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HERRSCHAFT/1497: Sarrazin-Debatte ... Kramers Nazivergleich wirklich "überzogen"? (SB)



In der erregten Debatte um die Äußerungen des Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin hat der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, den bei rassistischen Ausfällen stets naheliegenden Nazivergleich gezogen. Mit seiner Anmerkung, Sarrazin habe "mit seinem Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler große Ehre" erwiesen und stehe "in geistiger Reihe mit den Herren", zog er harsche Kritik auf sich. So erklärte Michael Wolffsohn im Berliner Tagesspiegel (11.10.2009), daß er sich als Jude für Kramer schäme. Wie könne er nur "einen bewährten Politiker der deutschen Demokratie ... mit den Hauptakteuren des Holocaust gleichsetzen oder auch nur vergleichen?" fragt der Historiker und holt gegen "extreme Muslime" aus, die Juden bedrohen und deshalb nicht deren "Schicksalsgenossen" sein könnten.

Wolffsohn entwickelt seinen Widerspruch zu Kramers Kritik an Sarrazins sozialrassistischem Rundumschlag zu einen Angriff auf "eine bestimmte Gruppen von Muslimen" weiter, als ob sich Kramer mit Personen solidarisch erklärt hätte, die ihrerseits einer rassistischen Gesinnung frönen. Indem der Münchner Professor dem Zentralratsfunktionär eine Parteinahme für Personen anlastet, die dieser niemals vollzogen hat, wie einschlägige Äußerungen Kramers zu islamistischen Gruppen belegen, beklagt er sich im Prinzip darüber, daß dieser zu Lasten "demokratischer Deutscher" die falsche Bündnispolitik betreibe.

Offensichtlich ist diese Zurechtweisung bei Kramer angekommen, gesteht dieser doch zwei Tage später im Tagesspiegel (13.10.2009) ein, sein Nazivergleich sie ein "Fehler" gewesen, der Thilo Sarrazin "nur genützt" habe. Indem sich Kramer dazu bekennt, mit dem stets problematischen Nazivergleich "überzogen" zu haben, Sarrazin aber attestiert, "die Sprache und Gedanken der heutigen Neonazis zu verwenden", entspricht er Wolffsohns Kritik, ohne seine Vergleichsgrundlage völlig zu verlassen. Kramer insistiert darauf, daß Sarrazin rassistisch argumentiert, und begründet dies dankenswerterweise auch damit, daß sich der SPD-Politiker auf genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschen beruft, die sie mehr oder weniger tauglich dafür machen, dem von allen Seiten hochgehaltenen Integrationsprimat zu genügen.

Damit hat Kramer einen empfindlichen Punkt berührt, aufgrund dessen ihm Widerspruch aus den Reihen neokonservativer Kommentatoren wie Wolffsohn, Ernst Cramer oder Henryk M. Broder, um nur einige zu nennen, sicher war. Sarrazin hat mit seiner Klage über die angebliche Beeinträchtigung Berlins durch das Leben von Menschen, deren sozialer Habitus, ökonomische Produktivität und kulturelle Eigenart nicht seinen Vorstellungen einer von Leistungsdenken und Elitenherrschaft geprägten Gesellschaft entspricht, ein neofeudales Klassenbewußtsein an den Tag gelegt, daß die Teilhaberschaftsinteressen vieler Bundesbürger anspricht, die meinen, den besseren Kreisen zugehörig zu sein oder zumindest Anspruch auf eine sozial arrivierte Identität erheben zu können. Indem er die Forderung, den in seiner Sicht implizit minderwertigen Teil der Bevölkerung Berlins auf diese oder jene Weise aus der Stadt zu entfernen, auch noch eugenisch begründet, hat er dem biologistischen Volkstumsrassismus der Nazis zweifellos strukturell entsprochen. (siehe POLITIK/KOMMENTAR-RAUB/0916: Sarrazin-Interview ... vom Sozialrassismus der Eliten)

