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HEGEMONIE/1835: Europa - gegen den Rest der Welt ... (SB)



Wir haben eine besondere Verantwortung, unsere Partner auf dem Westbalkan bei dieser Pandemie zu unterstützen, da ihre Zukunft eindeutig in der EU liegt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen [1]

Die Europäische Union zeigt sich fest entschlossen, die aus der Zerschlagung Jugoslawiens hervorgegangene Kriegsbeute voll und ganz für sich zu beanspruchen. Die sechs Länder des Westbalkans (Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Kosovo, Albanien, Bosnien-Herzegowina) sollen über Beitrittsverhandlungen eingebunden und auf die Bedürfnisse der Kapitalfraktionen in den europäischen Kernländern zugerichtet werden, was sich als überaus langwieriger Prozeß erweist. Das Beitrittsverfahren sieht umfängliche Kapitel vor, bei denen es im Kern darum geht, eine eigenständige gesellschaftliche Entwicklung zu verhindern und Satelliten zu schaffen, die der Kapitalverwertung keine Hindernisse in den Weg stellen. Die eingeforderten Reformen an Staat und Wirtschaft zwingen den Ländern beträchtliche Anstrengungen zu eigenen Lasten auf, an deren erhofftem Ende ein Status als Juniorpartner der die EU anführenden Volkswirtschaften wie insbesondere Deutschland steht. Ziehen sich die Verhandlungen ohne absehbares Ergebnis über die Jahre hin, wachsen unter den Kandidaten zwangsläufig Zweifel, ob es tatsächlich eine unabweisliche oder auch nur potentiell günstige Option ist, an der langen Leine der EU-Kommission geführt zu werden. Das gilt um so mehr, je stärker andere auswärtige Akteure auf den Plan treten und ihnen vielversprechende Avancen machen, um ihrerseits auf dem Balkan Fuß zu fassen.

Aus Perspektive der EU, die sich ohnehin gern, aber unzulässigerweise mit Europa gleichsetzt, ist der wirtschaftlich wie geostrategisch wichtige Balkan unbestreitbar eine europäische Region, in der außenstehende Mächte nichts zu suchen haben. Das gilt für China, das hier wie vielerorts auf der Welt mit großzügigen Offerten nicht spart, um sich ökonomisch zu etablieren, ohne konkrete politische Auflagen damit zu verbinden. Das gilt für Rußland, das lange Zeit insbesondere Serbien unterstützt hat, aber auch für die USA, die nirgendwo freiwillig wieder komplett abziehen, wo sie einmal Krieg geführt haben. Auch die Türkei dringt im Zuge ihrer neoosmanischen Expansionsgelüste in diese Region vor, um insbesondere islamische Bevölkerungen für ihre Zwecke zu gewinnen, und selbst manche Golfstaaten haben längst ihre Fühler ausgestreckt, um mit Geschenken rasch zu erkaufen, was die EU nur als ferne Vision von Wachstum und Wohlstand in Aussicht stellt.

Der Situation bewußt, daß sein Land nicht ausschließlich auf die EU angewiesen ist, sondern die Konkurrenten womöglich in gewissem Umfang gegeneinander ausspielen kann, setzte Aleksandar Vucic Anfang April ein unüberhörbares Warnsignal. Der serbische Präsident trat mit kaum gezügelter Wut vor die Presse und erklärte: "Es gibt keine europäische Solidarität, das war ein Traum aus Papier. Nur China kann uns helfen!" Er bezog ich darauf, daß die EU zu dem Zeitpunkt ein Exportverbot für medizinisches Schutzmaterial erlassen hatte, während China unverzüglich Atemschutzmasken und anderes Material nach Belgrad flog, wobei Chinas Präsident den serbischen Amtskollegen einen "Freund und Bruder" nannte.

