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HEGEMONIE/1837: Das Wesen der Schuld ... (SB)



Haben die Menschen nicht größere Probleme als die Frage zu stellen, wer schuld an ihrem Verhängnis sei? Geht es wirklich darum herauszufinden, wer mehr Verantwortung für die Entstehung katastrophaler Entwicklungen trägt? Bringt der Vergleich destruktiver Potentiale etwas anderes hervor als die weitere Kumulation von Zerstörung und Vernichtung? Siegt die Moral der Herrschenden über die Befreiung von den Fesseln jeglicher Herrschaft? Fragen wie diese mögen naiv wirken, doch ihre Bearbeitung könnte dazu beitragen, den Verlauf desaströser Ereignisse besser zu verstehen und sie vielleicht in Zukunft ganz zu vermeiden.

Die kausale Struktur jeglicher Bezichtigung unterstellt einen Beginn, an dem die Ursache entstandener Schäden zweifelsfrei dingfest zu machen wäre. Worauf sonst sollte die Frage nach der Schuld abzielen als darauf, zu einem unanfechtbaren Urteil über die jeweils Schuldigen zu gelangen, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können? Was in den Rechtssystemen moderner Gesellschaften alltägliche Praxis ist, bedient sich genau definierter Normen, die nur unter Ausschluss zahlreicher Bedingungen zu dem Ergebnis eindeutig festgestellter Schuldhaftigkeit führen können. So gelten Menschen mit eingeschränkter Intelligenz, in neurotoxischen Ausnahmezuständen, mit psychischer Erkrankung oder auf andere Weise als "unzurechnungsfähig" disqualifziert als vermindert oder gar nicht schuldfähig. Der Katalog von Kriterien, aufgrund derer Menschen keine Rechtssubjekte sein können, wiederum spiegelt gesellschaftliche und kulturelle Wertsetzungen, die von Rechtssystem zu Rechtssystem anders ausfallen können.

Die Rechtswissenschaften verfolgen kein ethisches Anliegen wie etwa die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, sondern untersuchen die formale Anwendung juristischer Konventionen nach Maßgabe eines Gesellschaftsvertrages, dessen UnterzeichnerInnen seiner strafenden Gewalt ausgesetzt sind. Während der Ruf nach Gerechtigkeit im Moralischen gründelt und in Religion und Weltanschauung beheimatet ist, basiert die gerichtliche Feststellung einer Schuld auf einem Normenkatalog, der zum Schutz der jeweiligen Herrschaftsordnung vor anarchischer Gewalt seinen inneren Zweck findet. Kurz gesagt, die Beantwortung der Schuldfrage ist ein soziales Verhältnis, das eingebettet in die jeweiligen Vergesellschaftungsformen bei aller Bemühung um die Erwirtschaftung universaler Prinzipien von verschiedensten Faktoren in die eine oder andere Richtung getrieben wird.

So erweist sich die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte als ein ideelles Unterfangen, das als bloßer Anspruch dazu geeignet ist, das gleichzeitige Auftreten grassierenden Hungers und überbordenden Reichtums zu legitimieren und damit zu zementieren. Allen Menschen universale Rechte zu gewähren kann als Index der Vergeblichkeit gelesen werden, doch kann die Nichteinlösung derartiger Rechtsansprüche auch dazu dienen, ihre kriegerische Durchsetzung partikularen Interessen ganz anderer Art zu unterwerfen.

Dazu analog findet das Vertragssystem internationalen Rechts bei verschiedenen Kriegsszenarios auf höchst unterschiedliche Weise Anwendung. Den dabei ums Leben kommenden und in ihrer körperlichen Gesundheit beeinträchtigten Menschen hilft die Gewissheit, zumindest theoretisch einen Rechtsanspruch auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit zu genießen, kaum weiter, selbst wenn es in Einzelfällen zu Kompensationsleistungen durch der Täterschaft überführte Regierungen kommt. Weit häufiger anzutreffen ist die Praxis, dass das Gewaltverbot der UN-Charta höchst selektiv durchzusetzen versucht wird, was wiederum kriegerische Gewalt auf den Plan rufen kann, deren Auswirkungen möglicherweise verheerender sind als die des originären Anlasses zur militärischen Friedenssicherung.

Die Ökonomie des Neoliberalismus ist eine subjektive Ökonomie, d. h. eine Ökonomie, die Prozesse der Subjektivierung beeinflusst und produziert, welche nicht mehr auf dem klassischen Modell eines tauschenden und produzierenden Menschen beruht. (...) Die sich überstürzenden Finanzkrisen haben nun jedoch eine andere Verkörperung des zeitgenössischen Kapitalismus in den Vordergrund gerückt, die subjektive Figur des "verschuldeten Menschen".
Maurizio Lazzarato - Die Fabrik des verschuldeten Menschen [1]


Internationales Recht für alle fast gleich

Der historische Fortschritt der Etablierung einer Nachkriegsordnung, die mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 eine Ära rechtsförmiger internationaler Beziehungen eingeleitet hat, in der sich die Staaten als personalisierte Rechtssubjekte auf Augenhöhe entgegentreten und ihre Differenzen friedlich begleichen, bedarf bis heute der tätigen Durchsetzung. Das Problem an der vertraglichen Regulation zwischenstaatlicher Gewalt besteht häufig darin, dass die daran beteiligten Regierungen nach Mitteln und Wegen suchten, die Interessen ihrer wichtigsten Akteure in Industrie und Finanzwirtschaft auch ohne militärische Gewaltanwendung zum Nachteil davon betroffener Bevölkerungen durchzusetzen. Oder es werden Rechtskonstrukte wie Responsibility to protect (R2P) in eine Art Gewohnheitsrecht überführt, um kriegerische Interventionen flexibler legitimieren zu können, ohne jemals in den Stand verbindlichen Völkerrechts gelangt zu sein. Insbesondere kolonial ausgebeutete Länder des Globalen Südens, die ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung in zum Teil langwierigen Aufständen und Kriegen erkämpfen mussten, nur um sich im globalisierten Kapitalismus wiederum in der verarmten und verelendeten Peripherie wiederzufinden, ziehen in der Hierarchie geteilter Verantwortung Internationalen Rechts häufig den kürzeren.

Zweifellos kann die rechtliche Sachlage im gegenwärtigen Staatenkrieg auf europäischem Boden eindeutig bestimmt werden. Den Überfall der russischen Streitkräfte auf das gesamte Gebiet der Ukraine in seiner Rechtswidrigkeit dadurch zu relativieren, dass trotz eines laufenden internationalen Verhandlungsprozesses Angriffe auf die zwei ostukrainischen Volksrepubliken erfolgt sind, oder dass die Sprachpolitik der ukrainischen Regierung die Verwendung des Russischen systematisch eingeschränkt hat, übergeht die Zuständigkeit der Vereinten Nationen für die Befriedung kriegerischer Konflikte zwischen Staaten oder Staaten und sezessionistischen Regionen. Selbst bei einer Beschränkung des Einmarsches russischer Streitkräfte auf das Gebiet der ostukrainischen Volksrepubliken wäre es formalrechtlich möglich gewesen, Russland als Aggressor zu verurteilen und friedenssichernde Maßnahmen per UN-Beschluss einzuleiten.

Was die moralische Verantwortung für diesen Krieg betrifft, kann Russlands alleinige Schuld zumindest insofern in Frage gestellt werden, als die geopolitische Dynamik des andauernden Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine Bedingungen geschaffen hat, die einen Angriffskrieg der Regierung in Moskau begünstigt haben. EU, USA und NATO verfolgen in Osteuropa Hegemonialinteressen, die sich gegen Sicherheitsinteressen Russlands richten, wie in zahlreichen zwischenstaatlichen Verhandlungen und politischen Reden dokumentiert. Sich darauf zu berufen, wie es Russlands Präsident Wladimir Putin kurz vor Erteilung des Angriffsbefehls getan hat, ändert am Sachverhalt des durch diese Aggression begangenen Bruches Internationalen Rechts dennoch nichts, denn es wäre Sache der Vereinten Nationen, den Konflikt mit friedenssichernden Maßnahmen und Verhandlungsprozessen zu entschärfen.

