einer supranationalen Struktur der Überwachung und Erfassung radikaler Tendenzen nur oberflächlich um konventionelle Terrorismusbekämpfung geht, verdichtet sich zur Gewißheit, wenn man einen genaueren Blick auf die Fragenkomplexe wirft. Sie betreffen vor allem die Urheber, den Gehalt und die Vermittlungswege "radikaler Botschaften", die wiederum nicht ausschließlich Aufforderungen zur Gewalt betreffen müssen, sondern auf ihre jeweilige Nähe respektive Distanz zu "Gewalt und gewalttätiger Radikalisierung" hin untersucht werden.

Der indifferente Umgang mit einem in keiner Weise konkretisierten Gewaltbegriff eignet sich schon in Anbetracht der weitgefaßten Terrorismusdefinition der EU dazu, alle möglichen Formen des politischen Protestes zu kriminalisieren, werden doch laut dem "Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung" [5]

"vorsätzliche Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können, als terroristische Straftaten eingestuft (...), wenn sie mit dem Ziel begangen werden,

- die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern oder

- öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder

- die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören".

Die nähere Definition dieser Handlungen betrifft zwar Formen der materiellen Anwendung von Gewalt, die auch ohne ihre Qualifikation zu terroristischen Handlungen strafrechtlich verfolgbar wären, aber auch die bloße "Drohung, eine der (...) genannten Straftaten zu begehen".

Welche Bedeutung hat nun die Ausforschung der Faktoren und Bedingungen sogenannter Radikalisierungsprozesse vor dem Hintergrund bereits in den EU-Mitgliedstaaten existierender Systeme der Repression, die im Bereich der Terrorismusabwehr die Grenzen des konventionellen Strafrechts deutlich überschreiten? Es geht offensichtlich um den Aufbau einer Kontrollmatrix, die mit den weitreichenden Mitteln informationstechnischer Systeme in bislang noch nicht erschlossene Randbereiche individuellen und kollektiven Lebens eindringt und so auch die Verlustzonen kapitalistischer Vergesellschaftung dem Verwertungsdiktat unterwirft.

So wird unter dem zweiten Komplex "Verbreitungskanäle gewalttätiger Radikalisierung" dezidiert danach gefragt, wie die Urheber "radikaler Botschaften" mit ihren Adressaten in Kontakt treten, wer initiativ wird, wie die hierarchischen Verhältnisse zwischen den Kommunikationspartnern beschaffen sind, ob das Internet benutzt und welche IP-Adressen verwendet werden, in welcher Sprache oder Codierung die Kommunikation stattfindet. Unter dem dritten Komplex "Faktoren, die gewalttätige Radikalisierung auslösen" werden Informationen zu sozialökonomischen, gesellschaftlichen, individualpsychologischen wie gruppendynamischen Bedingungen aller Art gesammelt, die bis hinein in die emotionale Disposition der betreffenden Person, ihre Persönlichkeitsstruktur und eventuelle Rachegelüste und Haßgefühle reichen. Abgefragt werden des weiteren "makrosoziale Faktoren" ökonomischer, sozialer, kultureller, technologischer, demographischer, politischer und allgemeiner Art, die geographische Verortung und gesellschaftlichen Umstände "gewalttätiger Radikalisierung".

Im vierten und letzten Komplex "Einfluß und Veränderungen im Individuum" wird die Beziehungsdynamik zwischen Einzelperson und Gruppe unter die Lupe genommen. Nicht von ungefähr erinnern Fragen, die die "Gefühle" der observierten Person betreffen, an das rhetorische Arsenal eines Inquisitors, der einen vom wahren Glauben abgefallenen Häretiker bis in den letzten Winkel seines Geistes daraufhin untersucht, was seinen Wandel bewirkt hat. So läßt sich trotz des formalistischen und abstrakten Charakters des verwendeten sozialwissenschaftlichen Jargons nicht verbergen, daß die Autoren des von Statewatch als geheim eingestuften englischsprachigen Dokuments einem Ausgrenzungsbedürfnis folgen, das den zu identifizierenden radikalen Gesinnungen in der unterstellten Freund-Feind-Kennung äquivalent ist. In der Fußnote zum Begriff der "neuen kollektiven Identität" wird erläutert:

"Terroristische Organisationen und Gruppen stellen sich üblicherweise als Verteidiger einer Gruppe oder sozialen Identität dar, die real oder fiktiv sein mag und die der Fokus der unterstellten Affronts, Nachstellungen, Ungerechtigkeiten etc. ist. Das befähigt sie umgekehrt dazu, die anderen sozialen oder Gruppenidentitäten als 'Feinde' zu behandeln oder zu definieren."

