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HERRSCHAFT/1760: Grüner Griff nach dem Rockzipfel der inneren Sicherheit (SB)



Wer im Bundestagswahlkampf aussichtsreich mitmischen will, muß auf dem Feld der inneren Sicherheit punkten. Dieser wohlfeile Rat, der sich dem forcierten Ausbau des Sicherheitsstaats opportunistisch andient, kolportiert dessen Ideologie, jegliche gesellschaftlichen Widersprüche über den Leisten eines allumfassenden Bedrohungsszenarios zu schlagen und ihnen damit den Zahn des Widerstands zu ziehen. Nichts schweißt in Angst versetzte Menschen enger mit der Staatsgewalt zusammen als die alles beherrschende Ratio, sie könnten sich anders nicht voreinander schützen. Daß dieser Drang zur repressiven, nationalistischen und chauvinistischen Staatlichkeit zuallererst jenen politischen Kräften dient, die dieses Feld seit jeher besetzen oder von rechts her neu aufrollen wollen, liegt auf der Hand. Wer sich emanzipatorische Positionen auf die Fahnen geschrieben hat, aber in den Marschtritt der Mitte einschwenkt, bleibt auf der Strecke, tauscht er doch das vielbeschworene Alleinstellungsmerkmal gegen eine gesichts- und konturlose Austauschbarkeit ein.

So korrespondieren kursierende Untergangsängste der Grünen seit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mit Meinungsumfragen in Kreisen ihrer Mitglieder und Sympathisanten, die in erheblichen Teilen nicht mehr erkennen können, wofür diese Partei eigentlich noch steht. Nähme sie die für sich reklamierte ökologische Kernkompetenz ernst, hätte sich in diesem Bundesland nicht zuletzt der Ausstieg aus der Braunkohle als ein heißes Eisen angeboten. Macht eine grüne Partei in NRW hingegen eine verheerende Energiepolitik, die sie viele Stimmen gekostet haben dürfte, und fürchtet im Wahlkampf um so mehr, sich dabei die Finger zu verbrennen, stellt sich allerdings die Frage, warum man sie dann überhaupt noch wählen soll.

Von Torschlußpanik getrieben, scheint die Parteispitze tatsächlich die Vorlage der Konzernpresse aufzugreifen und sich scharfmachend auf die innere Sicherheit zu stürzen, die sie angeblich sträflich vernachlässigt hat. Zumindest hat der Vorsitzende und Spitzenkandidat der Grünen, Cem Özdemir, in der Sendung von Markus Lanz im ZDF nicht nur den Moderator mit harten Forderungen zur Integration überrascht, sondern sogar den Versuch unternommen, sich als künftiger Innenminister in Stellung zu bringen. Er faßte die deutsche Integrationsdebatte mit dem abschließenden Slogan zusammen: "Keine Lehrer mehr aus der Türkei, aus anderen Ländern, die Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland zur Schule gehen, unterrichten. Stoppt damit, dass Ideologien aus anderen Ländern nach Deutschland getragen werden!" Religionslehrer, die in Deutschland unterrichten, müßten auch hierzulande ausgebildet werden. [1]

Zu diesen markigen Worten hatte ihn eine kurze Erzählung aus seiner Kindheit geführt. Demnach sei er nach dem regulären Schulunterricht nachmittags von türkischen Lehrern unterrichtet worden, die ihm das Gegenteil dessen beigebracht hätten, was er in der deutschen Schule gelernt habe. Vormittags habe er gelernt, daß man Geschichte hinterfragen darf, sogar muß. Am Nachmittag habe er gelernt, daß der Staat alles richtig mache, die Religion sakrosankt sei, und man nichts hinterfragen dürfe. Ohne diese Erfahrung in Abrede zu stellen, steht doch außer Frage, daß solche Schlaglichter im Kontext einer Debatte vor breitem Fernsehpublikum Wasser auf die Mühlen antiislamischen Furors sein können. So fragte Markus Lanz denn auch verblüfft nach: "Das sind ja ganz neue Töne. Ich höre das zum ersten Mal. Sie sind schon noch Vorsitzender der Grünen, oder?"

Özdemir lachte und legte sogar noch nach indem er berichtete, daß seine Partei als erste gefordert habe, Türken, die hierzulande Oppositionelle ausspionieren, dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen. Was habe hingegen die Bundesregierung gemacht? Die habe lange genug gewartet, bis alle Imame abgezogen und alle Beweismittel vernichtet waren: "Das hätte es unter einem Innenminister Özdemir nicht gegeben!" Innenminister Özdemir? Diese Pointe mutet denn doch erstaunlich an, da die Grünen nach der Bundestagswahl sicher andere Probleme haben werden, als sich darüber Gedanken machen zu müssen, wer am besten zum Innenminister taugt. [2]

Als Özdemir forderte, man müsse klarmachen, daß der Arm Erdogans in dieser Gesellschaft nichts verloren habe, und die Grünen in dieser Frage viel klarer als Frau Merkel seien, bediente er sein persönliches Leib- und Magenthema und erntete für seine Einlassungen ausgiebigen Applaus des Publikums im Studio. Er berührte damit zweifellos einen wichtigen Punkt in einer virulenten Debatte, doch darf man darüber nicht vergessen, daß eine Aversion gegen Recep Tayyip Erdogan schlechterdings Konsens in Deutschland ist. Wäre er hingegen auf die Unterdrückung der Kurdinnen und Kurden eingegangen oder hätte gar an Verbot und Verfolgungen radikal linker türkischer und kurdischer Opposition gegen das AKP-Regime auch in der Bundesrepublik gerührt, hätte man ihm Unerschrockenheit und Streitbarkeit attestieren können.

