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HERRSCHAFT/1680: Steuergerechtigkeit - Phantom der kapitalistischen Eigentumsordnung (SB)




Steuerflucht findet nicht nur in Offshore-Banken und sogenannten Steuerparadiesen statt. Die Minimierung desjenigen Anteils der Einkünfte, mit dem die bevölkerungs-, finanz-, sicherheits-, arbeits- und sozialpolitischen Vorleistungen der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion erbracht werden, erfolgt nach der Devise "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren". In der neoliberalen Gesellschaft soll der Staat nicht etwa abgeschafft werden, er soll vielmehr wie ein Unternehmen funktionieren. So wird privatwirtschaftlich organisiert, was sich an hoheitlichen Aufgaben auslagern läßt, ohne allerdings ein verfassungsrechtlich demokratisch begründetes Gewaltmonopol in Frage zu stellen, das die Eigentumsordnung als Basis der kapitalistischen Produktionsweise schützt. Dazu bleibt dem Staat das Privileg, Steuern zu erheben und auf diese Weise sein substantielles Vermögen, die administrative Verfügungsgewalt über die Bevölkerung, in Wert zu setzen.

Am informellen Staatsziel jeder kapitalistischen Gesellschaft, der Bereicherung privater Eigentümer, hat die öffentliche Hand zwar Anteil, aber nicht auf eine Weise, daß die dadurch am meisten Bevorteilten ihr auch den größten Teil der Einnahmen bescheren, die Funktion und Existenz des Staates sichern. Die der Bewirtschaftung der Bevölkerung zugrundeliegende Logik geht den entgegengesetzten Weg - je geringer die Besteuerung der Kapitaleigner, desto größer deren Möglichkeit, in die gütererzeugende Industrie zu investieren oder auf dem Finanzmarkt tätig zu werden. Im Endergebnis soll das gesamtgesellschaftliche Produkt so sehr wachsen, daß alle davon profitieren, nicht zuletzt auch der Staat.

Die fiskalische Belastung der Bevölkerung soll dabei so verteilt sein, daß die "Leistungsträger" den Reichtum des Gemeinwesens mehren, und das sind nicht die lohnarbeitenden Menschen. Zwar wird ihnen gerne attestiert, daß es ihrer Hände Arbeit sei, die die Nation prosperieren lasse. Dies ist jedoch nur der Beschwichtigung des Zwangsverhältnisses geschuldet, das die Arbeitsgesellschaft als Stätte nationaler Produktivität in die Lage versetzt, sich in weltweiter Konkurrenz zu behaupten. Die arbeitende Bevölkerung ist das wichtigste Mittel, das dem Staat zur Verfügung steht, um Einkünfte zu generieren und sich unentbehrlich zu machen. Indem sie seinem Kommando auf eine Weise unterworfen wird, die dem unternehmerischen Ziel, sich am Weltmarkt zu behaupten, dient, erweist er sich als "ideeller Gesamtkapitalist" selbst dann noch, wenn "die Märkte" seine Refinanzierung im Rahmen der sogenannten Staatsschuldenkrise in Frage stellen.

Nach der Devise, daß sozial sei, was Arbeit schafft, kommt den Investoren und Eigentümern das Verdienst dafür zu, daß die Fließbänder laufen, die Schlote qualmen und die Regale der Supermärkte mit wohlfeilen Waren überquellen. Weil das Kapital auf welche Weise auch immer gewinnbringend verwertet werden will, wird ihm in einer Art zivilreligiösen Letztbegründung zugebilligt, Alpha und Omega der betriebswirtschaftlichen Bilanzierung gesellschaftlicher Produktivität zu sein. Zu diesem Zweck soll es so freizügig agieren können wir nur möglich, also auch frei von dem Zwang, auf der Grundlage prozentual gleicher Verteilung mit Steuern belastet zu werden. Freigesetzt zum Kauf der Ware Arbeitskraft beschert das Kapital dem Staat Steuereinkünfte, indem dieser nämliche Ware ebenso besteuert wie andere Güter des materiellen und ideellen Bedarfs.

So müssen Lohnabhängige nicht nur den Erhalt der eigenen Arbeitskraft mit dem Ertrag dessen finanzieren, was sie bei ihrer Verausgabung verdienen. Sie tragen auch in überproportionalem Maße dazu bei, daß es überhaupt einen Arbeitsmarkt gibt, auf dem sie nach Käufern einer Ware Ausschau halten können, deren Preis sie im Unterschied zu deren monopolistisch und oligopolistisch auftretenden Abnehmern kaum positiv beeinflussen können. Sie handeln stets aus der Situation eines im Verhältnis zur Nachfrage übergroßen, die Subjekte der Arbeitsgesellschaft in verschärfte Überlebenskonkurrenz treibenden Angebots heraus. Der Subordination ihres Überlebens unter das Diktat einer Preisbildung gemäß, die durch einen internationalen Standortwettbewerb verschärft wird, der die eigenen gewerkschaftlichen Interessenvertretungen dazu veranlaßt, sich einem sozialpartnerschaftlichen Wettbewerbskorporatismus anzudienen, ist ihr Einfluß auf die politische Willensbildung weit geringer als der eines Interesses, dessen Sachwalter sich darauf verstehen, den Eindruck zu erwecken, ihr oberstes Anliegen und damit Kerngeschäft sei die Schaffung eines Wohlstands, der den Erhalt von Staat und Gesellschaft garantiert.