Gleiches sollte bei Rechtsbrüchen durch NATO-Staaten oder die USA der Fall sein. Die von diesen Kriegsakteuren angezettelten Angriffe auf Jugoslawien, Afghanistan, den Irak und Libyen, um nur einige herausstechende Beispiele zu nennen, wurden niemals auf vergleichbare Weise rechtlich verfolgt, wie aktuell im Falle der gegen den Präsidenten Russlands durch den Internationalen Strafgerichtshof und das deutsche Völkerstrafrecht eingeleiteten Ermittlungen. Keine der für die Kriegführung der NATO-Staaten zuständigen Regierungen wurde jemals auf eine solche Weise zur Rechenschaft gezogen. Wenn Kriegsakteure wie die USA dafür sorgen, dass ihre SoldatInnen in dem von diesen angegriffenen Land Immunität vor Strafverfolgung zugesichert bekommen, dann sicherlich nicht, weil es sich dabei um einen überflüssigen Freibrief für das Begehen von Menschenrechtsverletzungen handelt.

Wer geltend macht, dass die Institutionen Internationalen Rechts aufgrund ihrer Abhängigkeit von bestimmten staatlichen Akteuren oder deren Weigerung, ihre Zuständigkeit anzuerkennen, nicht über ausreichende Jurisdiktion in der Sache verfügen, kann daraus dennoch keine Legitimation eigenmächtiger Vergeltung ziehen. Es gilt der Primat Internationalen Rechts nicht für alle gleich, sondern für einige gleicher, wie sich beim Ausbau der globalen Judikative gezeigt hat. Wenn Strafverfahren gegen Regierungsmitglieder afrikanischer Staaten eingeleitet werden oder ein jugoslawischer Präsident während des Angriffs der NATO auf sein Land strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt wird, während kein Staats- und Regierungschef eines NATO-Staates jemals derartige Rechtsmittel zu fürchten gehabt hätte, dann kommen im Internationalen Recht hegemoniale Interessen weit mehr zur Geltung als ein universaler Rechtsanspruch.

Für den neoliberalen Machtblock sind Schulden ein Werkzeug des Klassenkampfes, denn bei den Schulden handelt es sich um das am aller weitesten deterritorialisierte und verallgemeinerte Machtverhältnis - ein transversales Machtverhältnis ohne Grenzen und ohne Staaten, ohne Dualismen der Produktion (aktiv/nichtaktiv, berufstätig/arbeitslos, produktiv/unproduktiv) und ohne Unterscheidungen zwischen Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Die Schulden agieren auf einem instantanen und planetarischen Niveau, durchqueren alle Bevölkerungsschichten und assistieren der "ethischen" Fabrikation des verschuldeten Menschen.
Maurizio Lazzarato - Die Fabrik des verschuldeten Menschen [2]


Neu formiert in zivilisatorischer Mission

Was wenn sich staatliche wie nichtstaatliche Akteure über die rechtliche Einhegung ihres Tun hinwegsetzen und die Machtfrage mit militärischen Mitteln beantworten? Ist der vielbeschworene Nomos zivilisatorischer Entwicklung nicht längst der Anomie rücksichtsloser Gewaltanwendung gewichen? In der Geschichte der Reiche und Staaten war blutiges Kräftemessen die Regel, und die als dessen Ergebnis herausgebildeten Imperien währten bei aller Beschwörung ihrer Dauer niemals ewig. Einzig der soziale Widerstand der davon betroffenen Menschen führte auf lange Sicht zur Herausbildung bürgerlicher Gesellschaften, die das Feld der Ökonomie zum primären Austragungsort zwischenstaatlichen Machtstrebens erklärten. Doch gerade das sprunghafte Wachstum kapitalistischer Staaten mündete in Kriege von einer Zerstörungskraft, für die alle Register technologischen Fortschritts gezogen wurden. Die große Bedeutung rüstungsindustrieller Innovationen für die zivile Güterproduktion hat mit sich gebracht, dass die Fähigkeit Krieg zu führen ein nationales Leistungsmerkmal erster Ordnung darstellt, wie die arte-Dokumentation "Die Erdzerstörer" auf bedrückende Weise vor Augen führt [3].

Nicht allein, dass die Schuldfrage für die jeweils schwächere Seite durch die anhaltende Durchsetzung oder die Vertiefung ausbeuterischer Beziehungen beantwortet wurde, in der Epoche des Neoliberalismus wurde die bei aller neokolonialen Expansion und technologischen Produktivitätssteigerung nicht beherrschbare Krise des Kapitals zum Prinzip der Verschuldung ganzer Bevölkerungen verallgemeinert. Was heute als Reichtumskonzentration kleiner Eliten auf der einen und massenhafte Armut auf der anderen Seite manifest wird, wobei dieser Klassenantagonismus in der globalen Topologie zwischen Zentrum und Peripherie besonders ausgeprägt ist, entgrenzt das Prinzip einer ökonomischen Schuld, deren notwendiges Äquivalent in Form durch Arbeit geschaffener Güter gegenüber den Massen von Zentralbanken geschaffenen und an den Finanzmärkten fungierenden Geldes weit zurückgefallen ist, zu einer Conditio humana.

Während sich diese Geldmengen auf den Warenmärkten längst nicht mehr realisieren lassen und zur Expansion von Eigentumstiteln und Zahlungsversprechen von immaterieller Art wie Schuldendienst, Lizenzgebühren, Grundrente, Steuern oder Miete führen, erweist sich die Funktion des damit fiktiv gewordenen Kapitals immer deutlicher als Herrschaftsmittel. Da dem Kapital gleichgültig ist, wie es sich verwertet, wenn dies nur erfolgreich getan wird, greift es nach jeder Differenz und setzt sie in Wert. Da der durch Arbeit geschaffene Mehrwert längst durch ein Vielfaches an fiktivem Kapital entwertet wurde und die Reproduktion der Arbeitskraft immer prekärer wird, münden die durch Geld bestimmten Beziehungen zwischen Menschen in gesteigerte Konkurrenz, Atomisierung und Entfremdung.

Wo sich Geld durch die Unerfüllbarkeit vorhandener Bedürfnisse bei aggressiver Inwertsetzung allen Lebens auszeichnet, wird nicht nur der mühsam hochgewuchtete Stein, der von der Spitze des Hügels immer wieder herabrollt, bis auf eine Murmel abgerieben, sondern auch die dazu aufgewendeten Kräfte schwinden. Unter dem Strich bleibt nichts als anwachsender Verbrauch und der Schmerz der Ohnmacht, den aus Ausbeutung und Unterdrückung aufsummierten Verlusten nichts entgegenzusetzen zu haben. Dass eine Eigentumsordnung als Ergebnis anwachsender Produktivität und Effizienz kriegerische Eskalationen hervorbringt, liegt im objektiven Wachstum von Unwerten wie entsorgungspflichtigen Nebenprodukten, psychosozialem Zerfall, brandbeschleunigter Aufheizung der Atmosphäre begründet.

Zwischenstaatliche Konflikte richten sich, heruntergebrochen auf das individuelle Subjekt, auch gegen dessen politische und soziale Autonomie. Der dagegen gerichtete Widerstand scheitert häufig daran, dass die anwachsende Verschuldung ganzer Bevölkerungen in ihrem Zwangscharakter aufgrund des hohen Abstraktionsgrads geldförmiger Tauschprozesse nicht durchschaut wird. So selbstverständlich körperliche Arbeit zum Lebenserhalt war, so wenig verweist die klassische Subsistenzproduktion auf den Warencharakter moderner Lohnarbeit und die Entfremdung der ProduzentInnen von den Produktionsmitteln. Wo der fordistische Industriekapitalismus mit hoher, durch Lohnarbeit erwirtschafteter Mehrwertrate heute nostalgisch verklärt wird, obwohl er aus gutem Grunde von der revolutionären Linken bekämpft wurde, treibt der finanzialisierte Kapitalismus, in dem Wert über Kreditvergabe und Verschuldung akkumuliert wird, zahlreiche Menschen in die Arme populistischer Ideologien oder autoritärer Herrschaftsformen.

