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HERRSCHAFT/1831: Grüner Anstrich - zu Lasten gesellschaftlicher Alternativen ... (SB)



Zweithöchstes Ergebnis in der Bundesrepublik, 13,5 Prozent der Stimmen bei den Wahlen zum EU-Parlament in Frankreich - der Aufstieg der Grünen in den Kernstaaten der Europäischen Union scheint unaufhaltsam zu sein. Zusätzlich zur drängenden Aktualität sozialökologischer Probleme angetrieben vom Wechsel der Generationen ist dieser Trend dennoch kein Ergebnis eines Konfliktes zwischen Alt und Jung. Daß die sozialökologische Bringschuld bislang erfolgreich ignoriert wurde, ist nicht nur den Besitzstandswahrern älterer Semester anzulasten, sondern allgemeiner Ausdruck des auf Wachstum um jeden Preis ausgerichteten kapitalistischen Weltsystems. Seit dem Aufbruch der 1960er Jahre und spätestens nach der sogenannten Wende 1990 hat die antikommunistische Propaganda wirksam dafür gesorgt, daß die meisten Jugendlichen aller klassenkämpferischen und sozialistischen Ambitionen entwöhnt wurden. Es bedurfte erst konkreter Auswirkungen des Klimawandels unter Nachweis seiner menschengemachten Genese, um Kinder und Jugendliche massenhaft auf die Straße zu bringen.

Ihre Parole "Wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut" richtet sich aus offenkundigen wie unzureichendem Gründen an die Generation der Eltern und Großeltern. Seit Beginn der 1990er Jahre wird das Problem, daß industrielles Wachstum und kapitalistische Globalisierung die Naturressourcen mit endlichem Ergebnis kannibalisieren, auf globaladministrativer Ebene bearbeitet, ohne daß dies nennenswerten Einfluß auf die maßgeblichen Indikatoren destruktiven Verbrauches gehabt hätte. Da das Scheitern der sozialistischen Linken mit der Diffamierung des Kampfes um soziale Gerechtigkeit systematisch in eins gesetzt wird, wurde schnell vergessen, daß der zentrale Konflikt bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ein sozialer und klassengesellschaftlicher bleibt. Anstatt nachhaltige und suffiziente Lebensweisen wie die der KleinbäuerInnen und indigenen Gemeinschaften in den Ländern des Globalen Südens zu stärken, wurden deren Lebenswelten in Zielgebiete extraktivistischer Ausbeutungsstrategien verwandelt, um das industrielle Wachstum der westlichen Konsumgesellschaften mit Rohstoffen zu versorgen. Anstatt die industrielle Produktionsweise auf die Bedürfnisse der Menschen auszurichten und Güter mit langer Lebensdauer und geringem Ressourcenaufwand herzustellen, trieb das neoliberale Marktprimat den Output von Konsumgütern und die dabei entstehenden Entsorgungsprobleme in neue Dimensionen zivilisatorischen Zerfalls.

Ohne das drohende Entgleisen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in Richtung finaler Überhitzungs- und Vermüllungstod wäre die Generation Fridays for Future in der ihr vorgezeichneten Bahn geblieben, als leistungswillige LohnarbeiterInnen und aggressive Konkurrenzsubjekte die Überproduktion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft mit einem Konsum von Verbrauchsgütern zu kompensieren, der vergessen macht, warum der Mensch an erster Stelle kein Lohnempfänger ist. Widerstand gegen diese Entwicklung wurde von radikalen Linken und antikapitalistischen GlobalisierungsgegnerInnen seit jeher geübt, allerdings mit dem Ergebnis, von den Agenturen antiextremistischer Staatsräson unter Gesinnungsverdacht gestellt und ins Abseits des mehrheitlichen Konsenses von der Definitionsmacht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerückt zu werden.