Die Auflösung des sozialen Konflikts, der die ins Visier des Sicherheitsstaats genommenen linken oder globalisierungskritischen Personen und Organisationen antreibt, im Dunst bloßer Einbildung und im Zwang sinnstiftender Identitätssuche kommt nicht ohne die relativierende Anmerkung aus, daß "terroristische Gruppen Situationen der Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Unterdrückung etc. übertreiben". Anscheinend kann sich selbst ein hochprofessioneller technokratischer Repressionsapparat nicht leisten, den Objekten seiner Ausforschung und Maßregelung auf einer ideologiefreien unvermittelten Ebene zu begegnen, könnte dort doch die Gewißheit, daß es sich bei den Observierten nicht um ganz normale Menschen mit höchst legitimen Anliegen handelt, ins Wanken geraten.

In den abschließenden Fragen werden Parameter möglicher Verhaltensänderungen gesetzt, die Art und Weise der Bekleidung, soziale Kontakte, die Nutzung bestimmter Webseiten und viele andere Gewohnheiten und Merkmale eines Individuums betreffen. Wie mit einem sozialwissenschaftlichen Seziermesser wird der "gewalttätiger Radikalisierung" verdächtigte Mensch von dem "Instrument" eines umfassenden Fragenkatalogs in seine Einzelteile zerlegt und in jeder Faser auf Abweichungen von einer Norm hin untersucht, die wie ein unsichtbarer Elefant mitten im Raum steht, ohne je erwähnt zu werden. Die durch die Gleichsetzung radikaler Tendenzen mit terroristischen Aktivitäten vollzogene Kriminalisierung politisch abweichenden Verhaltens ist Ausdruck einer administrativen Ermächtigungslogik, deren Sachwalter sich an keine demokratischen Rechenschaftspflichten gebunden fühlen, wenn sie in exklusiven Zirkeln wie dem Europäischen Rat öffentliche Ressourcen für die Etablierung von Überwachungssystemen einsetzen, die die mehr als ausreichend vorhandenen Mittel der Verbrechensbekämpfung und Terrorismusabwehr durch Formen staatlicher Repression erweitern, deren politischer Charakter nicht geleugnet werden kann.

Die von einer solchen Maßnahme ausgehende Gefahr für jede Form des demokratischen zivilgesellschaftlichen Protestes wird besonders deutlich, wenn als beabsichtigte Nutzer dieses System der politischen Observation und Evaluation "Polizeikräfte, Sicherheitsdienste und Geheimdienste und Institutionen, die mit der Bekämpfung von Radikalisierung und Rekrutierung und schließlich Terrorismus befaßt sind", genannt werden. Der ihnen daraus erwachsende "große Vorteil" wird mit den Worten umschrieben, daß sie in die Lage versetzt werden, die aus dem "substantiellen Fluß grundlegender Informationen (...) resultierenden Einschätzungen in die taktisch-operative und/oder strategische Entscheidungsfindung einfließen zu lassen" [3].

Das in diesem Projekt des Europäischen Rates zutage tretende Selbstverständnis politischer Herrschaftsicherung belegt, daß es guten Grund dafür gab und gibt, dem Prozeß der europäischen Einigung gerade in Hinsicht auf die damit einhergehende Zentralisation administrativer Verfügungsgewalt kritisch entgegenzutreten. In den luftigen Höhen von jeglicher demokratischer Bodenhaftung abgehobener Verwaltungsstrukturen werden Monstren der Ermächtigung geboren, die ab einer gewissen Größe nicht mehr ihrer technisch-bürokratischen Dynamik zu entledigen sind. Das vermeintlich wertfreie Ausforschen gesellschaftlicher Gruppen, die Minderheiteninteressen verfolgen, ist vom Ansatz her auf Ausgrenzung und Unterdrückung aus. Wenn staatliche Behörden mit exekutivem Mandat versuchen, Kontrolle über angebliche Radikalisierungsprozesse zu erlangen, indem legale politische Gesinnungen als Abweichungen von der Norm stigmatisiert und in Persönlichkeitsstrukturen, Verhaltensmerkmalen und Gruppenidentitäten kausal verankert werden, dann mangelt es aufgrund des heute verfügbaren Arsenals an informationstechnischer Überwachung schlicht an historischen Vorbildern, um den Horizont dieser Entwicklung zur totalen Herrschaft auf einen angemessenen Begriff zu bringen.

Fußnoten:

[1] http://www.statewatch.org/

[2] http://www.statewatch.org/news/2010/apr/eu-council-info-gathering-uardicalisation-8570-10.pdf

[3] http://www.statewatch.org/news/2010/apr/eu-council-rad-instrument-7984-add1-10.pdf

[4] http://www.statewatch.org/analyses/no-98-eu-surveillance-of-radicals.pdf

[5] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32002F0475:DE:HTML

10. Juni 2010