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HERRSCHAFT/1651: Staatsräson über alles - Maulkorb für Dissidenten (SB)




Sollte das Rederrecht der einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages tatsächlich zugunsten einer Stärkung der Fraktionspitzen eingeschränkt werden, dann stellt sich die Frage, woraus der laut Süddeutsche Zeitung von CDU/CSU, SPD und FDP im Geschäftsordnungsausschuß reklamierte Handlungsbedarf überhaupt resultiert. Der Verweis auf die von Bundestagspräsident Norbert Lammert bei der Abstimmung zum sogenannten Euro-Rettungsschirm zugelassenen Redebeiträge des CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und seines FDP-Kollegen Frank Schäffler [2] wirkt als alleiniger Grund für einen derartigen Eingriff ins Räderwerk der parlamentarischen Demokratie überfrachtet. Den Eindruck, daß die Funktion des Parlaments als Konsensmaschine stark eingeschränkt oder gar beschädigt wäre, kann man in Anbetracht der großen Mehrheiten, mit der zentrale Beschlüsse dort gefaßt werden, kaum bekommen.

Abweichler, die es bei bestimmten Sachfragen in jeder Fraktion gibt, üben in den seltensten Fällen maßgeblichen Einfluß auf die parlamentarische Willensbildung aus. So kann die Volksvertretung am Beispiel notorischer Dissidenten ihren pluralistischen Charakter mit kleiner Münze dokumentieren, um den Vorwurf zu widerlegen, als bloße Stempelstelle vorformatierter Gesetzesentwürfe und Beschlußlagen zu fungieren. Dabei ist die herrschaftsförmige Konformität dort bestätigter Entscheidungen schon durch die Modalitäten der Zugehörigkeit weitgehend gesichert. Die ideologische Konditionierung der Parlamentarier durch die jeweilige Parteilaufbahn, die ökonomische Abhängigkeit vieler Berufspolitiker von ihrem Mandat, die Attraktivität ihres Sozialstatus, das kleine Parteiverbot der Fünf-Prozent-Sperrklausel, die Einflußnahme versierter Lobbyisten der Wirtschaft und Verbände auf Parlament und Ministerialbürokratie, die von Think Tanks und politischen Stiftungen maßgeschneiderte Politikberatung und nicht zuletzt die Fraktionsdisziplin sind Gründe dafür, daß die Veredelung des demokratischen Votums des nominellen Souveräns Ergebnisse antagonistischer Art zeitigt.

Zwar sind Umfrageresultate wie dasjenige, daß die Bevölkerung mehrheitlich gegen den sogenannten Bundeswehreinsatz in Afghanistan eingestellt ist, in Anbetracht der geringen außerparlamentarischen Opposition gegen diesen Krieg mit Vorsicht zu genießen. Sie lassen jedoch ahnen, daß die regelmäßige Verlängerung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr einer anderen Ratio folgt als derjenigen, laut der der Wille der Bevölkerung maßgeblich für die politischen Entscheidungen der Verfassungsorgane sei. Auch im Bereich wichtiger Weichenstellungen der Europapolitik wird streng darauf geachtet, kein direktes Votum der Bürger einzuholen. Die Möglichkeit, daß den Ambitionen deutscher Eliten, die kapitalistische Vergesellschaftung supranational zu verallgemeinern und die EU zum Treibriemen eigener Großmachtpolitik zu machen, ein Nein entgegengehalten wird, wird durchaus ernst genommen. Auch die Inpflichtnahme des Steuerzahlers für sogenannte Rettungsschirme, die den Schwund unzureichender Wertproduktion niemals kompensieren können, und die Durchsetzung einer Austeritätspolitik, die die Reproduktion des Kapitals über die Verarmung der Bevölkerung und die Auszehrung der sozialen Daseinsvorsorge organisiert, sind im basisdemokratischen Sinne nur bedingt mehrheitsfähig.

Wie die jeweils dazu erfolgten Abstimmungen im Bundestag gezeigt haben, geht die von Kapitalinteressen bedingte Staatsräson dennoch über alles. Auch wenn Abweichler mitunter auf eine Weise das Wort ergreifen, die die Fraktionen als Verstoß gegen die anteilsmäßige Verteilung der Redezeit monieren, ist die Wirkung ihrer Stellungnahmen auf den legislativen Prozeß marginal. Wenn nun versucht wird, dissidente Positionen wirksamer als bisher zu unterdrücken, dann könnte das daran liegen, daß allein das Adressieren virulenter Widersprüche als zu anstößig empfunden wird, als daß die konforme Mehrheit dies zur Kenntnis nehmen wollte.

Plausibler erscheint die Deutung, daß das Ausmaß an unpopulären Entscheidungen, die das Parlament abzusegnen hat, in Anbetracht der sich immer weiter auftürmenden Widerspruchslagen sozialer, ökonomischer, ökologischer und ideologischer Art so sehr anwachsen wird, daß man die Strukturen der parlamentarischen Dezision präventiv wetterfest machen möchte. Gerade das große Thema der Eurokrise und Staatsverschuldung zeitigt absehbar Ergebnisse desaströser Art, und das nicht nur für die bislang am meisten betroffenen Staaten der EU-Peripherie. Wenn die Scheinblüte volkswirtschaftlichen Erfolges der Bundesrepublik welkt, weil die Absatzmärkte der Exportindustrie dank der programmatischen Austeritätspolitik wegbrechen, weil die Binnenkaufkraft wieder abnimmt und nicht eingeplante Faktoren wie ein Krieg im Nahen und Mittleren Osten zusätzliche Belastungen freisetzen, dann stehen krisenhafte Herausforderungen ins Haus, die weitreichende Geschlossenheit bei der Durchsetzung angeblich notwendiger exekutiver Maßnahmen im Parlament erfordern.

Schönwetterentscheidungen sind zu jeder Zeit leicht zu treffen. Wenn es jedoch um akute Krisenbewältigung geht und der Ausnahmezustand droht, dann könnte die Zahl der Dissidenten unter den Abgeordneten zunehmen und es vielleicht doch einmal zu Kampfabstimmungen kommen, in denen das bewährte Mittel autoritärer Zügelung, die Durchsetzung der Fraktionsdisziplin bis zur Androhung des Parteiausschlusses, nicht mehr ausreicht, um der Staatsräson Genüge zu tun. Das vielzitierte Gewissen, dem die Parlamentarier in allererster Linie verpflichtet sein sollen, kann seine legitimatorische Wirkung als Desiderat nur erfüllen, wenn es der Prüfung persönlicher Wertekonkordanz nicht ausgesetzt wird. Auch wenn die Chance dafür, daß es einmal anders sein wird, schon in Anbetracht der bislang nicht widerlegten Parlamentarismuskritik, derzufolge die repräsentative Demokratie die materiellen Bedingungen kapitalistischer Gesellschaften nicht überwinden kann, sondern im Horizont ihrer Reproduktion verbleibt, gering ist, so scheinen Maßnahmen, auch einer so vagen Möglichkeit vorzubauen, immer unverzichtbarer zu werden.

[1]‍ ‍http://www.sueddeutsche.de/politik/rederecht-im-bundestag-fraktionen-planen-maulkorb-fuer-abgeordnete-1.1332338

[2]‍ ‍http://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagspraesident-in-der-kritik-lammert-gegen-alle-1.1153017

15.‍ ‍April 2012