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HERRSCHAFT/1584: Rücktritt Mubaraks beendet den Sozialkampf der Ägypter nicht (SB)



Mit dem überfälligen Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich die ägyptische Bevölkerung weiter radikalisiert. Was als Demokratiebewegung mit moderaten, bürgerlich-liberalen Forderungen angetreten ist, hat allemal das Potential zu einer sozialen Revolution, deren Träger sich nicht mehr mit Reformen zufriedengeben wollen, die an den etablierten Ausbeutungsverhältnissen nichts ändern. Seit langem schon ist Ägypten in Aufruhr, wie die zahlreichen Arbeitskämpfe etwa der TextilarbeiterInnen in Mahalla und Borollos belegen. Vor zwei Jahren wies der britische Aktivist Sasha Simic, der in Kairo Mitglieder der ägyptischen Opposition getroffen hatte, gegenüber dem Schattenblick auf die Radikalität der ägyptischen Arbeiterbewegung hin und erklärte, "er habe sich niemals vorstellen können, einer vorrevolutionären Situation so nahe zu sein wie in Ägypten" [1].

Auch jetzt sind wieder Zehntausende von ArbeiterInnen im Umfeld von Kairo und der Hauptstadt selbst in den Streik getreten, um unter anderem dagegen zu protestieren, daß dem seit 1984 unveränderten Mindestlohn von 35 Ägyptischen Pfund pro Woche eine mehrfache Teuerungsrate in allen Belangen essentieller Lebenssicherung gegenübersteht. So, wie die Bewegung der Regimegegner zumindest teilweise von den mit massiver Gewalt unterdrückten Arbeitskämpfen inspiriert wurde, hat sie zur Bildung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung beigetragen. Diese fordert einen Mindestlohn von 1200 Ägyptischen Pfund im Monat, der Inflationsrate entsprechende Lohnerhöhungen und weitere soziale Vergünstigungen. [2]

Die soziale Dimension dieser Erhebung wird im europäischen Blick auf die Entwicklung in Ägypten und der gesamten Region nicht von ungefähr unterbewertet. Zwar ist allgemein bekannt, daß die Bevölkerungen dieser Länder unter großer Armut und verbreitetem Hunger leiden, und das nicht zuletzt aufgrund der Ausrichtung ihrer Volkswirtschaften auf die neoliberale Globalisierung, die das Erwirtschaften hoher Profitraten zu Lasten der lohnabhängigen und erwerbsunfähigen Menschen diktiert. Doch herrscht in den reichen Metropolengesellschaften Westeuropas ein profundes Eigeninteresse daran vor, die von ihnen unterstützte Demokratisierung Ägyptens in die Bahnen eines marktwirtschaftlichen Liberalismus zu lenken, der die eigenen Verwertungsinteressen nicht nur sichert, sondern fördert. Nicht umsonst ist der Begriff der "Freiheit" hierzulande durch das Primat der Befreiung von allem und jedem zur kapitalistischen Inwertsetzung kontaminiert. Gesellschaftliche Umwälzungen lassen sich denn auch der Doktrin der "kreativen Zerstörung" unterwerfen, die das soziale Subjekt im Ergebnis so gründlich atomisiert und in die Überlebenskonkurrenz bannt, daß an kleine Revolten und große Erhebungen nicht mehr zu denken ist.

So ist das Verhältnis der EU zu den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens davon bestimmt, dort günstige Voraussetzungen für das eigene Investivkapital, den Absatz europäischer Waren und die Sicherung des eigenen Ressourcennachschubs zu schaffen. Nicht anders als in der EU selbst werden die sozialen Verhältnisse in der arabischen Welt durch neoliberale Standortbedingungen wie niedrige Steuern für Investoren, Kapitalverkehrsfreiheit, Investitionsschutz, das Verbot von Schutzzöllen für die einheimische Landwirtschaft, Rechtssicherheit für Unternehmen bei Entrechtung von Lohnarbeit, Abbau staatlicher Sozialgarantien wie die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Privatisierung der Daseinsvorsorge entwickelt. Diese Rahmenbedingungen eigener Verwertungsinteressen zu optimieren ist das vorrangige Ziel westlicher Regierungen, und daran ist auch die von ihnen mehr als zögerlich gewährte Unterstützung der Demokratiebewegung gebunden.