Schuld hat immer der andere, und alle rechtliche Aufarbeitung daraus resultierender Raub- und Gewaltakte bestätigen die staatliche Ordnung, die die Verfügungsgewalt über Geld organisiert und damit das Leben der Menschen ihnen fremden Zwecken unterwirft. In der tödlichen Umklammerung des Krieges ist das Ausmaß des Scheiterns so total geworden, dass gegenseitiges Aufrechnen in immer neue Ströme vergossenen Blutes mündet. Die Befreiung von Schuld, ob ökonomisch oder moralisch, setzte eine Emanzipation von jeder Form der Aneignung und Ausbeutung voraus, die im Horizont sozialdarwinistischer, kapitalistischer, patriarchaler und imperialer Logiken nicht gelingen kann.


Vergessene Kriege

Wenn der Anspruch erhoben wird, statt Waffen Worte sprechen zu lassen, dann setzt das die Anerkennung der anderen Seite als rationalen Akteur voraus. Die Führung eines gegnerischen Staates zu pathologisieren oder ihre Bevölkerung mit diskriminierenden Verallgemeinerungen zu überziehen ist vor allem dazu geeignet, die eigene Vormachtstellung auszubauen. Die humanitären Absichten der Angriffskriege des Wertewestens in ihrer geostrategischen Zielsetzung zu dechiffrieren war niemals besonders schwierig, da der vermeintliche Widerspruch zwischen moralischem Furor und materiellem Eigeninteresse spätestens im Ergebnis in eins fiel. So stehen der beanspruchten Erwirkung des Schutzes vulnerabler Minderheiten oder der Durchsetzung von Freiheit und Demokratie häufig Zerstörungsakte im Weg, die verschlimmern, was im ersten Schritt gelindert werden sollte. Hinzu kommen Bündnisse mit Diktaturen und Autokratien, die sich nur dadurch legitimieren lassen, dass sie den eigenen Zwecken dienlich sind. Wo der Umgang mit missliebigen Gruppen oder konkurrierenden Staaten alle Verhältnismäßigkeit sprengt, wie im Falle des Krieges im Jemen, ist keine Distanz groß genug, um die Spur des Blutes nicht verfolgen zu können.

Im Süden der arabischen Halbinsel führt das von den USA unterstützte und aufgerüstete Königreich Saudi-Arabien einen blutigen Stellvertreterkrieg, der sich eigentlich gegen den Iran richtet. Dabei sind bislang 377.000 meist zivile Kriegsopfer zu beklagen. 75.000 Kinder unter 5 Jahren sind verhungert, 4 Millionen Menschen geflohen, und 2,5 Millionen leiden an einer der schlimmsten Cholera-Epidemien der modernen Geschichte. Dieser 2015 begonnene, von US-Präsident Barack Obama und seinem Vizepräsidenten Joe Biden mitzuverantwortende Krieg wurde in den NATO-Staaten nie auch nur annähernd auf gleiche Weise empathisch begleitet, wie der russische Angriff auf die Ukraine. Über diesen wurde schon am ersten Tag in den westlichen Medien mehr berichtet als über die Katastrophe im Jemen in den vergangenen sieben Jahren, in diesen 24 Stunden wurde die Entscheidung des Kreml von den Regierungen der NATO-Staaten lauter und entschiedener verurteilt als das Blutbad an der jemenitischen, vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung jemals.

Das postsozialistische Jugoslawien musste als Blockade EU-europäischer Integration ausgeschaltet werden, der Irak und Libyen drohten als regionale Akteure zu mächtig zu werden, Afghanistan sollte als strategisch bedeutsames Gebiet an den Grenzen Russlands und Chinas unter Kontrolle gebracht, Syrien als Verbündeter Russlands und des Irans in seine Schranken gewiesen werden, wobei die Beteiligung russischer Streitkräfte an diesem Krieg einer direkten Konfrontation mit den USA das Feld bereitet haben könnte. Wie autokratisch und verwerflich die Führungen dieser Staaten auch immer gehandelt haben, so leiden ihre Bevölkerungen bis heute mehr darunter, in den Trümmerwüsten imperialen Hegemoniestrebens leben zu müssen, als wenn es ihnen überlassen geblieben wäre, ihre politische Zukunft aus eigener Kraft heraus zu bestimmen.

Was Russlands Präsident Putin zur Begründung des Angriffs auf die Ukraine ins Feld geführt hat, unterscheidet sich insofern von der Freiheits- und Menschenrechtsrhetorik westlicher Regierungen, als er aus den nationalen Zielsetzungen dieses Krieges keinen Hehl macht. Die von ihm seit Jahren geltend gemachten Sicherheitsinteressen lassen die Behauptung, Putin habe die NATO-Staaten systematisch hinters Licht geführt, da die Eroberung der Ukraine längst beschlossene Sache gewesen wäre, als der Kreml noch mit westlichen Regierungen über eine Konfliktlösung verhandelte, als fragwürdig erscheinen. Wäre der Angriff auch erfolgt, wenn das von der NATO verlangte Zugeständnis, einen Beitritt der Ukraine zum Nordatlantikpakt dauerhaft auszuschließen, noch in letzter Minute erfolgt wäre? Das kann niemand mit Sicherheit wissen, so dass die Unterstellung einer nicht mehr von außen beeinflussbaren Entscheidung zum Kriege auch dazu dient, die Verantwortung der NATO-Staaten für den Lauf der Dinge zu relativieren.


Nationalmythos versus Internationalismus

Auch die Ausführungen Putins zur nationalen Geschichte der Ukraine im Kontext der Bildung der Sowjetunion lassen sich nicht einfach als "Wahnsinn" abqualifizieren. Sie sind so kritikwürdig und zweckrational wie die Äußerungen von Staats- und Regierungschefs in aller Welt, wenn Fragen nationaler Zugehörigkeit, militärischer Gewaltanwendung oder historischer Identitätsbildung zum Zwecke der Legitimation aggressiven und repressiven Regierungshandelns beantwortet werden.

Indem Putin die Nationalitätenpolitik Lenins für die eigenstaatlichen Ambitionen der Ukraine ursächlich verantwortlich macht, gibt er sich als Fürsprecher eines starken Zentralstaates und Restaurator russischer Gebietsansprüche nicht der Sowjetunion, sondern des durch sie abgelösten Zarenreiches zu erkennen. Die Frage, ob Lenin die von Putin in seiner Rede vom 21. Februar kritisierten "Vorstellungen von einer im wesentlichen konföderativen Staatsstruktur und die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker bis hin zur Sezession" [4] aus pragmatischen Gründen angesichts des noch fragilen Projektes der jungen Sowjetunion oder als ideologische Prämisse des Internationalismus vertreten hat, ist nicht sein Problem, berührt aber die so wichtige Frage der Bedeutung nationaler Selbstbestimmung für die ursprünglich auch von den KommunistInnen des Roten Oktobers beanspruchte Überwindung jeglicher Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis.

1914 soll Wladimir I. Lenin in einem Vortrag zum Thema "Krieg und Sozialdemokratie" erklärt haben: "Die Ukraine ist für Russland das geworden, was Irland für England war, sie wurde schonungslos ausgebeutet und erhielt nichts dafür". In der Prawda vom 15. Juni 1917 kommentierte er die Forderung des Allukrainischen Armeekongresses nach relativer Autonomie ebenfalls mit gegen das zaristische Russland gerichteten Worten:

Hier wird ganz eindeutig erklärt, dass das ukrainische Volk sich im gegenwärtigen Augenblick von Russland nicht loslösen will. Es verlangt Autonomie, bestreitet aber keineswegs die Notwendigkeit und Obergewalt eines allrussischen Parlaments". Kein Demokrat, geschweige denn ein Sozialist, wird es wagen, die vollständige Berechtigung der ukrainischen Forderungen in Abrede zu stellen. Es kann auch kein Demokrat das Recht der Ukraine bestreiten, sich ungehindert von Russland zu trennen: gerade die vorbehaltlose Anerkennung dieses Rechtes allein gibt erst die Möglichkeit, für den freien Bund der Ukrainer und Großrussen, für die freiwillige Vereinigung der beiden Völker zu einem Staate zu agitieren. Gerade die vorbehaltlose Anerkennung dieses Rechtes allein ist imstande, wirklich, unwiderruflich, restlos mit der verfluchten zaristischen Vergangenheit zu brechen, die alles getan hat, um die ihrer Sprache, ihrem Wohnsitz, ihrem Charakter und ihrer Geschichte nach so nahe verwandten Völker gegenseitig zu entfremden. Der verfluchte Zarismus machte die Großrussen zu Henkern des ukrainischen Volkes, züchtete in diesem mit allen Mitteln den Hass gegen jene, die selbst den ukrainischen Kindern verboten, ihre Muttersprache zu sprechen und in ihr zu lernen.[5]

Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Machno-Bewegung, die zwischen 1918 und 1921 für eine anarchistische Ukraine kämpfte, über bis zu 50.000 KämpferInnen verfügte und in ländlichen Regionen selbstverwaltete Kommunen gründete. Die Machno-Bewegung führte einen gegen die deutschen und österreichischen Besatzungstruppen wie die konterrevolutionäre Weiße Armee gerichteten Bewegungskrieg, wurde aber ihrerseits im Konflikt mit der sowjetischen Zentralregierung durch die Rote Armee unter dem Kommando Leo Trotzkis zerschlagen. Konflikte wie diese haben in der Ukraine wie in Russland eine sozialrevolutionäre Tradition begründet, die sich gegen die gewaltsam durchgesetzte Zentralisierungs- und Modernisierungspolitik der Bolschewiki stellte und an die antiautoritäre Bewegungen bis heute anknüpfen.