Diese wohlinszenierte Abkehr von der EU verhallte nicht ungehört, gilt Vucic doch als wichtigster Verhandlungspartner in den Westbalkanstaaten, auf den die EU-Kommission seit Jahren baut. Er ist nicht nur Präsident des größten Landes der Region, sondern hat auch mit seiner westlichen Ausrichtung Serbien aus einem absoluten Feindbild der kerneuropäischen Regierungen in einen bevorzugten Aufnahmekandidaten verwandelt. So glaubt man in Brüssel, nur Vucic könne Serbien in die EU führen, das dann wiederum eine Sogwirkung auf die gesamte Region entfalten könnte, so daß kleinere Länder ihre Anstrengungen intensivieren, dem Beispiel Belgrads zu folgen. Die angedrohte Kehrtwende des serbischen Präsidenten hat sicher keinen grundlegenden Strategiewechsel der EU-Kommission ausgelöst, aber doch die Alarmglocken schrillen lassen und offenbar einige Dinge beschleunigt.

Um nichts anbrennen zu lassen, hat sich die EU zum Klotzen entschlossen, was den Westbalkan betrifft. Für diese sechs Länder wurde das Exportverbot für medizinische Schutzgüter aufgehoben, womit dies die einzige Region außerhalb der EU ist, die eine solche Vorzugsbehandlung erfährt, wie es in den entsprechenden Dokumenten der Kommission heißt. Vor allem aber helfen EU und Europäische Investitionsbank den Ländern der Region mit insgesamt mehr als 3,3 Milliarden Euro, um die Pandemie zu bekämpfen und deren Folgen abzumildern. 38 Millionen Euro flossen als Direkthilfe, wovon unter anderem Atemmasken, Beatmungsgeräte und Schutzkleidung erworben werden sollen. Auch auf der politischen Ebene hat sich einiges bewegt, denn die EU hat den Weg für Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien freigemacht. Zudem winkt dem Westbalkan mittelfristig ein neuer milliardenschwerer Investmentplan, um Wachstum und Modernisierung in der Region weiter anzukurbeln.

Die Staaten der EU waren schon vor der Coronakrise die wichtigsten Wirtschaftspartner des Westbalkans und zeigen nun Flagge, daß sie das auch künftig zu bleiben gedenken. Daran ließ die eingangs zitierte Kommissionspräsidentin keinen Zweifel, die der Konkurrenz einen Schuß vor den Bug setzt. "Die Länder des westlichen Balkans sind geografisch, historisch und wirtschaftlich die engsten Partner der EU", betont auch David McAllister, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. "Eine europäische Zukunft für den gesamten Westbalkan ist daher eine geostrategische Investition in ein stabiles, starkes und geeintes Europa auf der Grundlage gemeinsamer Werte." Aber er betont auch: "Der Beitrittsprozess ist ein Marathon und kein Sprint." "Unsere Arbeit wird weiter gehen", kündigte der EU-Kommissar für Erweiterung, Oliver Varhelyi, an, "weil wir einen Investitionsplan für die Region vorbereiten, um die harten Folgen der Krise abzumildern." Die "Entwicklungslücke" gegenüber der EU müsse geschlossen werden.

Eigentlich sollte der EU-Gipfel zur künftigen Erweiterung der Union als Höhepunkt der kroatischen Ratspräsidentschaft in Szene gesetzt werden. Doch angesichts der Coronapandemie kam es anders. Von dem aufwendig geplanten Treffen in der kroatischen Hauptstadt Zagreb blieb eine drei Stunden dauernde Videokonferenz der 27 EU-Staats- und Regierungschefs, zu der auch die Regierungschefs der sechs Beitrittskandidaten zugeschaltet wurden. Kroatien, das im ersten Halbjahr 2020 den Vorsitz in der Union führt, ist als jüngstes Mitgliedsland der EU im Sommer 2013 beigetreten. Acht Jahre hatten die Verhandlungen dafür gedauert, weshalb der derzeitige Ratspräsident die Lage der aktuellen Kandidaten durchaus nachvollziehen kann. Andrej Plenkovic hatte im Februar einen intensiveren Austausch zwischen der EU und den Balkanstaaten angemahnt: "Die Erweiterung ist die wichtigste politische Strategie der EU. Sie ist eine geostrategische Investition in ein starkes Europa."

