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HERRSCHAFT/1600: Verharmlosung des Fukushima-GAU - es wird an allen Fronten reguliert (SB)



Die Lage im explodierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi verbessert sich von Tag zu Tag, so der diffuse Eindruck, den die Betreibergesellschaft TEPCO, die japanische Regierung und auch die westlichen Konzernmedien verbreiten. Daß dort drei Reaktoren mit jeweils beigeordneten Abklingbecken sowie ein weiteres Abklingbecken außer Kontrolle geraten sind, soll mit Hilfe einer alles in allem verharmlosenden Berichterstattung vergessen gemacht werden. Negative Fakten werden mit positiven Mutmaßungen so vermischt, daß die Bevölkerung trotz der Informationsfülle insgesamt im unklaren über die Vorgänge gelassen wird.

Zwar berichtete Kyodo News am Freitag, daß im Grundwasser in der Nähe der havarierten Meiler 1 und 2 die Konzentration an radioaktivem Jod und Cäsium innerhalb einer Woche um das "mehrere Dutzendfache" gestiegen sei, zugleich wurde aber unter Berufung auf TEPCO-Angaben gemutmaßt, daß die Strahlenpartikel vom nahegelegenen Reaktorturbinengebäude "oder von woanders" stammen könnten [1]. Eine weitere theoretische Möglichkeit, daß der Reaktordruckbehälter beschädigt ist, wird vorsorglich nicht erwähnt. Zu unangenehm wäre die Vorstellung, denn sie zeigte noch deutlicher, daß es sich bei der Kernspaltung um eine unbeherrschbare Technologie handelt. Die allerdings sehr wohl als Herrschaftsmittel eingesetzt wird - nicht zufällig gingen Entwicklung und Einsatz von Atombomben der sogenannten zivilen Nutzung der Kernenergie voraus.

Die allzu berechtigte Sorge der Menschen über die radioaktive Verstrahlung Japans und anderer Weltregionen, die Produktionsausfälle der Industrie, der Zusammenbruch der Fischereiwirtschaft und die drohenden Ernteausfälle vermutlich nicht nur der japanischen Landwirtschaft als Folge des Super-GAUs im Akw Fukushima Daiichi sollten nicht davon ablenken, daß die vorherrschenden Produktionsverhältnisse an sich bereits äußerst destruktiv sind.

Jährlich ereignen sich schätzungsweise 270 Millionen Arbeitsunfälle. Dabei und bei berufsbedingten Erkrankungen sterben jährlich etwa 2,2 Millionen Menschen. Das Ausmaß des Verschleißes und endlichen Verbrauchs der Physis durch die Arbeit, der mit Arbeit einhergehende Raub an Lebenszeit und jeglicher emanzipatorischer Entwicklungschancen läßt sich nicht in Zahlen fassen.

Weder bedarf es der gefährlichen Atomenergie noch eines schwerwiegenden Nuklearunfalls wie in Fukushima, um zu der Feststellung zu gelangen, daß die ganz normale Arbeit bereits Ausdruck eines hochqualifizierten Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisses ist. Das ist sogar so weit entwickelt, daß sich die zur bloßen administrativ-korporativen Manövriermasse abgestempelten Menschen gar keine andere als eine fremdbestimmte Arbeit vorstellen können. Die Bereitschaft, sich den Produktionsbedingungen zu überantworten, ist so weit gediehen, daß die Betroffenen sogar dafür demonstrieren, arbeiten zu dürfen. Und persönlich haben sie sogar recht damit, denn unter den gegebenen Verhältnissen nicht in Lohnarbeit zu stehen ist selbst in einem relativ reichen Land wie Deutschland mit gravierenden ökonomischen und sozialen Nachteilen verbunden.

Noch reagieren die politischen Entscheidungsträger empfindlich auf eine Katastrophe wie die im Akw Fukushima Daiichi, indem sie zwecks Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung regulatorisch eingreifen und beispielsweise die Abschaltung aller Atomkraftwerke in Aussicht stellen (Deutschland) oder eine Überprüfung und Verbesserung der Sicherheitsarchitektur zusagen (USA, China). Werden die gesellschaftlichen Verhältnisse noch enger, wären selbst solche Zugeständnisse nicht mehr erforderlich. Irgendwann könnten die Menschen sogar einen Super-GAU gesenkten Blicks hinnehmen, wenn nur das Umfeld so eng gestaltet wird, daß ihnen ihre auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung eingestellte Überlebensratio davon abrät, irgendwelche langfristigen Perspektiven aufzubauen oder gar von der Vergesellschaftung und sozialen Fessel befreiende Vorstellungen zu verfolgen.

Solch eine dystopische Entwicklung wäre möglicherweise nur dann zu verhindern, wenn die Menschen, deren Arbeitskraft bis in die letzte Faser der physischen Existenz verwertet wird, anläßlich des Fukushima-GAU anfingen, die keineswegs schicksalhaft vorgegebenen Produktionsbedingungen zu hinterfragen, um sich und den seinen die Chance zu wahren, einen anderen als den heutigen herrschaftskonformen Entwicklungsweg einzuschlagen. Weltweit sind über 400 Atomreaktoren am Netz, und die Militärapparate haben viele tausend Kernwaffen gehortet. An der Menschenverachtung der nuklearen Energienutzung, deren Abfallprodukte Jahrtausende umwelt- und gesundheitsschädlich sind und weite Landstriche unbewohnbar machen, läßt sich ablesen, wie weitreichend und tiefgreifend die Herrschaftsstrukturen bereits verinnerlicht sind.

15. April 2011