Dabei war den AktivistInnen der internationalistischen und transnationalen sozialen Bewegungen stets klar, daß die weltweite Expansion des kapitalistischen Marktmodells in seiner neoliberalen Zuspitzung wesentlich für die Kritik an der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ist. Gleiches galt für den Widerstand gegen imperialistische Kriege und neokolonialistische Eroberungszüge - die dabei initiierten Zerstörungsorgien wurden nicht nur von Panzern und Flugzeugen vollzogen, die fossilen Treibstoff in einer Menge verfeuerten, die dem Verbrauch ganzer Staaten gleichkommt, während sie nationale Infrastrukturen in Schutt und Asche legten unter zum Teil langfristiger Freisetzung von Umweltgiften aller Art. Es handelte sich meist um unter fadenscheinigen Vorwänden geführte Kriege zur Sicherung der Lagerstätten fossiler und mineralischer Ressourcen, ihrer Transportwege sowie der gewaltsamen Durchsetzung freizügiger Ausbeutung billiger Arbeit und der Erweiterung von Absatzgebieten für die eigene Überproduktion. So untrennbar Kapitalismus und Krieg zusammengehören, so unverbrüchlich ist der innere Zusammenhang von Militär, Patriarchat, Fossilismus und Extraktivismus [1].

Von daher sind nicht ganze Generationen für die Verwüstung des Planeten verantwortlich zu machen, sondern die Geld- und Funktionseliten der weltweit hegemonialen Gesellschaftsordnung privatwirtschaftlicher Kapitalakkumulation. Dies absichtsvoll zu verwischen durch die These eines ökologisch fundierten Generationenkonfliktes kann bereits als Versuch einer Gegenregulation verstanden werden, mit der die ökonomischen Besitzstände und ideologischen Prämissen der herrschenden Ordnung fortgeschrieben werden sollen.


Mit marktwirtschaftlichem Kleinmut sind keine Weltprobleme zu lösen

Wenn die grünen und linken Parteien in der EU den notwendigen sozialökologischen Aufbruch managen und dem ihnen vor allem von jüngeren Menschen verliehenen Mandat gerecht werden wollen, dann wird es nicht ausreichen, dies mit verteilungspolitischen Mitteln wie einer CO2-Steuer und regulativen Eingriffen in die Marktordnung zu vollziehen. Um die berechtigte Forderung einer sozialökologischen Wende politisch zu verwirklichen, werden sie es zum einen mit Kapitalinteressen zu tun bekommen, deren SachwalterInnen zu vielem bereit sind, solange ihre Wachstumsagenda und Akkumulationspraxis davon unberührt bleibt. Zum andern müssen sie es mit einer parlamentarisch gut aufgestellten Neuen Rechten aufnehmen, für die "linksgrün versiffte Gutmenschen" das Feindbild nicht nur des Tages, sondern der Epoche sind.

Dabei werden sich Machtfragen von einer Schärfe stellen, die die mit gutdotierten Diäten vorgewärmten Sessel in den Abgeordnetenbüros und Ministerialbürokratien in Schleudersitze verwandeln, aus denen herausgeworfen zu werden mehr in Frage stellt als die gutbürgerliche Existenz im grünen Biedermeier ökologisch nachhaltigen und sozial fairen Luxuskonsums. Abgemahnt wurden die Grünen bereits durch das von interessierter Seite her propagierte Image, eine "Verbotspartei" zu sein, die dem Bürger weder das Fleisch auf dem Teller noch das Benzin im Tank gönnt. Wie schnell sie mit Forderungen wie der Etablierung eines Veggie-Days einknickten, obwohl die herrschende Eigentumsordnung mit Verboten von schwerwiegender Konsequenz umstellt ist, die die liberalen Freiheitsapostel wie unumstößliche Naturgesetze in Anspruch nehmen, läßt ahnen, wie unangenehm es für grüne PolitikerInnen werden könnte, wenn sie ans Eingemachte tradierter Besitzstände oder administrativer Verfügungsgewalt rühren. Sich mit den Lobbies der Grund- und BodeneigentümerInnen, der Chemie- und Agrarlobby, der Banken und Investoren unter Androhung von Enteignungsmaßnahmen anzulegen, sich zu weigern, die Staatsräson mit repressiven Mitteln gegen soziale Widerstandsbewegungen wie die der Gelbwesten in Frankreich durchzusetzen oder der Teilnahme der Bundeswehr an imperialistischen Kriegen nicht zuzustimmen, sind Grenzmarkierungen, an der die Akteure realpolitischen Vollzuges mit großer Zuverlässigkeit scheitern.

