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HERRSCHAFT/1739: Noch einwilligungsfähig, aber schon abgeschrieben und vergessen (SB)



Jemandem eine Einwilligung zu einem Anliegen zu erteilen setzt ein solches voraus. In der heute mehrheitlich im Bundestag verabschiedeten Novellierung des Arzneimittelgesetzes ist davon die Rede, daß künftig auch klinische Studien an nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten möglich sein sollen, die keinen unmittelbaren Nutzen davon haben. Wenn also "die betroffene Person als einwilligungsfähige volljährige Person für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich nach ärztlicher Aufklärung festgelegt hat, dass sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende gruppennützige klinische Prüfungen einwilligt" [1], so der Text des heute verabschiedeten Änderungsantrages zum bestehenden Arzneimittelgesetz, dann gibt sie den Ärzten, die in einem solchen Fall zu konsultieren sind, quasi einen Blankoscheck darauf, ihre körperliche Unversehrtheit in Gebrauch zu nehmen.

Die Selbstbestimmung des Patienten wird in der modernen Medizin groß geschrieben, und zweifellos sind Patientenverfügungen zur Verhinderung von Maßnahmen, die ansonsten in einem nicht mehr ansprechbaren Zustand getroffen werden könnten, ein Fortschritt in diese Richtung. Patientenautonomie wird gerade dann, wenn der Mensch sie nicht mehr aktiv durchsetzen kann, zu einem Rechtsanspruch, dessen Verläßlichkeit nicht gefährdet werden darf. Wird das Rechtsgut der Patientenverfügung allerdings eingesetzt, um der medizinischen Forschung eine "gruppennützige klinische Prüfung" auch an nichteinwilligungsfähigen Patienten zu ermöglichen, dann werden diese in einen fremdnützigen Gebrauch genommen, in dem der Nutzen zu Lasten der Autonomie der betroffenen Probanden absolut gesetzt wird.

Wie "freiwillig" sich diese auch immer der medizinischen Forschung überantworten, so werden sie doch als Adressaten eines solchen Anliegens in eine moralische Zwangslage gebracht. Darauf angesprochen, ob sie sich vielleicht zur Verfügung stellen wollen, riskieren sie mit einer Ablehnung, sich undankbar gegenüber den bereits in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen zu zeigen, schlicht egoistisch zu sein oder sich dem angeblich gemeinnützigen Fortschritt der Medizin in den Weg zu stellen. Indem ihnen im Zustand einer Einwilligungsfähigkeit, die in einem mutmaßlich desolaten Zustand leicht zu strapazieren und manipulieren ist, angetragen wird, eine Entscheidung für den zu diesem Zeitpunkt unauslotbaren Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit zu treffen, werden sie einer Nötigung ausgesetzt, der sie, solange sie für diesen moralischen Druck empfänglich sind, nur auf dem einen Weg, der über die goldene Brücke eines altruistischen Beitrages zu einem nicht minder abstrakten Gemeinwohl führt, entkommen können.

Dies zu konkretisieren bringt allerdings nicht nur Wohltaten für Demenzkranke hervor, sondern auch das fundamentale Interesse der Bundesregierung an der Sicherung optimaler Standortbedingungen für die Pharmaindustrie. Als in den 1990er Jahren heftig über die Bioethikkonvention des Europarates debattiert wurde, die die fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten erlaubt und von der Bundesrepublik aufgrund des großen Widerstandes in der Bevölkerung bislang weder unterzeichnet noch ratifiziert wurde, erweckte der damalige Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig 1998 den Eindruck, die Unterzeichnung dieses völkerrechtlichen Vertrages würde sogar für mehr Patientenschutz sorgen:

Ich bin überzeugt, daß es angesichts der Vielfalt von Rechts- und Kulturtraditionen in Europa, gerade wegen der grenzüberschreitenden und wissenschaftlichen Zusammenarbeit im Bereich von Biologie und Medizin auf europäischer Ebene, einheitliche, rechtliche Standards braucht, um zu verhindern, daß derjenige Standortvorteile ausnutzt, der ethische Maßstäbe niedrig ansetzt.

Was unter dem Strich bei diesem Argument bleibt, ist die Verbesserung deutscher Standortbedingungen. Damals wie heute besteht Handlungsbedarf, weil andere europäische Staaten über eine liberalere Gesetzgebung für pharmakologische Forschung wie klinischen Praxis verfügen. Im Zeitalter anwachsender Krisenkonkurrenz gilt um so mehr, was der heutige Kanzleramtschef und damalige Bundestagsabgeordnete Peter Altmaier den Kritikerinnen und Kritikern der Bioethikkonvention 1998 anlastete:

Die kardinale Schwäche in der Argumentation der Gegner eines Beitritts zur Konvention besteht meines Erachtens darin, daß sie keine Strategie haben, wie sie ihr Ziel, die Erreichung eines höheren Schutzniveaus, europaweit realisieren würden. Es wird keine bessere Konvention geben. Es wird im anderen Fall gar keine Konvention geben und der Rückzug in die geistige oder nationale Wagenburg hilft in der Tat nicht weiter.