Daß dem Demokrat und Bürger Thilo Sarrazin nicht angelastet werden kann, den Genozid an Türken, Arabern und Hartz IV-Empfängern zu planen, versteht sich von selbst. Daß ein Sozialrassismus, der die Menschen nach ihrer Leistungsfähigkeit, nach ihrer Lebensweise und ihrer Gesinnung bewertet und verurteilt, die Rasseideologie der Nazis, deren eugenische, zum Mord an Behinderten führende Anwendung den damaligen Stand medizinischer Wissenschaft nicht nur Deutschlands reflektierte, für eine sich wissenschaftlich gebende Ideologieproduktion aktualisiert, mit Hilfe derer unüberwindliche Klassenschranken in die Gesellschaft eingezogen werden sollen, trifft jedoch nicht minder zu. Entsprechende Kontinuitäten durch den schlichten Verweis darauf zu bestreiten, daß die Sachwalter einer biologisch legitimierten, in gesellschaftliche Mechanismen der Sanktion und Gratifikation übersetzten Anthropologie der unterschiedlichen Eignung und Befähigung der Menschen ja keinen Massenmord begingen, ist ein vordergründiger Winkelzug, um den prinzipiell eliminatorischen Charakter einer solchen Weltanschauung zu verbergen.

Gerne vergessen wird an einer solchen Stelle, daß im kapitalistischen Weltsystem täglich Zehntausende Menschen verhungern, verdursten, an vermeidbaren Krankheiten umkommen, an aus Not und Elend geborener Gewalt vergehen, Opfer von Kriegshandlungen werden oder bei dem vergeblichen Versuch sterben, sich Zugang zur materiellen Sicherheit der EU oder USA zu verschaffen. Diese Menschen leben vorzugsweise in den Ländern des Südens und werden in ihrer immer aussichtsloser erscheinenden Lage anhand des Vorwurfs, willkürlich auf ihrer Lebens- und Produktionsweise, auf ihrem Glauben und ihrer Kultur zu bestehen, bezichtigt, selbst an ihrer Misere schuld zu sein. Daß sie ihre Situation zu einem Gutteil den aggressiv durchgesetzten Verwertungsinteressen der reichen Industriestaaten zu verdanken haben, soll durch das neoliberale Primat der Eigenverantwortung vergessen gemacht werden.

Von den Legitimationskonstrukten dieses global entuferten Klassenverhältnisses nimmt Sarrazin sich, was ihm gerade zupaß kommt. Einerseits behauptet er, die Menschen seien zu borniert, um ihre desolate sozialökonomische Lage zu überwinden, für die natürlich keine gesamtgesellschaftlichen oder systemrelevanten Gründe verantwortlich gemacht werden sollen. Andererseits legt er sie auf ihre angebliche Delinquenz fest, indem er die genetische Herkunft zum Schicksal erklärt. Jedem von seiner Ausgrenzungdoktrin Betroffenen, also auch dem hierzulande geborenen Erwerbslosen, streitet er die Autonomie ab, auf seine Art und Weise zu leben und dem Verwertungsprimat nicht zu genügen. Er hat sich der Herrschaft derjenigen zu unterwerfen, die sich aufgrund ihrer familiären Herkunft, ihrer humangenetischen Ausstattung oder ihres Kapitals einen Platz unter den globalen Eliten verschafft haben.

Es besteht mithin kein Grund für den Generalsekretär des Zentralrats, seinen Vergleich zu bedauern, und wenn er es auch, wie er erklärt, tut, weil sein vermeintlicher Fehltritt Sarrazin im Endeffekt nützt. Daß Wolffsohn den "Konvertit Kramer" auf den Topf setzt, irgendwie doch kein vollwertiger Jude zu sein, dokumentiert aufs deutlichste, wes Geistes Kind sein Bekenntnis zur Demokratie ist. Zuletzt in größerem Ausmaß in Erscheinung getreten ist der Bundeswehrprofessor vor fünf Jahren mit einem Plädoyer für den Einsatz von Folter gegen "Terroristen" und die Rechtfertigung "präventiver" Gewaltakte gegen Palästinenser. Hier schließt sich der Kreis einer Suprematie, die dem Menschen zum Preis seines Lebens alles austreiben will, was ihn zu einem unvollkommenen, bedürftigen und widersprüchlichen Wesen macht. Die räuberische Immanenz seiner Anpassung an die Natur zu bestreiten kann nur von diesem Ausgangspunkt aus geschehen. Demgegenüber zielt der Anspruch biologischer und gesellschaftlicher Perfektion auf die Zementierung einer sozialdarwinistischen, stets zu Lasten anderer gehenden Überlebensordnung ab.

13. Oktober 2009