Vor dem Horizont der faktischen Notwendigkeit, Wachstum und Wettbewerb als zentrale Treiber der Erwirtschaftung des nationalen Gesamtproduktes aufzuheben und den Übergang in die postkapitalistische Postwachstumsgesellschaft zu gestalten, könnte manche grüne PolitikerIn schlicht der Mut verlassen, sich den dabei mit Vehemenz hervortretenden Imperativen machtpolitischer Art zu stellen. Stattdessen den Mittelweg grünkapitalistische Konkordanz zu beschreiten und die diversen ökologischen Wenden über den Preis der Verbrauchsgüter und Dienstleistungen sowie die Umstellung finanzkapitalistischer Akkumulation auf sogenanntes Naturkapital voranzutreiben reicht jedoch bei weitem nicht aus, das bereits erreichte Ausmaß industrieller Verödung, weltweiter Naturzerstörung und ökologisch unvertretbaren Massenkonsums umzukehren. Wer sich Klimagerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, wird die daraus resultierenden Gefahren genozidaler Entwicklungen im Globalen Süden ebensowenig in Kauf nehmen wie die soziale Verelendung großer Teile der Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten.


Postkapitalistische Zukunft verhindert rechte Hegemonie

"System Change, Not Climate Change" gilt auch deshalb als Schlüssel zu einer sozial verträglichen ökologischen Wende, weil sich die sozialen Gewaltverhältnisse nur in einem postkapitalistischen Szenario aufheben lassen, in dem der Klassenantagonismus durch kollektive Arbeit am Erhalt der Lebensgrundlagen außer Kraft gesetzt wird. Findet dies nicht in der gebotenen Radikalität statt, dann läßt sich der Vormarsch neuer Rechter und alter Faschisten in die Zentralen der Macht kaum aufhalten. Gerade weil diese aus der Umlastung sozialökologischer Kosten auf die schwächsten Gruppen der Gesellschaft Honig saugen und den Verdacht nähren, die notwendigen Veränderungen in Produktion und Konsum seien Machtinstrumente einer grünbourgeoisen Elite, die darüberhinaus mit der Befürwortung der Einwanderung muslimischer Menschen, der Aufhebung geschlechtlicher Identitäten und der Reduzierung des Tierkonsums den Fundus tradierter Werte und kultureller Gewißheiten zerstört, kann die staatsautoritäre Rechte in zunehmendem Maße Teile der durch die soziale Ungleichheit der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft gedemütigten Bevölkerung auf ihre Seite ziehen.

Dementsprechend kontraproduktiv und verkürzt ist denn auch die Reduzierung dieses Konfliktes auf eine moralisch begründete Konfrontation zwischen universalen Werten und ethnisch-nationalistischem Partikularismus. Die materialistische Grundlage rechten Hegemoniestrebens wurzelt in der bürgerlichen Eigentumsordnung der kapitalistischen Gesellschaft, deren Bestand über die soziale Reproduktion im kleinfamiliär organisierten Patriarchat abgesichert wird. Die auch die möglicherweise berechtigte Kritik an neuen Geschlechtertheorien übersteigenden Angriffe auf den "Genderwahn" legen Zeugnis vom angeknacksten Selbstverständnis maskuliner Dominanz in den entscheidenden Bereichen herrschaftlicher Machtausübung ab. Konventionelle Gleichstellungspolitik, die die patriarchalen Grundlagen kapitalistischer Vergesellschaftung außer Acht läßt, oder Gender Mainstreaming bei einer Bundeswehr, die in imperialistischen Kriegen die materielle Lage von Frauen verschlimmert und dem frauenfeindlichen Rollback des fundamentalistischen Islam zuarbeitet, sind kaum dazu geeignet, die Axt an die Wurzel hierarchischer Geschlechterverhältnisse und tiefverwurzelter Homo-, Trans- und Interphobie [2] zu legen.