Die unselige Tradition medizinischer Menschenversuche insbesondere im NS-Staat zum Anlaß zu nehmen, der Forschungsfreiheit nicht unter allen Umständen den Zuschlag zu geben, war in der Bundesrepublik einst selbstverständlich. Im Zuge ihrer sogenannten Normalisierung und des Griffes nach neuer globale Macht ging nicht nur der Konsens, sich kriegerischer Aggression zu enthalten, über Bord. Wer in den vollen Genuß moderner "Anthropotechniken" gelangen will, muß die biomedizinische Verfügungsgewalt über die individuelle Leiblichkeit ebenso ausbauen wie andere Strategien der "inneren Landnahme" verfolgen. Dagegen Stellung zu beziehen hat mit den Wagenburgen kolonialistischer Siedler nichts zu tun, sondern ist notwendige Selbstverteidigung streitbarer Subjektivität in einer alles und jeden kommodifizierenden und verdinglichenden Welt.

Zumindest die EU hätte, wäre ihre Selbstdarstellung als "Wertegemeinschaft" mehr als ein bloßer Treppenwitz der Geschichte, selbstverständlich die Möglichkeit, in ihrem Rahmen höhere Schutzstandards zu definieren und auch durchzusetzen. Schließlich werden Maßnahmen des Verbraucherschutzes wie etwa die Negativwerbung auf Zigarettenschachteln oder Normen des Umweltschutzes auf EU-Ebene beschlossen. Daß es in diesem Fall anders ist, hat nicht nur mit der vorherrschenden Tendenz zu tun, Formen der Liberalisierung, die der Kapitalverwertung nützen, wie von selbst durchzuwinken. Daß die Bundesregierung sich bei dieser Gesetzesänderung auf eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2014 beruft, die solche Forschungspraktiken legitimiert, aber auch restriktivere Ausnahmen ermöglicht, darf als billiger Vorwand dafür verstanden werden, das offen Zutageliegende nicht beim Namen zu nennen.

Die Forschung an Demenzkranken mag auf den ersten Blick der Verhinderung dieses Altersleidens dienen. Zugleich wird mit ihr wie mit anderen ethisch prekären Interventionen in die menschliche Physis auf neurowissenschaftlichem Gebiet, in der Humangenetik, Transplantations- und Reproduktionsmedizin die Zurichtung des Menschen auf optimalere Funktionalität und Verwertbarkeit betrieben. Gerade die Behandlung chronischer degenerativer Erkrankungen wird als eminent wichtiger Kostenfaktor der betriebswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht nur des Gesundheitswesens, sondern aller dadurch geschädigten Wirtschaftsbereiche auf das Ziel weiterer Produktivitätsgewinne hin durchgerechnet. Nicht zuletzt spielt das Interesse der Auftraggeber dieser Forschung an einem längeren und schmerzfreieren Leben eine Rolle bei der großen Bereitschaft, prinzipielle Grenzziehungen medizinischer Ethik aufzuheben.

So wird für die fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Demenzkranken auch heute vor allem das kleinere Übel in Rechnung gestellt. Wenn etwa der SPD-Politiker und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach mit dem Argument für die Gesetzesänderung wirbt, daß damit eine in der klinischen Realität ohnehin längst praktizierte Form der Forschung legalisiert wird, dann wäre eigentlich zu fragen, warum nicht im ersten Schritt etwas gegen dieses Problem unternommen wird. Wenn der Kieler Medizinrechtler Sebastian Graf von Kielmansegg auf die bereits 2004 legalisierte gruppennützige Forschung an Minderjährigen verweist, um zu fragen, wieso demgegenüber die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten verboten bleiben sollte, dann wird lediglich der bereits erreichte Mißstand verallgemeinert. Zu behaupten, die Belastungen, die sich aus dieser Forschung ergeben, seien ohnehin minimal, geht zudem gezielt an der rechtlichen Notwendigkeit vorbei, prinzipielle Vorkehrungen individuellen Schutzes zu treffen, wo die Zukunft offen und die Gier groß ist.

Verbrauchende Forschung am Menschen hat Konjunktur, sind die dabei erzielten Ergebnisse doch weit zuverlässiger und aussagekräftiger als die von Tierversuchen. Daß deren Probanden per se "nichteinwilligungsfähig" seien, unterstreicht die aggressive Ignoranz des Begriffes. Nur wer sich wehrt, und das tun Tiere durchaus, wenn sie nicht sediert, betäubt, gefesselt und fixiert werden, hat eine Chance, nicht eingespeist zu werden in eine wissenschaftlich-technische Apparatur, die einer ganz eigenen Prozeßlogik meßbarer Verläufe und objektivierbarer Ergebnisse folgt. Was immer das Individuum im Nebel seiner Demenz ausmachen mag, kann da nur stören. Die noch vor dem Fallen des Vorhanges des Vergessens erteilte Ermächtigung, mit dem Probanden ganz nach Erfordernis der Laboranordnung zu verfahren, produziert mithin fast einen Idealzustand medizinischer Wissensproduktion. Der die eigene Finalität antizipierende wie besiegelnde Akt, ja und amen zur weißen Fabrik zu sagen, gemahnt nicht von ungefähr an ein religiöses Ritual der Unterwerfung, das in der Hoffnung auf Erlösung von allem Übel, nicht zuletzt dem der eigenen Objektwerdung, bereitwillig vollzogen wird.


Fußnote:

[1] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/102/1810235.pdf

11. November 2016


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