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HERRSCHAFT/1718: Was bleibt von Edward Snowdens mutigem Schritt? (SB)



Als Edward Snowden vor zweieinhalb Jahren das ganze Ausmaß der Überwachung informationstechnischer Systeme durch US-amerikanische und britische Geheimdienste enthüllte, machte er Millionen Menschen schlagartig bewußt, daß die ihnen garantierten Freiheitsrechte in wesentlichen Punkten Makulatur sind. Die im Mittelpunkt jeder demokratischen Verfassung stehende Begrenzung staatlicher Übergriffe auf den einzelnen Bürger erwies sich in ihrer praktischen Umsetzung als schlicht unkalkulierbar. Gerade um die klare Bindung staatlicher Gewalt an Legalitätsprinzipien soll es nach juridischer Lesart in der rechtsförmigen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staatsbürger und Staatsorganen jedoch gehen. Die Undurchdringlichkeit und Willkür geheimdienstlicher Überwachung wie die technische Komplexität ihrer praktischen Anwendung haben jedoch das Gegenteil dessen zur Folge - der einzelne Mensch ist der numinosen Gewalt des Sicherheitsstaates ohnmächtig ausgeliefert.

Demgegenüber erfüllen parlamentarische Kontrollorgane bloße Feigenblattfunktion, sind sie doch zahlreichen Einschränkungen durch den geheimen Charakter exekutiver Gewalt ausgesetzt. Der zur Rechtfertigung ihrer Allgewalt heranzitierte Schutz der nationalen Sicherheit ist ein Widerspruch in sich, ist dieses abstrakte Prinzip doch mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen und damit des angeblichen Volkssouveräns nicht in Deckung zu bringen. Erschwerend für den demokratischen Anspruch der parlamentarischen Kontrollfunktion hinzu kommt die Einbindung der Kontrolleure in Parteien, die zum überwiegenden Teil Regierungsfunktion ausüben, es früher einmal getan haben oder darauf aus sind, in Zukunft an ihr teilzuhaben. Regierungshandeln artikuliert sich mithin als Räson eines Staates, der seinerseits aufs innigste mit Kapitalinteressen verbunden ist, die zu Lasten des Gros der Lohnabhängigen gehen.

Daran ändert auch die Ausstrahlung der Dokumentation "Citizenfour" durch die ARD nichts. In ihr kann der Zuschauer anhand der Ereignisse Anfang Juni 2013, als Edward Snowden mit Unterstützung des Journalisten Glenn Greenwald in Hongkong mit seinen umfassenden Erkenntnissen über den datenelektronischen Überwachungsapparat der USA und Britanniens an die Weltöffentlichkeit ging, bestenfalls die eigene Ohnmacht erfahren. Nach zweieinhalb Jahren weitgehend folgenlos gebliebener und diverser aus der originären Enthüllung resultierender Geheimdienstskandale könnte die Bilanz des Ertrags für den Fortschritt demokratischer Entwicklung nicht ernüchternder sein. Was heute auf Wikipedia als "Globale Überwachungs- und Spionageaffäre" rubriziert wird, fördert die Umrisse eines transnationalen Kontrollapparates zutage, der technisch in der Lage ist, weitreichende persönliche Informationen über jeden einzelnen Menschen auf der Erde zu erlangen und in Datendossiers dauerhaft abzuspeichern.

Dabei ist dem preisgekrönten Dokumentarfilm "Citizenfour" wenig mehr als die politische Motivation des Hauptakteurs Edward Snowden, die individuelle Totalüberwachung weder für sich noch für andere Menschen akzeptieren zu wollen, und das problematische Manövrieren angesichts seiner Verfolgung durch US-Behörden zu entnehmen. Die Frage, was angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung zu tun sei, muß sich jeder Mensch selbst stellen. Sie auch nur zu artikulieren mag nicht die Aufgabe eines Dokumentarfilms sein, doch auf eine explizite politische Position in Sicht auf die vermittelte Ohnmachtserfahrung zu verzichten, belegt auch die Schwäche medialer Vermittlung gesellschaftlicher Widersprüche. Wie aus weitergehenden Berichten Greenwalds hervorgeht, war allein die Publikation der Erkenntnisse Snowdens durch die bekanntesten Tageszeitungen der westlichen Welt schwierig, hatten deren Chefredakteure doch ihrerseits wenig Vertrauen in den erklärten Schutz der Pressefreiheit.