Die umfangreichen Voraussetzungen, derer es bedarf, daß sich ein technologisch, infrastrukturell und ausbildungstechnisch hochentwickelter Standort wie die Bundesrepublik stets an vorderster Front weltweiter Wettbewerbsfähigkeit behauptet, werden somit in erster Linie von denjenigen finanziert und erarbeitet, die über nichts anderes verfügen als die angebliche Freiheit, die eigene Lebenszeit und -kraft zu verkaufen. Sie werden bei der Reproduktion ihrer Arbeitskraft durch Verbrauchssteuern zur Kasse gebeten, während sie gleichzeitig die volkswirtschaftlich bedeutsame Binnennachfrage nähren. Sie entrichten Steuer auf den Lohn, den sie erhalten, obwohl dieser den geringeren Teil dessen ausmacht, was ihnen genommen wurde. Sie sind angehalten, die Verkäuflichkeit ihrer Arbeitskraft durch "lebenslanges Lernen" und die physische Pflege ihrer Leistungsfähigkeit zu optimieren. Sie sollen die Früchte ihres Arbeitslebens so wenig wie möglich genießen, indem das offizielle Ende ihrer Verwertbarkeit immer mehr in Richtung Ableben verschoben wird.

Steuerpolitik ist Standortpolitik, und die Flucht des Kapitals in sogenannte Steuerparadiese schlimmstenfalls deren Schattenseite. Da die absichtsvoll von den Regierungen der hochproduktiven Triade Nordamerika, Westeuropa und Japan herbeigeführte Globalisierung der Arbeitsteilung und Wertschöpfung insbesondere auf Kapitalsverkehrsfreiheit und Investitionsschutz pocht, ist die Entstehung souverän agierender Territorien, in deren Banken sich Geld unter besonders günstigen Bedingungen für seine Eigner deponieren läßt, lediglich eine Varietät der Freisetzung aller Energien zu dem Zweck, Wert zu schaffen. Dementsprechend ist anzunehmen, daß es diese Orte und Banken längst nicht mehr gäbe, wenn sie dem vorherrschenden gesellschaftlichen Zweck, die privatwirtschaftliche Akkumulation von Kapital zu ermöglichen und damit die Existenz der Staaten zu sichern, im Wege ständen. Demgegenüber, daß verlustreiche Kriege entfacht werden, um die neoliberale Verwertungsordnung auch dort durchzusetzen, wo der freie Marktzugang nicht unter allen Bedingungen gewährt wird, kann die Maßregelung jener Kleinstaaten, die Offshore-Banking betreiben, nur eine Petitesse sein.

Steuergerechtigkeit im Sinne der Gleichheit sozialer Ausgangsbedingungen hat es im Kapitalismus noch niemals gegeben. Dies wäre mit dem Interesse, die Produktivkräfte durch marktwirtschaftliche Konkurrenz und imperialistische Expansion so zu entfesseln, daß dem Interesse privatwirtschaftlicher Akteure an der Mehrung ihres Vermögens wie der Sicherung ihrer Machtposition gedient ist, kaum zu vereinbaren. Es ist daher auch kein Zufall, daß es einer gezielten Enthüllung bedarf, um das Thema überhaupt ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Dort befand es sich schon häufiger, und jedes Mal wird mit der gleichen standortbezogenen Logik Handlungsunfähigkeit vorgeschützt. Man könne keine restriktiven Regelungen gegen Steuerhinterzieher durchsetzen, wenn nicht alle an einem Strang zögen, eben weil das einen Standortnachteil für die eigene Wirtschaft mit sich brächte.

Dabei werden auf supranationaler Ebene etwa unter dem Schirm der OECD Maßnahmen gegen Steuerhinterziehungen verschärft, die sich vor allem gegen das Bankgeheimnis richten. Hier weist das Kartell von Staat und Kapital durchaus Risse auf, bringt die Anonymität des Zahlungsmittels Geld doch auch einen sicherheitspolitischen Kontrollverlust mit sich, der in sogenannten postdemokratischen, um nicht zu sagen prädiktatorischen Zeiten unerwünschte Resistenzen und Rebellionen begünstigen könnte. Auch dazu trägt der populistische Furor bei, mit dem der Eindruck erweckt wird, daß es sich bei der legalen, im Sinne der Kapitalsverkehrsfreiheit gewollten Steuervermeidung meist um illegale Steuerhinterziehung handelt.

Das massenmediale Anprangern angeblich mafiöser Guthaben auf zypriotischen Banken, bei denen es sich zu einem Gutteil um legale Geldgeschäfte privater wie institutioneller Anleger aus Rußland handelte, ist ein Beispiel dafür, wie der begründete Zorn der Lohnabhängigenklasse über die Privilegierung von Kapitalinteressen für nationalstrategische Ziele eingespannt werden kann, die in letzter Konsequenz die Herrschaft derjenigen festigen, die die Adressaten dieses Aufbegehrens sein müßten. So wird wie immer nicht so heiß gegessen, was im legalistischen Tenor eines Gerechtigkeitspathos, der jeder faktischen Grundlage in der kapitalistischen Eigentumsordnung entbehrt, abgekocht wird.

6. April 2013