Für die das Vermächtnis der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) revidierende Politik des russischen Staatschefs ist vor allem von Belang, dass er den föderativen Charakter der Sowjetunion als großen Fehler betrachtet. Sie hatte eine Ukraine zum Ergebnis, die er unter dem Titel "Wladimir-Iljitsch-Lenin-Ukraine" als bloßes Konstrukt verwirft und damit in ihrem Anspruch auf Eigenstaatlichkeit negiert. Dies mündet in die Ankündigung, es nicht, wie in der Ukraine geschehen, beim Abriss von Lenin-Denkmälern zu belassen, sondern die Überwindung des Kommunismus dort aktiv zu vollenden: "Wir sind bereit, ihnen zu zeigen, was echte Dekommunisierung für die Ukraine bedeutet." [6]

Um den Angriff auf die Ukraine historisch zu rechtfertigen, soll auch die Ideologie des Eurasismus relevant sein, die in Russland vor allem von dem neurechten Politiker, Philosophen und Publizisten Alexander Dugin vertreten wird. Sie hat auf den autoritären Etatismus der westeuropäischen Rechten eine gewisse Wirkung entfaltet, wie sich in der Bundesrepublik anhand der AfD oder der von einem ehemals antinationalen linken Journalisten herausgegebenen neurechten Zeitschrift Compact belegen lässt. Zu wissen, wie groß der Einfluss Dugins auf den Kreml tatsächlich ist, bedarf der genaueren Untersuchung. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass ideologisch fest in der Staatsräson verankerte Politikberatung zu einem regelrechten Inkubator exekutiver Ideen aufsteigt, wie die neokonservativen Institute und VordenkerInnen in den USA und deren Bedeutung für den Globalen Krieg gegen den Terrorismus belegen. [7]

Der Antikommunismus Putins macht ihn zu einem Bruder im Geiste kapitalistischer Herrschaft, weshalb die Begriffswahl "Neuer Kalter Krieg" als Titel für den Konflikt zwischen Russland und NATO schlecht gewählt ist, unterstellt er doch das direkte Anknüpfen des Regierungshandelns im Kreml an die Sowjetunion. Dass die Relikte der Sowjetunion den vermeintlichen Siegern im Systemwettstreit nicht wie reife Früchte in den Schoß fielen, sondern ein neues Kapitel imperialer Konkurrenz aufgeschlagen wurde, hat die Person des Langzeitpräsidenten Putin zum Dauerärgernis unter den Funktionseliten der EU und USA gemacht.


Tödlicher Gesinnungsvorwurf

In der Schwarz-Weiß-Logik ideologisch sortierter Feindbilder kann es nicht erstaunen, dass Wladimir Putin vor allem in der globalen Rechten auf Sympathien stößt. Wo der neoliberale Kapitalismus die Welt zum Markt erklärt und an und für sich emanzipatorische Entwicklungen wie die Aufhebung des binären Geschlechterverhältnisses oder den Kampf gegen Rassismus für die Zementierung kapitalistischer Herrschaft missbraucht, trommelt der nationale Chauvinismus der Trump, Bolsonaro, Erdogan und Modi für eine Rückkehr zur ethnisch reinen Nation, zu patriarchalen Geschlechterverhältnissen, zu orthodoxer Religiosität, alles selbstverständlich im Rahmen einer bürgerlich-feudalkapitalistischen Kleptokratie und Klassengesellschaft.

Auch wenn die radikale nationalistische Rechte in der Ukraine über eine soziale Infrastruktur wie in kaum einem anderen EU-europäischen Land verfügt [8], entbehrt das Ziel des Krieges, die Ukraine zu "denazifizieren", nicht nur angesichts der Präsenz rechtsradikaler Kräfte auch in der russischen Gesellschaft an Glaubwürdigkeit. Erst 2021 empfing der führende rechtsradikale Politiker in der Staatsduma und Vorsitzende der Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR), Wladimir Schirinowski, den Vaterlandsverdienstorden I. Klasse für die Stärkung der russischen Staatlichkeit und die Entwicklung des Parlamentarismus aus der Hand des russischen Präsidenten. Wie in der Ukraine gibt es in Russland Neonazis, die sich positiv auf Adolf Hitler beziehen und mit rassistischen und sexistischen Ausfällen rechtspopulistische Stimmung machen, ohne mit vergleichbarer Intensität verfolgt zu werden wie die gegen Putin gerichtete Opposition. Allein die massive Unterdrückung der russischen KriegsgegnerInnen und die harte Bestrafung der Verwendung von Begriffen wie "Krieg" und "Invasion" für den Angriff auf die Ukraine stellt den staatlichen Antifaschismus in eine Tradition, die Wasser auf die Mühlen rechter Totalitarismustheorien ist.

Wer den ideologischen Maßstab an andere anlegt, sollte sich selber prüfen. Wo dies nicht geschieht, läuft die in Kriegszeiten häufig inflationäre Verwendung von NS-Vergleichen am ehesten darauf hinaus, die originär deutsche Verantwortung für den vernichtenden Überfall auf die Sowjetunion zu relativieren, was auch für die inzwischen häufig anzutreffende Gleichsetzung des russischen Präsidenten mit dem deutschen Diktator Adolf Hitler gilt. [9]

Ohnehin wird mit dem Ziel einer "Denazifizierung" zur Legitimierung eines Angriffskrieges in eine Kerbe geschlagen, die mit dem Vermächtnis aus dem Zweiten Weltkrieg "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" schändlich umgeht. Gerade weil es für den Vorwurf der russischen Regierung, in der Ukraine würden Kollaborateure der NS-Besatzer wie Stepan Bandera zwecks nationaler Identitätsstiftung an die Stelle der tatsächlichen AntifaschistInnen gesetzt, die gegen die deutschen Besatzer kämpften, stichhaltige Beweise gibt, wird dem antifaschistischen Anliegen mit "Denazifizierung" als Kriegsvorwand eher geschadet denn genützt. Dass diese staats- und geschichtspolitische Praxis der Ukraine in der Bundesrepublik wenig Beachtung findet, könnte mit der Parteinahme deutscher PolitikerInnen für neofaschistische AktivistInnen zu tun haben, die 2014 am Putsch gegen die prorussische Regierung beteiligt waren.

Angesichts der Anziehungskraft, die die Ukraine seit 2014 auf neofaschistische Kräfte in aller Welt zu haben scheint, läuft Präsident Selenskyj mit der Aufhebung aller Visabeschränkungen für Freiwillige, die sein Land verteidigen wollen, Gefahr, einen regelrechten Kriegstourismus unter kampfbereiten Rechtsradikalen auszulösen. Zu einer solchen Entwicklung ist es in den jugoslawischen Sezessionskriegen in Kroatien gekommen. Der ehemalige Ustascha-Staat und Verbündete des NS-Regimes war zum Anziehungspunkt zahlreicher Neonazis geworden, die dort Kampferfahrungen im Krieg gegen serbische Kombattanten machen konnten. Was Selenskyj in seiner bedrängten Lage ebenso wenig zu verdenken ist wie die auf der Sicherheitskonferenz in München erfolgte Ankündigung, die Ukraine wieder atomar bewaffnen zu wollen, sollte bei äußeren Akteuren schon deshalb keine Resonanz erzeugen, weil auch dabei die Internationalisierung des Krieges droht.