Im Kampf um den Westbalkan ist die EU als wichtigster Handelspartner und unmittelbarer Nachbar eindeutig in der günstigsten Position. Allerdings muß sie auch etwas dafür tun, um diesen Vorteil nicht einzubüßen, während die Konkurrenten Milliardensummen investieren, um Brücken, Schulen und Moscheen zu bauen oder Medien zu kaufen, womit sie ihren Einfluß auf politische Entscheidungen sukzessive ausweiten. So betont Erweiterungskommissar Varhelyi denn auch: "Der Gipfel und dieses Jahr insgesamt werden einen Wandel für die Westbalkanländer bewirken und sie wieder nach ganz oben auf der europäischen Agenda bringen." Die Unterstützung in der Coronapandemie zeige, daß Brüssel diese Länder als "privilegierte Partner" und "künftige Mitgliedstaaten" betrachte: "Wir sind mehr engagiert als jemals zuvor. Ich erwarte, dass der Gipfel unsere Solidarität unterstreicht, ebenso wie die Notwendigkeit eines Wirtschafts- und Investitionsplans, der der Region hilft, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen, der die Konjunktur beflügelt und Reformen unterstützt."

Ein Anschub ist insofern dringend geboten, als die Westbalkanländer bereits im Jahr 2003 ein Beitrittsversprechen der EU erhalten haben. Seither ist aus ihrer Sicht jedoch viel zu wenig passiert. Während Brüssel darauf beharrt, daß die Reformen in der Region zu langsam voranschreiten, nimmt die Abwanderung der Bevölkerung in Richtung EU und USA zu, fast jeder zweite Jugendliche ist arbeitslos. Hinzu kommen Widerstände innerhalb der EU, da insbesondere Frankreichs Präsident Emmanuel Macron deutlich gemacht hat, daß er einer schnellen Erweiterung der EU in Richtung Südosteuropa ablehnend gegenübersteht. Noch im Oktober 2019 legte er bei einem EU-Gipfel überraschend sein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien ein. Auch die Niederlande und Dänemark sind gegenüber einer Erweiterung skeptisch. Erst nachdem die EU-Kommission einige zusätzliche Hürden für den Beitritt eingebaut hatte, gab Macron seine Zustimmung. Damit hat die EU zwar den Weg für Beitrittsgespräche mit diesen beiden Ländern freigemacht, doch einen sehr langwierigen Prozeß eingeleitet, der jederzeit von den Mitgliedsstaaten gestoppt werden kann.

Frankreich fürchtet offenbar einen weiter wachsenden Einfluß Deutschlands, das von einer Aufnahme der Westbalkanstaaten am stärksten profitieren könnte. Beispielsweise plant die Deutsche Bahn, Südosteuropa für Gütertransporte als Transitraum nutzen, der den europäischen mit dem chinesischen Markt verbindet. Das Jahr 2025 bleibt jedoch als "indikatives Datum" weiter bestehen: In fünf Jahren könnten möglicherweise schon die ersten beiden Staaten, Serbien und Montenegro, der EU beitreten, sofern sie alle Bedingungen erfüllen. Dies würde voraussichtlich zu einem Dominoeffekt in der Region führen. Wie weit der durch vergleichsweise großzügige Hilfen in der Coronakrise erzeugte Schwung reicht, wird sich zeigen, wenn die Verhandlungskapitel mit Nordmazedonien und Albanien geöffnet sind. Sollten einzelne EU-Länder mauern und damit glaubwürdige Beitrittsverhandlungen torpedieren, könnte die Stimmung in den Kandidatenländern schnell wieder ins Gegenteil umschlagen. [2]

Die Kernbotschaft des Westbalkangipfels soll aus Sicht der EU-Kommission die gleiche bleiben wie vor der Pandemie: Das Beitrittsversprechen für die sechs Kandidaten gilt, die sich jedoch im Gegenzug noch einmal dazu verpflichten sollen, die angemahnten Reformen voranzutreiben. Serbien, der größte der aus dem zerschlagenen Jugoslawien hervorgegangenen Staaten, verhandelt seit 2014 mit der EU. Präsident Vucic gibt sich grundsätzlich proeuropäisch und zu Verhandlungen mit Kosovo über dessen Status bereit. Die EU bescheinigt Serbien gute Ansätze, bemängelt aber Defizite in der demokratischen Kultur, weil der Präsident autoritäre Züge habe und die Opposition das Parlament boykottiert. Auch im Justizwesen und bei der Eindämmung der Korruption hapere es noch. Der kleinste Balkanstaat Montenegro verhandelt seit 2012 mit der EU und ist dabei am weitesten vorangekommen. 32 der 35 Verhandlungskapitel sind in Arbeit. Die EU kritisiert den nur mittelmäßig engagierten Kampf gegen organisiertes Verbrechen und Korruption. Noch sei Montenegro nicht ausreichend für eine Mitgliedschaft vorbereitet, heißt es im letzten Fortschrittsbericht der EU. Seit 2017 in Montenegro bereits Mitglied der NATO.