Diese weist sich dem flüchtigen Blick entziehende Qualitäten auf, die ganz und gar nicht im Sinne eines Hegemonialstrebens sind, das den Nahen und Mittleren Osten mit neokolonialistischen Systemen überzogen hat, deren Politik mehrheitlich die geostrategischen Interessen der NATO-Staaten reflektiert. So gesteht man sich in den europäischen Hauptstädten nur zögerlich ein, daß die einseitige Unterstützung Israels als Vorposten westlicher Dominanz antagonistische Auswirkungen zeitigt, die nun in dem mit Milliardensummen an Militärhilfe auf die Deckung des israelischen Siedlerkolonialismus eingeschworenen Ägypten zu Tage treten. Nicht die Angst vor dem Islamismus treibt die israelische Regierung dazu, das ihr verliehene Gütesiegel der einzigen Demokratie in einem Meer von Diktaturen dadurch zu entwerten, daß sie die ägyptische Demokratiebewegung als Bedrohung eigener Vormachtansprüche betrachtet. Sie weiß sehr genau, daß nicht nur Vertreter des politischen Islam, deren Anhänger auf ein Fünftel der ägyptischen Bevölkerung geschätzt werden, sondern so gut wie die ganze Zivilgesellschaft des Landes eine klare Position zur Unterdrückung der Palästinenser durch Israel und die Beteiligung ihrer Regierung daran hat.

Im Interview mit Mark LeVine bezeugt der ägyptische Blogger und Journalist Hossam el-Hamalawy [3], daß die heutige Demokratiebewegung in Demonstrationen wurzelt, die 2000 in Solidarität mit der palästinensischen Intifada erfolgten. Auch der Überfall der USA und Britanniens auf den Irak hätten dazu beigetragen, daß die jugendlichen Demonstranten, nachdem sie von der ägyptischen Polizei zusammengeknüppelt wurden, erkannten, daß der Feind im eigenen Land steht. Die Unterdrückung ihres Eintretens für die Bevölkerungen Palästinas und des Iraks habe eine innere Revolte entfacht, die sich mehr und mehr gegen die Urheber der sie selbst betreffenden Repression und im zweiten Schritt auch gegen die ökonomische Ausbeutung durch die eigene Oligarchie richtete.

Es ist daher mehr als verständlich, daß nicht nur der Rücktritt Mubaraks, sondern auch seines engeren Umfelds aus allen Regierungsämtern die Mindestvoraussetzung für einen Wechsel ist, in dem sich nicht wieder die alten Eliten durchsetzen. Der Versuch Mubaraks, den ehemaligen Geheimdienstchef Omar Suleiman zum starken Mann des Übergangs zu erklären und damit einem herrschaftskonformen Verlauf der künftigen Entwicklung den Weg zu bahnen, war davon gezeichnet, daß alle Welt weiß, um wen es sich dabei handelt. Suleiman hat sich nicht nur persönlich an Folterungen beteiligt und zahlreiche weitere angeordnet, er gilt auch als Mann der CIA und steht auf bestem Fuß mit der israelischen Regierung, für die er die Aushungerung der Bevölkerung Gazas auf ägyptischer Seite der Grenze organisiert. [4]

Sollten Suleiman oder ein anderer Gewährsmann Mubaraks versuchen, die Interessen der herrschenden Kaste zu sichern, indem sie die Streitkräfte in ihrem Sinn instrumentalisierten, dann richtete sich der Zorn der Bevölkerung auch gegen die Politik der US-Regierung, das Land zum Lehen eigener Interessen zu machen. Zwar soll das Militär in der Bevölkerung in gutem Ansehen stehen, stammen doch zumindest die unteren Ränge seines Personals aus den Reihen der ärmeren Ägypter, gleichzeitig jedoch sind seine Offiziere durch US-Militärhilfe und durch ihre enge Zusammenarbeit mit den US-Streitkräften korrumpiert. Was immer diese in der ihnen von Suleiman übertragenen Regierungsverantwortung entscheiden, steht unter dem Verdacht, eine mittelbare Folge des Interesses Washingtons zu sein, Ägypten als Bastion westlicher Hegemonie in den sicheren Händen eigener Gewährsleute zu belassen.

Die elastische Adaptionsfähigkeit westlicher Sprachregelungen - gestern honoriger Präsident, heute brutaler Diktator - läßt ahnen, daß das widerständige Element an der langen Leine geführt wird, um ihm im Ernstfall mit straffem Zug Einhalt zu gebieten. Die Politik Ägyptens unterliegt wie die aller anderen Länder des Südens in hohem Maße äußeren Einflüssen, die allein in ihrer nationalen Artikulation zu kontern eine grobe Unterschätzung globaler Gewaltverhältnisse darstellt. Die ägyptische Bevölkerung hat einen Sieg errungen, der keineswegs bedeuten muß, daß sich ihre soziale Lage grundlegend verbessern wird. Wenn sie in der Lage ist, den Mut und die Hartnäckigkeit ihres Widerstands aufrechtzuerhalten und sich nicht mit symbolpolitischen Handreichungen zufriedenstellen zu lassen, sondern ihre Ziele umfassender und nachhaltiger über den Horizont der sie unterdrückenden Oligarchie hinaus zu bestimmen, dann könnte sie den ersten Erfolg dieser Revolution womöglich zur Überwindung der gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht nur politischer, sondern vor allem sozialer Unterdrückung weiterentwickeln.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0017.html

[2] http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/MB08Ak01.html

[3] http://english.aljazeera.net/indepth/features/2011/01/201112792728200271.html

[4] http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/02/201127114827382865.html

11. Februar 2011