Eurozentrische Empathie

In den NATO-Staaten hat der Ausnahmefall, dass eine kriegerische Aggression einmal nicht aus den eigenen Reihen vollzogen wird, zu einer Form auftrumpfender Selbstgerechtigkeit geführt, die den Eindruck erweckt, nun könne endlich blankgezogen werden, anstatt zu relativieren und zu beschwichtigen, um die eigene Verstrickung in die Katastrophe des Krieges nicht offenlegen zu müssen. Dazu gesellt sich eine Form des eurozentrischen Rassismus, die der Betroffenheit einer weißen Bevölkerung durch kriegerische Gewalt eine Sonderstellung zubilligt. So erklärte sich CBS News-Korrespondent Charlie D'Agata die eigene Betroffenheit über den russischen Angriff auf die Stadt Kiew mit den Worten, dass das ja kein Ort wie Irak oder Afghanistan wäre, wo derartige Ereignisse seit Jahrzehnten an der Tagesordnung seien. Nein, es handle sich um eine relativ zivilisierte, relativ europäische Stadt, wo man einfach nicht erwarte, dass so etwas geschehe, so D'Agata, der sich nach Protesten über seine Äußerungen öffentlich entschuldigte.

Dabei hatte der US-Journalist ein unter weißen WestlerInnen verbreitetes Ressentiment aufgegriffen, laut dem die Schmerzen des Krieges und der Ohnmacht erträglicher würden, wenn die Betroffenen die ganze Zeit damit konfrontiert sind. Der britische Journalist Daniel Hannan schrieb in der Tageszeitung Telegraph, das Schockierende an der Situation sei, dass die vom Krieg betroffene Bevölkerung "uns" so ähnlich sei, was bedeute, dass jeder mit Krieg konfrontiert werden könne, nicht nur "verarmte Bevölkerungen in entlegenen Gebieten". [10] Dementsprechend kündet die vielfach auch in deutschen Medien gefallene Behauptung, dies sei der erste Krieg in Europa seit 1945, von einer regelrechten kollektiven Amnesie, als hätten die jugoslawischen Sezessionskriege und der NATO-Angriff auf Jugoslawien mit ihren Zehntausenden Opfern niemals stattgefunden.


Hierarchie der Not

Nein, was diese Geschichtsvergessenheit vor allem befördert, ist die Tatsache, dass dieser Krieg nicht von einem NATO-Staat initiiert wurde, sondern einem strategischen Gegner des Militärbündnisses. Da schießen Gefühle ins Kraut, die völlig vergessen machen, dass noch vor wenigen Wochen Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten an der polnischen Grenze zu Belarus, wo eine 5,5 Meter hohe Grenzbefestigung zur Flüchtlingsabwehr errichtet wird, in einer für Hilfsorganisationen und JournalistInnen verbotenen Zone erfroren. Für das ukrainische "Brudervolk" wurde in Polen schon vor dem russischen Angriff Platz zur Aufnahme von Flüchtenden geschaffen, allerdings mit der zumindest anfänglich vollzogenen Einschränkung "Zutritt nur für Weiße", wurden afrikanische Studierende bei der Flucht aus der Ukraine doch nicht über die Grenze gelassen. [11]

Die nun in Westeuropa erfolgende Aufnahme von Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge, denen in Deutschland bereits ein Aufenthalt von drei Jahren zugesichert wurde und die alle Freizügigkeit bei der Wahl ihres Zielortes genießen, ist denn auch rundheraus zu begrüßen. Wieso also ertrinken Flüchtende seit Jahren im Mittelmeer, wieso müssen sie hohe bürokratische Hürden überwinden, um einen Asylantrag in der EU stellen zu können? Böswilliger Weise könnte behauptet werden, nicht nur der belarussische Machthaber Lukaschenko habe, wie es hieß, "Flüchtlinge als Waffe" eingesetzt, was Focus-Kommentator Thomas Jäger in der Überschrift mit der Behauptung ergänzte "Die Politik hat ignoriert, dass wir seit 2015 erpressbar sind" [12], sprich Deutschland könne sich keine humanitäre Geste leisten.

Ganz im Gegenteil, Jäger muss sein Urteil revidieren - gerade die Politik der offenen Tür könnte sich für die Bundesrepublik bei der Mitgestaltung einer ukrainischen Nachkriegsordnung als großer Pluspunkt erweisen, weswegen es sich dennoch nicht um eine "Waffe" handelt. Die Not von Menschen zu instrumentalisieren und gegen ihren Wunsch nach Hilfe zu richten ist so zynisch wie das strategische Abwägen einer Flüchtlingspolitik, die letztlich darüber befindet, wer leben darf und wer sterben muss.


Kollaboration feindlicher Brüder

Erstaunlich selten wird in der Berichterstattung und Analyse des Krieges zwischen Russland und der Ukraine daran erinnert, dass nicht nur der Angriff der NATO auf Jugoslawien, sondern auch die zwei Kriege, die die russische Regierung gegen die autonome Republik Tschetschenien führte, nach 1945 erfolgten. Das im Nordkaukasus gelegene Territorium hatte vergeblich versucht, in der 1991 beschlossenen Auflösung der Sowjetunion nationale Eigenständigkeit zu erlangen. Was den drei baltischen Republiken, die heute der EU und NATO angehören, der Ukraine, Kasachstan und anderen Föderationssubjekten der UdSSR gar nicht verwehrt werden konnte, wurde im Fall Tschetscheniens mit militärischer Gewalt verhindert.

Der erste im Dezember 1994 begonnene Krieg gegen die Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation verursachte unter der Bevölkerung des Gebietes von der Größe Schleswig-Holsteins erhebliches Leid. Wer nicht floh, verlor neben Hab und Gut häufig auch das Leben, wie die geschätzte Bilanz von 80.000 bis 100.000 ziviler Kriegstoter bei einer Gesamtbevölkerung von 1,2 Millionen Menschen, von 14.000 russischen Soldaten und zwischen 3.000 und 17.000 tschetschenischen Kämpfern zeigt. 370 der 410 tschetschenischen Städte und Ortschaften wurden durch russische Angriffe zerstört, Berichte über Folterungen und Massaker wurden auch von russischen Zeitzeugen bestätigt. Im April 1996 wurde der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew, ein ehemaliger Offizier der Roten Armee, der in Afghanistan gegen die Mujaheddin gekämpft hatte, von einer Lenkwaffe getötet, die sich an seinem Mobiltelefon orientierte, auf dem er mit einem hohen Verantwortungsträger auf russischer Seite gerade ein Gespräch über die mögliche Beendigung des Krieges geführt haben soll.

Der erste Tschetschenienkrieg endete im Juni 1996 mit einem Waffenstillstandsabkommen, das die de facto-Unabhängigkeit des Landes herstellte. Zwar gab es seitens der EU und NATO Kritik am Vorgehen der russischen Regierung, aber da mit Boris Jelzin ein Sachwalter westlicher Interessen im Kreml saß, führte das Geschehen zu keinem nennenswerten Konflikt mit Russland, Deutschland und den USA. So blieb die westliche Finanzhilfe auch in der Hochzeit des Tschetschenienkriegs 1995 und 1996 intakt und sorgte dafür, dass der Kreml den teuren Krieg im Kaukasus fortführen konnte.

Der zweite Tschetschenienkrieg begann im Oktober 1999 und hat die Popularität des damaligen Ministerpräsidenten Putin enorm gesteigert. Der von Jelzin protegierte ehemalige Chef des Inlandgeheimdienstes FSB konnte sich mit diesem wiederum verlustreichen Krieg, der geschätzte 50.000 bis 80.000 ZivilistInnen und Soldaten tot zurückließ und die tschetschenische Hauptstadt Grosny in eine Trümmerwüste verwandelte, den Ruf eines zupackenden und handlungsstarken Politikers erwirtschaften. Bezeichnenderweise stieß auch dieser offiziell erst 2009 beendete Feldzug, der an die Kolonialkriege des Zarenreiches im 19. Jahrhundert anknüpfte, als das Gebiet nach vielen Jahren des Widerstands ins Russische Reich eingegliedert wurde, in den NATO-Staaten kaum auf Kritik.

