Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1297: Neue Verbote verhindern keine Schulschießereien (SB)



Noch bevor die Frage geklärt ist, was den 17jährigen Attentäter von Winnenden zu seiner Bluttat veranlaßt haben mag, sind Forderungen nach Verboten und Einschränkungen wohlfeil. Wie bei anderen Anlässen dieser Art schwingen sich Politiker aller Couleur auf den Zug des populistischen Rufs nach Maßnahmen, die eben ergriffen werden müssen, weil man schließlich irgend etwas tun müsse. Ob man nun gewalttätige Computerspiele verbieten, die Waffengesetze verschärfen oder die Schulen mit datenelektronischen und biometrischen Überwachungsystemen in Hochsicherheitszonen verwandeln will, der Reflex, nach Lösungen um jeden Preis zu rufen, korrespondiert mit der Ignoranz, mit der Heranwachsende auf das Überleben in der Konkurrenzgesellschaft gedrillt werden.

Natürlich stellt sich auch bei Tim K. Stück für Stück heraus, daß es Anzeichen für eine Entwicklung hin zu aktiver Gewalttätigkeit gab, die nicht in ausreichendem Maße ernstgenommen wurden. Eine allein darauf geeichte Wahrnehmung allerdings wäre die beste Voraussetzung dafür, Kinder und Jugendliche in einer Orwellschen Welt aufwachsen zu lassen, die ihrerseits provoziert, was sie angeblich vermeiden soll. Nicht die Abweichungen von einer Verhaltensnorm, sondern die Norm selbst ist das Problem einer Gesellschaft, deren Mitglieder, auf den Leisten ihrer Verwertbarkeit geschlagen, nach Kriterien des Nutzens und Schadens bewertet werden, die jede solidarische Mitmenschlichkeit missen lassen.

Unter permanenter Fremd- respektive Selbstevaluation einen anderen Gedanken zu fassen als die Frage, wie man den Anforderungen der sozialen Umwelt gerecht wird, wirkt sich auch auf Jugendliche, die nicht um sich schießen, als massiver psychischer Streß aus. Der von Psychologen in Fällen plötzlicher Gewaltausbrüche immer wieder angeführte Mangel an Anerkennung bietet als Erklärung für derartige Entgleisungen kaum Halt, da er auch bei der Beantwortung nach der Frage einer Lösung des Problems versagt. Die Bestätigung der eigenen Person, sei es um des Erfolgs im Beruf oder im Privatleben wegen, fungiert als soziales Schmieröl der kapitalistischen Leistungsgesellschaft gerade deshalb, weil sie ihrem Tauschwertcharakter gemäß nicht egalitär zu praktizieren ist. Anerkennung wird für besondere Leistungen gewährt oder eben entzogen, um zu solchen anzutreiben. Die altruistische Forderung nach einer generellen Kultur gegenseitiger Gutheißung geht von einer Bereitschaft aus, sich dem anderen zuzuwenden, die nicht erwünscht ist, weil sie zu freiwilliger, nicht von Not und Zwang geleiteter Gemeinschaft verhilft, die durch sozialdarwinistische Ein- und Ausschließungsprozesse gezielt zu verhindern ist.

Der Mangel an Empathie, den Pädagogen bei vielen Heranwachsenden feststellen, ist das Ergebnis einer programmatischen Individualisierung, die den Menschen um so verfügbarer und beherrschbarer macht, als er in monadische Isolation regrediert. Wenn sich der Attentäter von Winnenden in einer ihm zugeschriebenen Aussage, die er kurz vor der Tat in einem Chatroom gemacht hat, darüber beschwert, daß ihn alle auslachten und niemand sein Potential erkenne, dann läßt sich seine mörderische Aktion durchaus als extreme Maßnahme deuten, die seitens seines sozialen Umfelds als "unauffälliges Verhalten" identifizierte Isolation mit einem Schlag zu durchbrechen.

In diesem Zusammenhang über Verbote nachzudenken demonstriert vor allem, daß keineswegs Anlaß gegeben werden soll, die die derzeit auch aus ökonomischen Gründen zur Debatte stehende Systemfrage zu stellen. Hier gäbe es über die soziale Atomisierung der kapitalistischen Gesellschaft hinaus gute Gründe, etwa an den Affront zu erinnern, den sich Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech leistete, als er im Vorfeld des auch in seinem Bundesland Anfang April stattfindenden NATO-Gipfels über angeblich "schwer bewaffnete" Demonstranten schwadronierte, die er für die fragliche Zeit "wegsperren" wollte, wobei er "nicht zimperlich" sein wolle. Während Menschen, die ihren demokratischen Protest gegen ein tatsächlich schwerbewaffnetes Militärbündnis, das afghanische Zivilisten auf dem Gewissen hat, artikulieren wollen und daran durch allerlei Schikanen staatlicher Behörden gehindert werden sollen, wirft sich ein Jugendlicher aus gutbürgerlichem Haus in einen schwarzen Kampfanzug nach Art der Bundeswehr-Sondereinheit Kommando Spezialkräfte (KSK), zieht sich eine schußsichere Weste über, steckt eine keineswegs für Jagd und Sport, sondern das Töten von Menschen konzipierte Handfeuerwaffe ein und begibt sich auf Killertour.

Daß sich unter den Opfern des geübten Schützen, die beim Besuch seiner früheren Schule starben, sechs Schülerinnen und drei Lehrerinnen befanden, die er offenbar allesamt gezielt erschoß, aber nur ein Schüler, daß Zeugenaussagen von einem ausgeprägten Frauenhaß bei Tim K. sprechen, daß sein Vater ein ausgesprochener Patriarch sein soll, all das bietet reichlich Material für psychologische Deutungen, mit der sich sein Fall als pathologische Ausnahme von der Regel verträglich regulierter Gewalt darstellen läßt. Soziale und gesellschaftliche Gründe für ein Anwachsen der Aggressivität unter Jugendlichen kommen bei der individualpsychologischen Ursachenforschung jedoch ebenso zu kurz wie beim Ruf nach stärkerer Repression. Wenn Jugendliche hierzulande oder in den USA, die keine wirklichen existentiellen Nöte durchzustehen haben wie Millionen Altersgenossen in den Ländern des Südens, nicht etwa wahllos, sondern sehr gezielt und planmäßig Massaker an Schulen anrichten, dann sollte schon darüber nachgedacht werden, was dies mit den Widersprüchen ihrer Gesellschaft, mit dem dort propagierten Militarismus und einer auf Durchsetzungkraft und Rücksichtslosigkeit basierenden Erfolgsideologie zu tun hat.

12. März 2009