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HERRSCHAFT/1894: Gewerkschaft - bleib bei deinen Leisten ... (SB)



Es geht die Mär um, in Deutschland erfahre die harte Arbeit geringverdienender Beschäftigter im Schlachthof, an den Kassen und Regalen der Supermärkte, auf den Feldern und hinter dem Lenkrad der LKWs neue Wertschätzung. Allein daß es dazu der Voraussetzung der tiefsten gesellschaftlichen Zäsur seit dem Zweiten Weltkrieg bedarf, verweist auf den märchenhaften Charakter dieser Erzählung. Ist schon die Inanspruchnahme dienstbarer Geister in den Servicewüsten der neofeudalen Dienstleistungsgesellschaft von der Unsichtbarkeit der neuen DienerInnen gekennzeichnet, so gilt das für die ArbeiterInnen hinter den Mauern der Schlachtfabriken und auf den Feldern der Agrarindustrie erst recht. Sie an der Front der Wertschöpfung regelrecht ausbluten zu lassen, indem der Warencharakter der Arbeit konsequent durch die Austauschbarkeit ihrer Subjekte vollzogen wird, bleibt als Voraussetzung erschwinglicher Preise im monopolistisch organisierten Einzelhandel unhinterfragt. Nicht zuletzt einkommensarme ArbeiterInnen tätigen dort ihre Einkäufe und müssen aufgrund geringer Zahlungskraft damit einverstanden sein, daß auf dem Rücken der Landwirte, der Tiere und ihrer selbst die vielgescholtenen Billigwaren erzeugt werden.

Wenn plötzlich das Loblied auf die "ehrliche" Arbeit am Band, am Krankenbett und im Lager gesungen wird, dann dient das zur Beschwichtigung eines Widerstandspotentials, dessen Wirkmächtigkeit aus der zugestandenen "Systemrelevanz" zwingend hervorgeht. Dennoch bleibt die für die Fleischindustrie zuständige Gewerkschaft NGG bei ihren sozialpartnerschaftlichen Leisten und begrenzt ihre Forderungen nach der Abschaffung von Werkverträgen auf den Kernbereich der Unternehmen, die aus dieser kostengünstigen Beschäftigungsmöglichkeit ein lukratives Geschäftsmodell gemacht haben. So weit, so gut, könnte das doch immerhin zur Folge haben, daß einige der ArbeitsmigrantInnen aus Osteuropa, die bisher auf der Basis von Werkverträgen ausgebeutet wurden, eine Festanstellung mit entsprechenden Sozialgarantien erhalten.

Was bisher als eine Art Paketlösung über Werkvertragsunternehmen und diese wiederum repräsentierende Vermittlungsfirmen kostengünstig organisiert wurde, bleibt auch nach Abschaffung dieser Beschäftigungsform eine Variation politisch und rechtlich ausdifferenzierter Ausbeutung durch Arbeit. Erfolge auf diesem Gebiet, zumal errungen durch Umstände, die weit außerhalb der Reichweite der Betroffenen liegen, können den Schmerz der Niederlage, auf eine Verfügungsmasse des Kapitals reduziert zu werden, nur bedingt lindern. Sich damit zufriedenzugeben hieße zudem, die Kette unternehmerischer Kostensenkungspolitik nicht so wirksam zu unterbrechen, daß das Verwertungsmodell der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Das Drehen an der Preisschraube der Produkte und Leistungen trifft am Ende wieder diejenigen, die ihre Existenz durch Billigangebote sichern müssen und im Notfall noch kostenlose Nahrungsmittel bei den Tafeln abholen können. Wie man die Decke auch zieht, sie reicht nicht dazu aus, alle Körperteile vor Kälte und Hunger zu schützen. Ihr prinzipieller Webfehler, in der Abstraktion von Geld und Arbeit über keinerlei wärmende Substanz zu verfügen, wird durch Zerren und Ziehen nur noch schlimmer spürbar. Es handelt sich um ein von Angst und Zwang bestimmtes Herrschaftsinstrument, das als sinngebenden Existenzzweck zu propagieren auf die toten Gleise nicht mehr enden wollender Erschöpfung, endemisch gewordener Depression, chronischer Erkrankung, entfremdeter Körperlichkeit, wahlloser Aggressionsausbrüche und jegliches Interesse an Emanzipation und Widerstand abtötenden Konsums echter wie kulturindustriell simulierter Drogen führt.


In kommenden Kämpfen ...

Da der epochale Einbruch der Coronapandemie mit hinlänglicher Gewißheit klargestellt hat, daß die EigentümerInnenklasse wenig bis nichts für die Sicherung angemessener und gleichberechtigter Daseinsvorsorge tut, sondern im System privat angeeigneter Produktionsmittel und internationaler Arbeitsteilung jedem erdenklichen Kostenvorteil nachjagt, steht eigentlich die offene Konfrontation mit dieser Zumutung auf der Tagesordnung. Statt sich darüber zu freuen, für die tagtägliche Plackerei endlich auch einmal gelobt zu werden, wäre die Frage danach, was daraus für die Zukunft folgt, das mindeste an notwendigem Widerspruch.

So wäre eine Kampagne aller Gewerkschaften gegen die Nutzung von Werkverträgen, bei denen für gleiche Arbeit ungleicher Lohn bezahlt würde, das Minimum einer Einstiegsforderung gewesen, die die Glaubwürdigkeit der ArbeiterInnenvertretungen als RepräsentantInnen der Klasse und nicht KomanagerInnen nationaler Standortpolitik hätte wiederherstellen können. Ohne auch nur entfernt die Machtprobe zu wagen geben sie den Platz an der Spitze einer Bewegung, die für selbstorganisierte und selbstbestimmte Arbeit nach Maßgabe sozialökologischer Erfodernisse kämpft, sicherlich auch deshalb preis, weil der Giftschrank angeblich gescheiterter Utopien verschlossen bleiben soll.