Nordmazedonien bescheinigt die EU schon seit 2018 große Fortschritte und die Befähigung zu Beitrittsverhandlungen. Nachdem sich Mazedonien in Nordmazedonien umbenannt hatte, um den hemmenden Namensstreit mit Griechenland zu beenden, schien die Tür weit offen zu stehen. Doch dann mußte der Beitrittsprozeß auf französischen Druck hin überarbeitet werden. Nun könnten die Verhandlungen starten, wobei neuerdings Bulgarien wegen des Streits um eine Historiker-Kommission mit einem Veto droht. In Albanien sind politisches System, Justiz und öffentliche Verwaltung "einigermaßen" auf dem Weg in Richtung EU-Standards, heißt es im Fortschrittsbericht. Seit 2018 bescheinigt die EU-Kommission Albanien die Reife für Beitrittsverhandlungen. Doch wie Nordmazedonien mußte sich Albanien noch bis März 2020 gedulden, ehe die EU ihren Beitrittsprozeß reformiert hatte. Jetzt wartet das Land auf den konkreten Startschuß für Verhandlungen, die aber noch zehn Jahren dauern könnten.

Kosovo wird nach wie vor von fünf EU-Mitgliedern nicht als Staat anerkannt, was die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen fast unmöglich macht. Immerhin gibt es ein Assoziierungsabkommen zur Heranführung an EU-Normen. Mit Serbien, von dem sich Kosovo losgelöst hatte, steht eine gegenseitige Anerkennung und Aussöhnung noch aus. Kompliziert ist die Lage insbesondere deswegen, weil die EU und die USA unterschiedliche Auffassungen von einer Befriedung haben. Überdies hat Kosovo derzeit keine handlungsfähige Regierung. Noch am Beginn der Heranführung an die EU steht Bosnien-Herzegowina, in dem drei Volksgruppen mehr schlecht als recht zusammenleben. Staatliche Verwaltung und Justiz zeigen erste Ansätze, so die EU-Kommission, doch müsse weiter an Reformen gearbeitet werden. Noch immer ist dort eine EU-Militärmission präsent, um den fragilen Staat zu stabilisieren, so daß die Aussicht auf Beitrittsgespräche in weiter Ferne liegt. [3]

Wie diese eher durchwachsene Zusammenschau zeigt, geht es Brüssel gegenwärtig vor allem darum, die Westbalkanländer bei Laune und auf EU-Kurs zu halten, um ihre Bereitschaft einzudämmen, auf schnellere Wege der Unterstützung zu setzen, die ohne Auflagen gewährt wird. Die führenden Mächte Westeuropas können kaum umhin, ihre Versprechen einzulösen und kräftig nachzulegen, lange bevor ein erfolgreicher Abschluß der zähen Beitrittsverhandlungen in Sicht ist. Die historische Chance einer friedlichen Koexistenz mit dem blockfreien Jugoslawien wurde gezielt zunichte gemacht, um diesen Gesellschaftsentwurf zu zerstören und den nächsten Raubzug auf dem Balkan unter maßgeblicher deutscher Führerschaft zu eröffnen. Die Trümmer des Angriffskriegs in eine nachhaltige Fundgrube für das westliche Kapital zu verwandeln und zugleich die Begehrlichkeiten anderer Mächte zurückzudrängen erweist sich auch im Falle des Balkans als überaus kostspieliger und strapaziöser Prozeß, dessen menschliche Opfer in Krieg und Frieden Legion sind.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article207759343/Balkan-Die-EU-Erweiterung-rueckt-naeher.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/westbalkangipfel-europaeische-union-beitrittsverhandlungen-coronavirus-pandemie

[3] www.dw.com/de/eu-will-den-westbalkan-bei-laune-halten/a-53337178

7. Mai 2020


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