In der Ankündigung des Films durch die ARD konnte der politische Ertrag seiner Ausstrahlung kaum niedriger gehängt werden: "Wer diesen Film gesehen hat, wird anders über den Umgang mit seinem Telefon, seiner Kreditkarte, seinem Webbrowser oder seinem Internet-Profil nachdenken." [1] Das galt aufgrund des großen Datenhungers privatwirtschaftlicher Unternehmen schon vor den Enthüllungen Snowdens und wirkt angesichts der seitdem festzustellenden Immunisierung der informationstechnischen Kontrolle gegen jeglichen demokratischen Widerstand wie Pfeifen im Wald. Wenn etwas an der Aktion Snowdens auch für die Zukunft bedeutsam ist, dann das nicht mehr rückgängig zu machende allgemeine Wissen über die antidemokratische Verselbständigung des staatlichen Gewaltmonopols und die daraus resultierende Frage nach einer Gegenmacht, die diese durch die Prozeduren und Organe parlamentarischer Repräsentation offensichtlich nicht zu korrigierende Ermächtigungspraxis wieder aufhebt.

Gerade dort könnte es kaum düsterer aussehen, wird der Staat doch seit den Anschlägen von Paris in beispielloser Weise zum repressiven Vollzug nicht nur gegen mörderischen Terrorismus, sondern gleichzeitig alle Formen außerparlamentarischen Widerstands aufgerüstet. Dessen eingedenk sind die Verfassungsgarantien des bürgerlichen Staates seit jeher mehr als brüchig, wie etwa das sinngemäße Diktum des verstorbenen Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt belegt, die Bewältigung großer Krisen gerade nicht mit dem Grundgesetz in der Hand vollzogen zu haben. Wo man in der jüngeren Geschichte etwa bei der Erwirtschaftung von Kriegsgründen, der Verfolgung von Kommunisten, dem Verbot von Parteien, der Ausstellung schwarzer Listen gegen sogenannte Terrorverdächtige oder andere Formen des notstandsartigen Krisenmanagements hinschaut, war es gerade die Nichtbeachtung demokratischer Prinzipien, die die Exekutive handlungsfähig gemacht hat.

Nicht umsonst erfreut sich der Begriff der "Postdemokratie" heute in den Gesellschaftswissenschaften großer Konjunktur. Exekutive Praxis und konstitutioneller Anspruch klaffen auf eine offensichtlich nicht mehr zu brückende Weise auseinander. Festzustellen, wo das postulierte Danach der Demokratie in den Vorschein der Diktatur übergeht, kann, selbst wenn es politikwissenschaftlich zu eruieren wäre, kaum Sache der damit befaßten Wissenschaften sein, sind diese doch zugleich Organe der Legitimation herrschender Verhältnisse. Wie auch der Begriff des "Neuen Konstitutionalismus" für die Entdemokratisierung politischer Entscheidungen auf supranationaler Ebene zeigt, ist ein von Staat und Wirtschaft abhängiger Hochschulbetrieb zu wenig mehr in der Lage, als den Sachstand antidemokratischer Entwicklung vorsichtig zu umschreiben.

Die Frage, was denn nun aus dem mutigen Eintreten Edward Snowdens für bürgerliche Freiheitsrechte folgt, bietet wenig erfreuliche Antworten. Es ermangelt ihnen am Subjekt ihrer Durchsetzung mindestens so sehr, wie die damit beauftragten Politiker alles andere tun als ihren eigenen Berufsstand durch wirksames Aufbegehren zu gefährden. Angesichts der anomischen Aufhebung des unterstellten Nomos konstitutioneller Demokratie, der in der beanspruchten Reinkultur noch niemals eingelöst wurde und dessen Zukunft von technokratischer Zweckrationalität und politischer Sachzwanglogik umwölkt ist, wirkt der Ruf nach der Einhaltung von Recht und Gesetz so zahnlos, wie die verschwörungstheorische Unterstellung, selbstherrliche Feinde der Freiheit belügten das Volk, das endlich durch die Wahrheit befreit werden sollte, an einen Imperativ staatlicher Ordnung appelliert, der in der Dialektik von Wahrheit und Lüge schon immer als Letztbegründung autoritärer Herrschaft fungierte.

Unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen wäre schon der Ausschluß all dessen, was das spontane Aufbegehren des Menschen in die nächste Runde seiner Unterwerfung führt, ein produktiver Fortschritt. Ohne grundsätzliche Kritik am Prinzip des Äquivalententausches, der durch die Orientierung am abstrakten Geldwert und quantitativen Wertwachstum die Zerstörung qualitativer Lebenswirklichkeiten bedingt, ohne historisch-materialistische Analyse des zentralen gesellschaftlichen Konflikts, ohne die Kritik eigener Vorteilsnahme in der sozialdarwinistischen Matrix und ohne Infragestellung etablierter Eigentumsformen, also ohne entschiedene Positionierung auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten, läuft jeder Versuch, eine Gegenbewegung zu formieren, Gefahr, durch die Wiederholung sattsam bekannter Imperative herrschaftlicher Interessen korrumpiert zu werden.


Fußnote:

[1] http://www.wdr.de/programmvorschau/suche.html?medium=F&sender=12&datum=2015-11-23&zeit=1900-2400

24. November 2015


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