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REPRESSION/1288: Gefährliche Vernetzung informationstechnischer Überwachung (SB)



Mit Jahresbeginn wurde die seit Anfang 2008 für die Telefonie geltende Vorratsdatenspeicherung auf die gesamte elektronische Telekommunikation ausgeweitet. Was anfangs nur für die Verbindungsdaten von Telefongesprächen sowie die Standortdaten bei Mobiltelefonen inklusive SMS galt, ist nun für alle Aktivitäten am Computer relevant. Die jeweilige IP-Adresse, der Beginn und das Ende der Internetnutzung sowie die DSL-Kennung oder Rufnummer des Nutzers können insbesondere dann, wenn sie mit weiteren Daten der Provider oder staatlichen Behörden kombiniert werden, umfassende Erkenntnisse über die Zielperson der Observation freisetzen. Angesichts der hochspezifischen inhaltlichen Ausrichtung vieler Websites bietet deren Besuch Einblicke in die Interessen des Nutzers, deren Bedeutung über die Erkenntnisse hinausgehen kann, die beim Abhören von Telefongesprächen gewonnen werden, da ein Mensch seinem Gesprächspartner nicht unbedingt anvertraut, was er allein an seinem Rechner unternimmt.

Als Verbindungsdaten gelten Betreffzeilen, Absenderangaben, Empfängerangaben und Angaben zu angehängten Dateien. E-Mails werden in Datenpakete aufgeteilt über verschiedene Knotenrechner versendet. Mittels der sogenannte Kopfdaten wirden die aufgestückelte E-Mail beim Empfänger wieder korrekt zusammengesetzt. Den Kopfdaten ist zu entnehmen, von welchem Knotenrechner das Datenpaket kommt, zu welchem es geschickt wird und in welche Datenpakete es eingefügt werden soll. Die Knotenrechner speichern den über sie abgewickelten Verkehr in der Regel für befristete Zeit, so daß die Sicherheitsbehörden dort auf die Inhalte einzelner Datenpakete zugreifen könnten. Zudem kann auch auf diesem Wege ermittelt werden, welche Webseiten ein User besucht und wie lange er auf welchem Dokument verweilt. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß die Sicherheitsbehörden über die bloßen Verbindungsdaten hinaus Zugriff auf die Inhalte der versendeten Nachrichten nehmen. Bei SMS-Botschaften gilt dies von vorneherein, da sie bei der Versendung von den Verbindungsdaten nicht getrennt werden.

Da beim E-Mail-Verkehr und der Internettelefonie stets beide Seiten der Telekommunikation per Netzanschluß kenntlich gemacht und abgespeichert werden, lassen sich zudem soziale Kontakte ausforschen und diagrammatisch als Netzwerke abbilden. Dies ist unter anderem für die Ausforschung oppositioneller Gruppen von Bedeutung, lassen sich doch mit Data Mining und anderen statistischen Verfahren sehr präzise Erkenntnisse über den Stellenwert bestimmter Beziehungen und Kontakte erbringen. Indem der Hype des social networking sicherheitsstaatlich aktualisiert wird, wird ein Fundus an Daten zur Erforschung sozialer Beziehungen verfügbar, dessen bevölkerungspolitische Möglichkeiten kaum auszuloten sind.

Im Zeitalter der panoptischen Überwachung ist es unerläßlich, die jeweiligen Einzelmaßnahmen im Gesamtzusammenhang zu sehen, um die daraus resultierende Vervielfältigung des sicherheitsstaatlichen Ermittlungspotentials abschätzen zu können. Eine behördliche Informationsressource wie die Vorratsdatenspeicherung, die nicht nur für Sicherheitsdienste interessant ist, sondern allen Instanzen der Sozialkontrolle zum Erstellen spezifischer Profile der von ihnen administrierten Personen und regulierten Verhältnisse von Nutzen sein kann, wird auf Dauer nicht durch restriktive Auflagen diesem Verwendungszweck vorzuenthalten sein. Die einseitige Verlaufsrichtung der gesetzlichen Entwicklung hin zum immer schutzloser dem Zugriff gouvernementaler Maßnahmen ausgesetzten Bürger ist ein Erfahrungswert, der weit prognosesicherer ist als der Glaube an das rechtsstaatliche Verständnis, die jeweils errichteten bürgerrechtlichen Dämme wären unbezwingbar und von Dauer.