Wenn hingegen der Ausbruch aus dem Stasisfeld, in dem Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt mit ihrer über die Jahre gewachsenen Geschmeidigkeit keine Fehler gemacht haben und gerade deswegen so farblos geblieben sind, schnurstracks in einen brachialen Sicherheitsdiskurs mündet, läßt das noch Schlimmeres befürchten, als man es von den Grünen gewohnt ist. Özdemir scheint dünnhäutig geworden zu sein, hat er doch seiner Partei vor dem Parteitag im Juni, bei dem das Wahlprogramm beschlossen werden soll, Ruhe verordnet. Schulterschluß lautet die Devise, die Politiker beider Flügel ausgegeben haben. So sah sich der Parteichef genötigt, sich seitens seines Ziehvaters Winfried Kretschmann "einseitige öffentliche Ratschläge von der Seitenlinie" zu verbitten. Wenn selbst die beiden engsten Verbündeten über die Strategie für die Bundestagswahl aneinandergeraten, müssen bei den Grünen alle Warnlampen leuchten. [3]

Der Ministerpräsident Baden-Württembergs hatte es als Lehre aus der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen bezeichnet, daß man "Radikalität nicht mit Relevanz verwechseln" dürfe. Da man nun wirklich nicht behaupten kann, daß der schwarz-grüne Kretschmann radikal sei, bedarf wohl seine Vorstellung von Relevanz einer näheren Klärung. Wie er dazu ausführte, sollten die Grünen keine Themen ins Zentrum stellen, bei denen sie als Regierung in den Ländern keinen Einfluß hätten, sagte er mit Blick auf die umstrittenen Abschiebungen nach Afghanistan. Wenn man den begrenzten öffentlichen Raum mit solchen Themen fülle, schließe man ihn für die Kernkompetenz Klima und Umwelt. Das hieß also frei übersetzt, man solle sich nur dann in Konflikte begeben, wenn man auch mitentscheiden könne. Komme bei den Wählern die Botschaft an, daß man nichts zu melden habe, sei das "das Gegenteil von Relevanz".

Wieso Kretschmann behauptet, die Länder hätten keinen Einfluß auf Abschiebungen nach Afghanistan, bleibt sein Geheimnis. Bekanntlich haben sich sehr wohl mehrere Bundesländern unter Verweis auf die allgemein bekannte desaströse Sicherheitslage am Hindukusch geweigert, diesbezügliche Pläne der Bundesregierung umzusetzen. Hingegen hat sich Kretschmann offen für Abschiebungen gezeigt, was in der Partei nicht besonders gut ankam. Widerspruch erntete er nun mit Blick auf seine jüngste Schelte am NRW-Wahlkampf der Grünen seitens des Menschenrechtspolitikers Volker Beck: "Wer meint, Grüne auf Öko verkürzen zu können, arbeitet als Bestattungsunternehmer", schrieb der NRW-Bundestagsabgeordnete auf Twitter. "Ein Lällebäbbel denunziert den Kampf für Menschenrechte", fügte er hinzu. Als "Lällebäbbel" bezeichnet man im Schwäbischen jemanden, der dummes Zeug schwätzt. [4]

Grundsätzlich sind Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt aber schon einer Meinung mit Kretschmann, was die Aufstellung der Grünen angeht. Beide argumentieren, man müsse "anschlußfähig" an die Gesellschaft bleiben und aus der Mitte heraus Veränderungen vorantreiben, wie etwa den Umbau der Automobilindustrie oder die Agrarwende. Umgekehrt lobt Kretschmann das Spitzenduo mit den Worten, der Autogipfel der Bundesgrünen sei "eine wichtige Initiative" gewesen, um grüne Themen weiterzuentwickeln. Auch in der Koalitionsfrage teile man die Auffassung, kein Bündnis auszuschließen, ausgenommen mit der AfD. Bei der Landtagswahl in NRW hatten die Grünen Jamaika ausgeschlossen, doch das sei "nicht so attraktiv für den Wähler", wenn man sich schon vorher in die Opposition begebe, befindet Kretschmann. Und bei der Frage der inneren Sicherheit machten es die beiden goldrichtig: "Sie nehmen die Kernthemen der politischen Diskussion an." Also scheint der schwäbische Haussegen denn doch nicht so schief zu hängen, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Zumindest Kretschmann bleibt unbeirrt auf der Siegerstraße, und sollten die Grünen in der Versenkung verschwinden, könnte er ja immer noch eine Autopartei gründen.


Fußnoten:

[1] http://www.huffingtonpost.de/2017/05/24/ozdemir-lanz-lehrer-tuerk_n_16778800.html

[2] http://www.mz-web.de/panorama/fernsehen/zdf-talk-markus-lanz-oezdemir-ueberrascht-mit-harten-forderungen-zur-integration-26961296

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/partei-im-umfragetief-die-gruenen-wissen-nicht-was-sie-tun-1.3515446

[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-der-wahlniederlage-in-nordrhein-westfalen-die-gruenen-streiten-um-ihren-kurs/19839718.html

24. Mai 2017


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