Ganz im Gegenteil, man kooperierte mit dem Kreml bei der angeblichen Terrorismusbekämpfung, wie etwa die Reise des damaligen Chefs des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Begleitung von Beamten des FSB nach Tschetschenien im Frühjahr 2000 belegt. Bei dieser Zusammenarbeit wurden Informationen über die tschetschenischen Rebellen an den russischen Partnerdienst übermittelt, was der Aussage eines BND-Mitglieds, das die Reise Hannings gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters rechtfertigte, auch die Geheimdienste der USA, Frankreichs und Großbritanniens getan hätten. Die von der damaligen Bundesregierung unbeanstandet übernommene Sprachregelung vom "islamischen Terrorismus", den es im Kaukasus zu bekämpfen gelte, dokumentiert die strategische Übereinstimmung auf nachrichtendienstlicher Ebene. Dabei hatte erst die Verweigerung der Abtrennung Tschetscheniens von Russland zu einer Radikalisierung geführt, als islamistische Kämpfer ins Land reisten und dort die wahhabitische Version des Islam zu Lasten des einheimischen, weit weniger militanten islamischen Volksglaubens durchsetzten.

Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping hatte bei einem Besuch in Moskau im Februar 2000 die Leistungen der russischen Truppen in Tschetschenien mit der Vereinbarung von 33 Projekten der militärisch-technischen Zusammenarbeit gewürdigt. Im ARD-Magazin Monitor wurde am 13. April 2000 berichtet, dass der BND laut dem ehemaligen FSB-Chef Nikolaj Kowalow bereits im ersten Tschetschenienkrieg intensiv mit dem russischen Geheimdienst zusammengearbeitet hat. Damals habe der deutsche Auslandsgeheimdienst unter anderem Aufklärungsergebnisse seiner Abhörstation im Pamir-Gebirge zu tschetschenischen Ausbildungslagern geliefert, und BND-Agenten hätten Flüchtlinge in den Lagern Inguschetiens und Georgiens befragt, um deren Informationen an den FSB weiterzugeben.

All das fand nach der deutschen Beteiligung beim Angriff der NATO auf Jugoslawien, der in Russland heftig kritisiert worden war, und vor den Anschlägen des 11. September 2001 statt. Als Aushängeschild der Präsidentschaft Putins, die am 7. Mai 2000 begann und mit Unterbrechung von vier Jahren bis heute anhält, dokumentierte die Tschetschenien-Politik Moskaus schon damals, dass der Kreml durchaus bereit war, sein postimperiales Problem, über die von tiefen strukturellen und sozialökonomischen Problemen gezeichneten Reste einer Weltmacht zu gebieten, auf imperiale Weise zu lösen. Dies erfolgte im Unterschied zu heute in relativer Übereinstimmung mit den NATO-Staaten, die den geostrategischen Zugriff auf die Verfügungsmasse der untergegangenen Sowjetunion auch mit dem neuen Präsidenten der Russischen Föderation voranzutreiben versuchten.


Fruchtloses Entgegenkommen

Schon die westliche Zusammenarbeit mit Jelzin war davon bestimmt gewesen, dessen autokratische Politik als Aktivposten eigener Einflussnahme zu nutzen. Die von ihm eingeleitete Verfassungsreform vom Oktober 1993 hatte eine Art Präsidialdiktatur installiert. Das damit verbriefte Recht Jelzins, das Parlament aufzulösen, wenn es dreimal den von ihm vorgeschlagenen Ministerpräsidenten ablehnte, sowie wichtige Entscheidungen per Dekret zu verfügen, hatten aus der Staatsduma eine zahnlose Institution gemacht. Mit der Forderung, in Russland Freiheit und Demokratie zu achten, hielten sich die NATO-Staaten dennoch zurück, schließlich war es ihr Mann, der die Russische Föderation in eine Beute oligarchischer wie neoliberaler Akteure verwandelte.

Es wird gemutmaßt, dass Wladimir Putin vor allem deshalb Jelzins Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten geworden war, weil er als ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB die juristische Unangreifbarkeit des Jelzin-Clans auch über das Ende von dessen Präsidentschaft garantieren konnte. Tatsächlich bestand eine der ersten Amtshandlungen Putins in einer umfangreichen Immunitätserklärung für Jelzin und seine Familie, was vermuten ließ, dass der neue Präsident dessen prowestlichen Kurs fugenlos fortsetzen würde.

Dies schien sich insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 zu bewahrheiten. So hatte Putin als einer der ersten Staatschefs den USA Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zugesichert und diesen Worten Taten folgen lassen. Der Kreml öffnete den russischen Luftraum für Flugzeuge der US-Luftwaffe, erhob keinen Einwand gegen die Stationierung von US-Truppen in Zentralasien und gewährte mit geheimdienstlichen Informationen wie seinen Spezialkräften konkrete militärische Unterstützung im Afghanistankrieg. Der Kreml verzichtete darüber hinaus darauf, Einfluss auf die Regierungsbildung in Kabul zu nehmen, wie es etwa mittels der zahlreichen, in Moskau lebenden Exilanten aus der letzten kommunistischen Regierung in Afghanistan möglich gewesen wäre, sondern überließ das Feld der Neuordnung des Landes den USA und ihren Verbündeten.

Putin ging in der geostrategischen Kooperation mit den USA so weit, dass er die russische Abhöranlage auf Kuba, die aufgrund der Überwachung des US-amerikanischen Funkverkehrs von immensem militärischen Wert war, schloss und den russischen Marinestützpunkt in Vietnam ohne ersichtliche Gegenleistung aufgab. Die US-Regierung wiederum kündigte einseitig den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen und trieb die Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands heran. Mit dem Iran und dem Irak erklärten die USA zwei Staaten praktisch den Krieg, die zu den wichtigsten Abnehmern russischer Produkte ziviler wie militärischer Art gehörten. Es wurde keinerlei Rücksicht auf die erheblichen wirtschaftlichen Interessen Russlands genommen. Die gegen den Irak verhängten Sanktionen verhinderten die Rückzahlung von acht Milliarden Dollar, die die Regierung in Bagdad noch an die Sowjetunion zu leisten hatte, und unterbanden Milliardeninvestitionen, die die russische Ölindustrie im Irak tätigen wollte und die ihr von der dortigen Regierung bereits zugesagt worden waren.

Die vielen Versuche des Kreml, durch aktive Zugeständnisse an USA und EU einen angemessenen Platz im Rahmen der neuen Weltordnung nach 1991 zu erhalten, wurden mit der unbeirrt fortgesetzten Strategie quittiert, Russland als Hegemonialmacht abzuwerten und den Einfluss des Kreml auf seine nationalen Grenzen zurückzudrängen. Im Innern hatte Putins Liberalisierungspolitik die russische Oligarchie zugleich in ihre Schranken gewiesen, indem deren Raubzüge am sowjetischen Staatsvermögen zum Preis ihrer politischen Enthaltsamkeit quasi legalisiert wurden, als auch durch neue Investitionsmöglichkeiten gefördert. Dazu gehörte ein die private Aneignung von Land und Boden förderndes Reformgesetz, was die Rücknahme eines wichtigen Teils sozialer Errungenschaften der Sowjetunion bedeutete. Indem Putin in der Lage war, eine Art neuen Klassenkompromiss durch sozialpolitische Zugeständnisse aus der Öl- und Gasrente zu etablieren, hob er sich positiv von seinem Vorgänger Jelzin ab, der die Verarmung der BürgerInnen Russlands in seit langem nicht mehr gekannte Tiefen getrieben hatte.


Die neokoloniale Saat ausbringen

In der Auseinandersetzung mit dem Westen hat die Ukraine stets die Rolle eines Scharniers geopolitischer Einflussnahme gespielt, wie sich schon lange vor den Entwicklungen 2014 gezeigt hat, als der Euromaidan zur Schnittstelle hegemonialer Umorientierung des Landes auf EU, USA und NATO wurde. Der Einfluss westlicher BeraterInnen und Finanzinstitutionen auf das Land wirkte sich schon in den 1990er Jahren in marktliberalen Reformen aus, aus denen soziale Notstände resultierten, die die Bereitschaft, sich äußeren Einflüssen zu unterwerfen, steigerten. Das galt insbesondere für die Landwirtschaft der Ukraine, einem für die nationale Produktivität zentralen Sektor. Die Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik wurde von internationalen Finanzagenturen wie dem IWF, aber auch von nationalen Beratergremien finanzstarker Länder wie der Bundesrepublik mit dem Ziel durchgesetzt, über die Entkollektivierung der Sowchosen und Kolchosen neue Investitionsmöglichkeiten für das transnationale Kapital freizusetzen und die agroindustrielle Produktivität auf eine exportorientierte Weise zu erhöhen, die für zahlreiche Subsistenzbetriebe den Absturz in Armut und Hunger bedeutete.