Als mit der Vorratsdatenspeicherung zu vernetzende Informationsressourcen kommen alle Register in Frage, in denen Daten der Bürger für spezifische Zwecke gespeichert sind, die durch ihre Kombination mit anderen Daten neue Erkenntnishorizonte eröffnen. So kann die am 1. Juli 2007 eingeführte Steueridentifikationsnummer, deren Zentralregister beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) Auskünfte über die üblichen Angaben zur Person sowie steuerrelevante Daten gibt, als zentrales Bindeglied der umfassenden datenelektronischen Verfügbarkeit aller Bundesbürger fungieren. Die dort zu Steuerzwecken gelagerten Daten können zum Beispiel mit ebenfalls beim BZSt gespeicherten Informationen über Empfänger von Sozialleistungen aller Art abgeglichen werden. Die für zahlreiche Sozialbehörden geltende Befugnis, auf bei den Geldinstituten eingerichtete Datenbanken zuzugreifen, in denen die Kontostammdaten der Bankkunden eigens für diesen Zweck vorgehalten werden, vergrößert das Spektrum der Ermittlungen zur Person um ein weiteres.

Weiteren Erkenntnisgewinn versprechen die Einführung des elektronischen Personalausweises, der mit einem kontaktlos auslesbaren RFID-Chip Verknüpfungen standort- und ereignisbezogener Art zwischen seinem Halter und Informationspools aller Art ermöglicht, der elektronischen Gesundheitskarte, die zumindest in bestimmten Situationen die Korrelierung medizinischer Informationen mit anderen Daten zuläßt, und die Daten, die bei der absehbar auf PKW auszudehnenden Verkehrsüberwachung des Mautsystems für LKW generiert werden.

Selbst wenn die datenschutzrechtlichen Bestimmungen der einzelnen Maßnahmen als ausreichend erachtet werden, läßt sich die anwachsende Masse und Komplexität der aggregierten Informationen kaum im Zaum einer Privatsphäre halten, die nicht erst seit dem 11. September 2001 als bloße Behinderung sicherheitsstaatlicher Effizienz erscheint. Wie die erdrutschartige Zerstörung der Bürgerrechte nach den damaligen Anschlägen in den USA gezeigt hat, bedarf es lediglich eines katalysatorischen Moments, um die Dämme brechen zu lassen und jeden, der dagegen opponiert, als Sympathisanten des Terrorismus stigmatisieren zu können.

Die Vorratsdatenspeicherung geht auf eine Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft, also einen die Mitgliedstaaten verpflichtenden supranationalen Rechtsakt zurück. Sie wurde im Dezember 2005 von den Abgeordneten der Christdemokraten und Sozialdemokraten, in den meisten Fällen Vertreter europäischer Regierungsparteien, im EU-Parlament abgesegnet und im Februar 2006 vom Ministerrat im Rekordtempo verabschiedet. Als das entsprechende deutsche Gesetz im November 2007 im Bundestag verabschiedet wurde, fungierte das Parlament bereits als eine Art Stempelstelle für andernorts getroffene Beschlüsse, gegen die auf dieser untergeordneten Ebene vorzugehen in den Regierungsparteien kaum jemand ernsthaft gewollt und gewagt hätte.

Die vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der den außerparlamentarischen Widerstand gegen die entuferte Datenüberwachung organisiert, eingelegte und von mehr als 30.000 Bürgern unterschriebene Verfassungsbeschwerde ist laut Bundesregierung irrelevant, da das Bundesverfassungsgericht ihrer Ansicht nach aufgrund des verpflichtenden Charakters von EU-Richtlinien gar nicht zuständig sei. Das Argument belegt den großen Nutzen einer supranationalen administrativen Ebene, auf der sich Maßnahmen durchsetzen lassen, die im Rahmen der nationalen Gesetzgebung womöglich am Widerstand der Opposition und Bevölkerung gescheitert wären.

9. Januar 2009