Wie die angeblich coronabedingte Ausweitung der Höchstarbeitszeitregelungen in Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie, das generalstabsmäßig organisierte Herankarren gegen Kontakte mit der Bevölkerung hermetisch abgeschotteter ArbeitsmigrantInnen, die Stärkung des nationalen Kommandos durch die Renationalisierung der Pandemiebekämpfung und die notstandsbedingte Lähmung aller Formen sozialen Widerstandes zeigen, soll es gerade nicht dazu kommen, daß die Belegschaften ihre Kampfkraft - womöglich in internationaler Solidarität über die Landesgrenzen und die ihnen aufoktroyierte Standortkonkurrenz hinweg - wiederentdecken.

Die sich abzeichnende Neuauflage eines diesmal nicht ideologisch an der Systemkonkurrenz mit der DDR, sondern am weit unangreifbareren Notstand der Pandemie ausgerichteten Klassenkompromisses hat allerdings weit weniger als zuvor an versprochenem Konsum und Wohlstand im petto. Die bereits spürbaren Verteuerungen und Lieferausfälle bei einzelnen Nahrungsmitteln und der prognostizierte Rückgang der nationalen Wirtschaftsleistung norden alle Beteiligten auf Bescheidenheit zugunsten des deutschen Nationalkollektivs ein. Daß damit keine Revision der herrschenden Eigentumsordnung gemeint ist, um von einer Revolution gegen das Lohndiktat ganz zu schweigen, wird durch die nationale Konstitution des Krisenmanagements vorausgesetzt und durch milliardenschwere Unternehmenssubventionen, bei denen staatlicherseits auch noch auf das Erheben wirksamer Sozialforderungen verzichtet wird, unterstrichen.

Die vermeintlich neue Wertschätzung harter Arbeit, mit deren "Ehrlichkeit" immer schon die Forderung nach Unterwerfung unter die Interessen des Unternehmens und die Räson des Staates gemeint war, zielt auf die Schaffung von Akzeptanz für eine Mangelordnung ab, bei der den Arbeitenden ein noch größerer Teil des von ihnen produzierten Wertes zur Finanzierung angeblich coronabedingter Einbrüche des Wirtschaftswachstumes genommen wird. Den Materialschlachten künftiger Wirtschaftskriege geht nicht einmal mehr die Aussicht auf erfolgreiches Beutemachen voraus, denn der Berg unbewältigter existenzbedrohender Krisen könnte kaum höher sein. Darin unterscheidet sich der globale Kontext von kapitalistischer Überproduktion bedrohter Lebensgrundlagen kaum noch von der persönlichen Perspektive in einer Arbeitsgesellschaft, in der das Ende durch Lohnarbeit garantierter Lebenssicherung angestrengt ignoriert wird, um sich keiner Zukunft stellen zu müssen, in der die Menschen selbst über die gesellschaftlich notwendige Arbeit verfügen.


... zu kollektiver Streitbarkeit gelangen

Wer in nur geringer Fallhöhe über jenen Elendsexistenzen schwebt, die mit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung zum Schreckgespenst des sozialen Absturzes aufgebaut wurden, ändert mit einem Kreuz auf einem Wahlschein oder einem Klick auf einer Petition nichts an seiner Lage. Die mit Werkverträgen und Leiharbeit eingezogenen Bruchlinien haben keine andere Funktion als das Mangelregime Hartz IV, lohnabhängige Menschen in Konkurrenz zueinander zu bringen. Es gilt das Wissen darum, daß niemand als LohnempfängerIn geboren wird, aus den Annalen verlorengegangener Erinnerung zu tilgen und die bloße Ahnung, daß kollektive Kampfkraft weiterführen könnte, im Keim zu ersticken.

Um einer Neuformierung der schon zuvor von Austerität ausgezehrten Gesellschaft wirksam entgegenzutreten und dabei nicht zu vergessen, daß die Reichtumsproduktion in den hochproduktiven Weltregionen ohne die in großen Teilen der Welt verrichtete Sklavenarbeit zusammenbräche, wäre eine Politisierung der Gewerkschaften dringend erforderlich. Nicht im Sinne eines neutralen gesellschaftlichen Diskurses, sondern einer klassenbewußten Streitbarkeit, die immun ist gegen die Korrumpierung durch den Aufruf zu nationaler Einheit im Zeichen der Krise wie zu jedem anderen Anlaß. Sich von soziologischen Betrachtungen zu verabschieden und die Klasse als Subjekt von Kämpfen wiederzuentdecken, das in den abgehängten, prekarisierten, verrückten, behinderten, nicht gesellschaftsfähigen, auf Geschlecht und Patriarchat pfeifenden, aller Konformität und Unterwerfung überdrüssigen Menschen zu sich kommt, wäre ein Fortschritt, bei dem kein Seitenblick mehr an die peinliche Berührtheit mancher Linken verschwendet werden muß, die soziale Revolution, Anarchismus und Kommunismus nicht im Munde führen wollen, weil es sie an die unabgegoltenen Aufgaben der eigenen Vergangenheit erinnert. Auch wenn Verzweiflung, Zorn und Mut fehlen, das Unmögliche zu wagen, bleibt nichts, als gerade das zu tun.

27. Mai 2020


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