Es waren die immer gleichen Rezepturen der Austeritätspolitik, der Steuergeschenke und des Investitionsschutzes, mit denen das Geld westlicher Investoren, aber auch einheimischer Oligarchen in vermeintlich brach liegende Sektoren der ukrainischen Volkswirtschaft flossen. Was im ersten Anlauf radikalreformerischer Privatisierung nach 1991 in den meisten postsowjetischen Staaten eine eigenmächtig agierende Oligarchenklasse hervorbrachte, sollte in der Ukraine nach EU-europäischem Reglement reorganisiert und legalisiert werden. So drängte die EU auf einen Pakt mit den Oligarchen, der im Gegenzug für die Übernahme des rechtlichen Besitzstandes der EU, sprich ihrer Geschäftsordnung, durch die Ukraine deren unangreifbare Legalisierung verhieß. Ohne die institutionelle Macht, das organisatorische Wissen und die strukturelle Gewalt dieser Räuberbarone konnte die vielbeschworene Transformation in der südöstlichen Peripherie der EU nicht gelingen.

Das EU-Assoziierungsabkommen bescherte der Ukraine weitreichende Souveränitätsverluste. Die sogenannte Östliche Partnerschaft gestand Kiew zwar kaum politische Mitsprache in der EU zu, band ihre Wirtschaft aber eng an das Regelsystem der Europäischen Union. Umkämpft wurde und wird das Land nicht nur als ein Faustpfand imperialer Konkurrenz, sondern die Ukraine verfügt auch über immense Lagerstätten an mineralischen Rohstoffe wie einer Agrarindustrie, die zu den führenden Exporteuren der Welt für diverse Getreidesorten und Ölsaaten gehört. [13] Für die EU ist eine Peripherie der Ressourcenextraktion und Kapitalverwertung im wahrsten Sinne Gold wert, insbesondere wenn ein sogenannter Transformationsstaat wie die Ukraine draußen vor der Tür gar gekocht werden kann, beim Servieren des Festmahls aber nicht mit am Tisch sitzen darf.


Imperiale Schuldprojektion

Wird der Kern kapitalistischer Vergesellschaftung unter dem ideologischen Überschuss der jeweiligen Gesellschaftsordnung freigelegt, dann sind sich Russland und die NATO-Staaten weit näher, als es auf den ersten Blick erscheint. Wo der Wertewesten die liberale Eigentümergesellschaft als demokratische Errungenschaft feiert und eine demgegenüber plump erscheinende Oligarchie als sozial ungerecht kritisiert, spielt er die sozialstrategische Innovationsdynamik neoliberaler Eigenverantwortung und atomisierter Marktkonkurrenz gegen das noch nicht erfolgreich modernisierte Russland aus, dessen Bevölkerung gerade einmal auf das halbe Durchschnittseinkommen der einst zur Sowjetunion gehörenden baltischen EU-Staaten kommt. Um so begründeter aus der Sicht Putins erscheinen die repressiven Mittel, die insbesondere die linke und soziale Opposition in Russland zu spüren bekommt, als auch das Ausschalten erfolgreicherer Entwicklungsmodelle an der russischen Peripherie, zu der künftig auch eine der EU angehörende Ukraine gehören könnte.

Die Strategie des demokratischen wie autokratischen Imperialismus, seine inneren Widersprüche aggressiv nach außen zu projizieren, weckt Begehrlichkeiten an seinem rechten Rand, einen Platz auf der Kommandohöhe zu erhalten. Wie der europaweite Aufstieg rechtspopulistischer bis neofaschistischer Parteien zeigt, profitieren offen sozialchauvinistische und rassistische Kräfte am meisten von den ökonomisch legitimierten Ausgrenzungs- und Unterdrückungspraktiken EU-europäischer Gesellschaften. Die neoliberale Verabsolutierung sozialer Konkurrenz bringt zuverlässig hervor, was das Freiheitspostulat kapitalistischer Marktwirtschaft angeblich unmöglich macht.

So werden auch im Wertewesten Klassengrenzen mit der Gewalt materieller Entbehrungen gezogen, und das desto brutaler, je liberaler das marktwirtschaftliche Selbstverständnis ist, wie die millionenfache soziale Verelendung in den USA zeigt. Wenn der gesamtgesellschaftliche Reichtum an einer anwachsenden Masse überflüssig gemachter Menschen vorbei erwirtschaftet wird, läuft der liberale Freiheitsethos zu Hochform aus. Einer prekär lebenden Bevölkerung die Zustimmung zur eigenen Verelendung abzuringen, das hat ein Populismus Marke Trump auf eine Weise vorexerziert, die deutlich macht, dass die diversen Spielarten ideologischer Verblendung im Ergebnis klassengesellschaftlicher Polarisierung einander immer ähnlicher werden.


Zwischen Schreck und Schreck ein Blitz

Die russische Regierung erkauft den Versuch, im imperialistischen Konkurrenzstreben mit militärischen Mitteln Land zu gewinnen, mit einer massiven Schädigung der eigenen Geschäftsbeziehungen, die sie nicht dauerhaft durchhalten kann, ohne sozialen Widerstand größeren Ausmaßes im eigenen Land zu riskieren. Zwei Drittel der russischen Bevölkerung verfügen über keinerlei Rücklagen und sind damit den kriegsbedingten Teuerungsraten und Mangelerscheinungen schutzlos ausgeliefert. Die nun erlassenen Gesetze zur Unterdrückung jeden gegen den Krieg gerichteten Protestes sind Ausdruck einer Schwäche administrativer Verfügungsgewalt, die sich desto mehr vertiefen wird, als das Ziel einer schnellen Eroberung der Ukraine in die Ferne rückt.

Dass die vor allem auf Rohstoffexporte und Technologieimporte angewiesene Wirtschaft des Landes in vielerlei Hinsicht durch das Ausbleiben lebenswichtiger Ersatzteile, das Wegbrechen insbesondere des EU-europäischen Exportmarktes und das unbehinderte Agieren an den internationalen Finanzmärkten angreifbar ist, schürt die Atomkriegsgefahr. Bislang noch wurden die energiebezogenen Transaktionen von den Sanktionen gegen Russland ausgenommen, denn es ist keineswegs sicher, dass die Menschen in den NATO-Staaten für die Ukraine frieren und hungern wollen. [14] Wenn dem Kreml jedoch dieses Einkommen genommen und der Zugriff auf die eigenen, bei ausländischen Banken deponierten Devisenbestände unmöglich gemacht wird, dann kann der Fall des Rubel nicht mehr mit diesen Geldern kompensiert werden, dann reicht auch ein von 8 auf 20 Prozent erhöhter Leitzins, der vor allem die Vermögen der Reichen schützt, nicht mehr aus, um einen ökonomischen Kollaps zu verhindern.

Derart in die Enge getrieben könnte der russische Präsident gerade im Szenario derjenigen, die ihn als psychisch derangiert und von der Wirklichkeit isoliert charakterisieren, auch den Einsatz der ultimativen Zerstörungswaffe erwägen. Gleiches gilt für die vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geforderte Einrichtung einer Flugverbotszone über dem Land. Sie liefe fast unvermeidlich auf eine direkte Konfrontation zwischen NATO und Russland hinaus, das könnte auch bei seinem an die polnische Regierung gerichteten Wunsch geschehen, Kampfflugzeuge für den Krieg zur Verfügung zu stellen und diese von polnischen Militärflughäfen starten zu lassen. Ein atomarer Befreiungsschlag für die einander in tödlicher Umklammerung haltenden Kontrahenten hinterlässt zwar nichts als verstrahlte Asche, aber für den Moment der Lösung scheint es sich zu lohnen, das scheint die ernstzunehmende Absicht zu suggerieren, den Zweck der atomaren Abschreckung über sich hinaus zu treiben.