Solange der Vorwurf an die Adresse grüner Politik, Identitätspolitiken würden an die Stelle sozialer Kämpfe und einer materialistischen Klassenanalyse treten, begründet erhoben werden kann, bleibt der Appell an die Gültigkeit universaler Werte hohl und inhaltsleer. Migration und Klimapolitik, die im Mittelpunkt des Wahlkampfes zum EU-Parlament standen, erscheinen zwar als zwei voneinander unabhängige Politikfelder, fallen jedoch als Ausdruck eines Ringens um angemessene Lebensbedingungen in eins. Indem die rechten Parteien in der EU aus ihrer Ablehnung gegen einen emanzipatorischen Umgang mit beiden Problemen keinen Hehl machen, suggerieren sie ihrer Klientel, daß es immer die anderen sind, die vor Krieg und Not fliehen oder von den Folgen des Klimawandels in ihrer Existenz bedroht werden. Dieser Teile-und-herrsche-Strategie mit dem kosmopolitischen Bewußtsein weltumspannender Probleme entgegenzutreten, ohne die gesellschaftlichen Brüche und Klassenantagonismen im eigenen Land zu unterschlagen, legt die Schwelle des Gelingens sozialökologischer Politik so hoch, wie von der radikalen Linken seit jeher beansprucht.

Mit entschiedenem Eintreten für die Überwindung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die Beendigung der neokolonialistischen Ausbeutung des globalen Südens, die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit von MigrantInnen, gegen Rassismus und für Frauen- und LGBTIQ-Rechte sowie gegen Tierausbeutung nicht nur aus klimapolitischen Gründen, sondern grundsätzlichen Erwägungen wäre ein Unterschied ums Ganze gemacht. Daß derartige Forderungen im Gegensatz zu allem stehen, was die Neue Rechte für Staat und Nation in Anspruch nimmt, versteht sich von selbst und stärkt die Position eines Antifaschismus, der hinter die notwendige Überwindung des Kapitalismus nicht zurückfällt.

Die bei der Wahl zum EU-Parlament fast europaweit abgestrafte parlamentarische Linke könnte sich angesichts des massiven Erfolges der Grünen darauf besinnen, den Scheinwiderspruch zwischen sozialer und ökologischer Politik in Richtung Ökosozialismus aufzulösen und als linkes Korrektiv grünkapitalistischer Avancen neue Attraktivität zu entfalten. Was derzeit in den USA als Green New Deal Furore macht, muß nicht auf sozialdemokratische Modelle keynesianistischer Staatsintervention beschränkt bleiben. Hier böten sich unter dem Eindruck massiven ökologischen Handlungsbedarfes und einer aggressiv aufmarschierenden Rechten die Ausarbeitung ökosozialistischer Entwürfe und die Bildung transnationaler Allianzen von unten an, mit denen sich der rechte Vormarsch in aller Welt unterminieren und umkehren ließe. Dazu bedarf es nicht zuletzt einer Politisierung des sozialen Widerstandes jüngerer Menschen, die dem Mittelmaß realpolitischer Konsensbildung zu überlassen ein echter Verlust wäre.


Fußnoten:

[1] KRIEG/1739: Klimawandel - Voraussetzung und Folge der Kriege ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1739.html

[2] KULTUR/1036: Homo-, Trans- und Inter-Phobie - Machtspielfeld Sex ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1036.html

27. Mai 2019


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