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HERRSCHAFT/1428: Welches "Europa"? Mehr Mut zur eindeutigen Positionierung (SB)



Wie hält es die Linke mit Europa? Die Gewissensfrage, die den Europaparteitag der Linkspartei am Wochenende in Essen, so man den Mehrheitsmedien glauben will, bestimmt hat, wird aus gutem Grund auf plakative, um nicht zu sagen demagogische Weise in den Vordergrund einer Debatte gerückt, in der es lediglich um die Frage des Umgangs der Linken mit dem Lissabon-Vertrag geht. Wie sich an den Abstimmungsergebnisse bei der Auswahl der Kandidaten zu den Wahlen zum EU-Parlament gezeigt hat, ist die Partei in der Ablehnung dieser Reform weit geschlossener, als ihr allgemein attestiert wird. Die EU-Abgeordneten André Brie und Sylvia-Yvonne Kaufmann fielen bei den Delegierten für eine erneute Aufstellung durch, so daß an ihrem Beispiel deutlich gemacht wurde, wie linke EU-Politik nicht aussehen soll. Dafür gelangte mit dem engagierten Antimilitaristen Tobias Pflüger ein Vertreter der Bewegungslinken erneut auf einen aussichtsreichen Listenplatz.

Die in der bürgerlichen Presse aufgebauschten innerparteilichen Streitpunkte fielen keineswegs so sehr ins Gewicht, daß sich ein tiefer Graben zwischen Befürwortern und Gegnern der EU quer durch die Linke zöge. Sie sind viel mehr Ausdruck der momentanen Schwäche des Reformflügels, der vergeblich versucht, mit der Ideologisierung dieser Frage Ressentiments auf den Plan zu rufen, mit der jegliche Grundsatzkritik an der EU unter Verdacht nationalistischer Ambitionen gestellt werden kann. Die Linke geht gestärkt aus dem Parteitag hervor, da sie das Alleinstellungsmerkmal, als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien gegen die neoliberale und bellizistische Ausrichtung der Europäischen Union zu Felde zu ziehen, weitgehend gegen die dagegen gerichtete Polemik nach innen wie außen verteidigen konnte.

Angesichts der dogmatischen Linie, mit der die Berliner Regierungsparteien sowie FDP und Grüne die Stärkung der EU als global aufgestellten Akteur, der seine imperialistischen Ansprüche im Zweifelsfall auch mit militärischen Mitteln durchsetzt, vorantreiben, liegt es auf der Hand, daß die Linke auf diesem Feld erhebliche Zustimmung erhalten kann. Indem sie die Probleme, die die kapitalistische Globalisierung schafft, auf der Ebene der EU anspricht und deutlich macht, daß dort Weichenstellungen von schwerwiegender negativer Konsequenz gerade für weniger privilegierte Bundesbürger vollzogen werden, aktualisiert sie die bislang angesichts der Weltwirtschaftskrise unterentwickelte Debatte um die gesellschaftliche Zukunft der Bundesrepublik und der EU. Gerade jetzt wäre vonnöten, anstelle des eilfertig erbrachten Nachweises der Politik- und Regierungsfähigkeit mit klaren Positionen in die Arena zu ziehen, um anhand der daraus resultierenden Polarisierung unmißverständlich zu demonstrieren, wofür und wogegen die Linke steht.

Auch deshalb ist die Frage danach, worum es sich bei "Europa" handelt, überaus bedeutsam und kann nicht auf den simplen Gegensatz zwischen nationaler Restauration und supranationalem Aufbruch reduziert werden. Ihre darüber hinausgehende Relevanz ergibt sich zum einen aus der Funktion der EU als Transmissionsriemen zur Durchsetzung herrschender Interessen mittels gouvernementaler Praktiken, die durch die schiere Komplexität des administrativen Prozederes und die Demokratieferne abstrakter Partizipationsmodelle wie des EU-Parlaments und exekutiver Organe wie der EU-Kommission zu Lasten der davon betroffenen Bevölkerungen gehen. Nicht umsonst werden eine Kapitalinteressen begünstigende Rechtsprechung, die unkontrollierte Entscheidungsgewalt von Expertengremien etwa im Sicherheitsbereich oder die Einflußnahme transnational organisierter Wirtschaftsinteressen und administrativer Parallelstrukturen wie die der NATO beklagt.

Zum andern resultiert die Bedeutung der Frage nach Europa aus der strategischen Aufstellung der EU im kapitalistischen Weltsystem, mit der imperialistische Interessen global projiziert und reziprok auf die Produktions- und Herrschaftsverhältnisse in den EU-Gesellschaften reflektiert werden. Gerade dort, wo Europa im Spannungsfeld kontinentaler Großmächte Gestalt annimmt, erweist sich die EU als aufaddierte Summe nationalstaatlich definierter Expansionsinteressen, die die Unterstellung, mit der Bildung eines suprastaatlichen Ordnungsrahmens überwinde man die Aggressivität nationaler Interessen, Lügen straft.

Losgelöst von der herrschenden Vergesellschaftungs- und Verwertungsform und der sich daraus ergebenden Widerspruchslagen ist "Europa" eine zweckdienliche Leerstelle, deren Einsatz als Mittel zur Erzwingung von Zustimmung oder Anprangerung von Ablehnung um so mehr Anlaß dazu bietet, die Konzentration governementaler Verfügungsgewalt in demokratisch unzureichend legitimierten Händen in Frage zu stellen. Wie sollte man für oder gegen "Europa" sein, wenn dieser Begriff je nach Interessenlage geographisch, geostrategisch, kulturgeschichtlich, staatspolitisch oder ideologisch gemeint ist? So lange die Frage, welches Europa die Menschen, die diesen Kontinent bevölkern, sich wünschen, zugunsten dezisionistischer Willkür ungestellt bleibt, besteht keine Not, durch vorauseilenden Gehorsam zu vermeiden, daß man auf dem vermeintlich falschen Fuß erwischt wird. Wenn die Linke die Souveränität besitzt, ihre Opposition gegen sozialfeindliche und militaristische Politik anhand der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Verfaßtheit der EU zu entwickeln, könnte die Europawahl zur Besinnung auf jene emanzipatorischen Werte genutzt werden, für die sie als sozialistische Partei einzutreten beansprucht.

5. März 2009