Wäre Putin tatsächlich so unberechenbar, wie von PolitikerInnen und JournalistInnen in den NATO-Staaten dargestellt, dann wäre schon die Andeutung des Einsatzes von Atomwaffen, mit der der russische Präsident mehrmals vor einem Eingreifen der NATO gewarnt hat, Grund genug, auf seine Forderungen einzugehen und die geostrategische Einbindung der Ukraine vollständig aufzugeben. Anstelle dessen wird mit der Gefahr einer atomaren Katastrophe das Va banque-Spiel einer Eskalation betrieben, die immer mehr außer Kontrolle zu geraten scheint. Wo mit dem Einsatz des Lebens von Millionen gepokert wird, da gilt für alle atomar bewaffneten Akteure, eher gestern als heute abgeschafft zu werden.

Wenn wir uns vor den Schulden rechtfertigen, dann verlieren wir viel Zeit, dann haben wir überhaupt verloren. Jede Rechtfertigung verstrickt uns tiefer in Schuld! Eine zweite Unschuld nicht nur gegenüber der göttlichen Schuld, sondern gegenüber der weltlichen Schuld, die Schuld, die auf unseren Portemonnaies lastet und auf den Modulen und Formen unserer Subjektivität. Es geht nicht nur darum, die Schulden zu annullieren oder den Staatskonkurs zu fordern, auch wenn selbst das nützlich wäre, sondern aus der Moral und der Schuld und aus dem Diskurs herauszukommen, in den sie uns einsperren.
Maurizio Lazzarato - Die Fabrik des verschuldeten Menschen [15]


Keine Schuld nirgendwo

Zieht sich der gerade einmal 10 Tage alte Krieg (Stand 6. März 2022) mit allen Folgen der Verteuerung des Lebens und der nicht endenden Gefahr seiner atomaren Eskalation in die Länge, dann könnten sich die Proteste gegen den Krieg in den NATO-Staaten auch gegen die eigenen Regierungen richten. "Russland ruinieren", so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, kann auf Dauer kein tragfähiges Ziel sein, schon gar nicht einer selbsterklärten feministischen Außenpolitik. Was sollen Frauen in Russland dazu sagen sagen? Sie leiden wie alle nicht heterosexuellen Minderheiten ohnehin unter einer sehr patriarchal gestimmten, von homo- und transphoben Ressentiments durchzogenen Gesellschaft. Wenn ihre Notlage auch noch durch den Druck des Krieges verschärft wird, der die Bereitschaft zu sexistischer Gewalt ebenso erhöht wie die Gefahr, auf Dinge des alltäglichen Bedarfes oder medizinische Versorgungsgüter verzichten zu müssen, dann könnte es ihnen wie den afghanischen Müttern ergehen, deren Kinder von den Bomben eines Wertewestens getötet wurden, der vorgab, die Frauen des Landes vom Joch des islamischen Patriarchates befreien zu wollen.

Der vielfach ausgerufene "Zeitenwechsel" in Deutschland erweist sich als weitere Runde in der Steigerungslogik eines kapitalistischen Gewaltverhältnisses, das alle Probleme letztlich zu Lasten des anderen Menschen austrägt, anstatt zu überlegen, wie die Krisen von allen gemeinsam und allen gleich bewältigt werden können. Mit 100 Milliarden Euro an zusätzlichen Rüstungsaufgaben, die keinerlei Einfluss auf den russischen Angriffskrieg haben, wird der verschuldete Mensch in seiner sozialen Reproduktion an das Mittel des Krieges gebunden, dessen Zweck stets machtpolitischer und patriarchaler Art ist. Wer sich schon immer die Erde untertan machen wollte, kann nun einen Sieg nach dem anderen einfahren, wird der fossilistische Kapitalismus quasi per Notverordnung rehabilitiert und mit den Schwingen einer Zerstörungskraft versehen, die aus der Produktion der neuen Waffen selbst, ihrem Betrieb und ihrer Anwendung hervorgeht.

Hinzu kommt die selbsterfüllende Prophezeiung einer Konsolidierung der NATO wie des EU-europäischen Hegemoniestrebens. Was sagt das Lob der einigenden Wirkung des Krieges auf das Militär- und Staatenbündnis aus - es verweist auf den Mangel eines kohärenten Grundes, sich aus eigener Zielsetzung heraus zu organisieren, und auf die Gefahr, ohne äußere Schocks und permanente Krisen einfach überflüssig zu werden. Was lange währt - der kriegsökonomische Expansions- und Innovationsdruck - zeitigt das Ergebnis einer vorgezogenen Klimakatastrophe, der Vertiefung feudalkapitalistischer Herrschaftslogik und das Verschwinden letzter Reste emanzipatorischer Zukunftswünsche unter der Asche dieses im Überlebenskampf angelegten und sein Subjekt verzehrenden Brandes.

Nach den Verwerfungen und Verwirrungen von zwei Jahren Corona-Pandemie, mit einer von Facebook und Instagram sozialisierten Jugend und einer weithin depolitisierten Gesellschaft erscheint die Möglichkeit, dieser Entwicklung mit fundamentaler sozialer Opposition und unbescheidener Grundsatzkritik entgegenzutreten, nicht gerade aussichtsreich. Wo der grüne Kapitalismus durch die plötzlich erfolgte Anforderung, mehr erneuerbare Energien zu produzieren, einen Wachstumsschub erhält, ist eben so wenig gewonnen wie durch die systematische Irreführung eines feministischen Labels zur Legitimation militaristischer und kapitalistischer Regierungspolitik. Damit die Liquidierung der Schuld nicht im atomaren Feuer erfolgt, als quasi schicksalhafte Fügung eines Krieges, in dem aus der Umklammerung imperialer Konkurrenz kein Ausweg mehr gefunden wurde, muss der Zeitenwechsel aktiv erstritten werden - als konsequenter Angriff derjenigen, die immer unterliegen, auf die Anmaßungen kapitalistischer patriarchaler, kolonialer und rassistischer Gewalt.


Fußnoten:

[1] Maurizio Lazzarato - Die Fabrik des verschuldeten Menschen, Berlin 2012, S. 49

[2] a.a.O., S. 85

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/medien/redakt/mrrz0040.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/421484.geschichte-russlands-staat-ohne-tradition.html

[5] https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/lenin-1917/wladimir-i-lenin-die-ukraine

[6] a.a.O.

[7] https://materialien.org/eurasismus-in-russland/
und
http://newfascismsyllabus.com/contributions/into-the-irrational-core-of-pure-violence-on-the-convergence-of-neo-eurasianism-and-the-kremlins-war-in-ukraine/?fbclid=IwAR1hpMEBvzLgKqzSyh1p8Z8WnBkMBKOsdf8BSk63zYcTx8jaSxEdauqkU6Q

[8] https://jacobinmag.com/2022/02/us-russia-nato-donbass-maidan-minsk-war

[9] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1795.html

[10] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/mar/02/civilised-european-look-like-us-racist-coverage-ukraine?fbclid=IwAR20Ncvb6kcWCJDUAe5OMoBEBgu2g4pnHWc8bVYjR6ZPA6CuCwdkYt113t8&fbclid=IwAR1sbgdz-20BESWbMVdJxmuCd9VTv0peB9ia2esv7l851jTU3xALu6hkakU

[11] https://www.businessinsider.com/african-students-ukrainians-first-policy-preventing-them-leaving-war-zone-2022-2?fbclid=IwAR2UUK0IDwvna3Lo7605YgZH4LefRlFBRgMe4uQhq9HAgnMJZCNEMyKgmJg

[12] https://www.focus.de/politik/ausland/eu/analyse-zum-hybriden-krieg-mit-belarus-putin-lukaschenko-und-wir-reisst-uns-belarus-drama-jetzt-in-neuen-kalten-krieg_id_24415217.html

[13] https://www.businesstoday.in/latest/world/story/are-ukraines-vast-natural-resources-a-real-reason-behind-russias-invasion-323894-2022-02-25

[14] https://www.irishtimes.com/news/ireland/irish-news/every-core-element-of-the-food-supply-chain-is-affected-by-the-war-in-ukraine-1.4818483

[15] a.a.O., S. 134


7. März 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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