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HEGEMONIE/1817: Neobündnis - Rolle rückwärts ... (SB)



Das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland war 2017 so schlecht wie nie zuvor. Als Recep Tayyip Erdogan im Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in der Bundesrepublik Kanzlerin Angela Merkel "Nazi-Methoden" vorwarf und Europa bezichtigte, dort könnten "Gaskammern und Sammellager" wieder zum Thema gemacht werden, schien diese verbale Eskalation alle Brücken abzubrechen. Dennoch kam die Bundesregierung der Forderung nie nach, angesichts der verheerenden Repressionswelle in der Türkei nennenswerte Sanktionen zu verhängen, um Druck auf Erdogan und die AKP auszuüben. Die Parole Außenminister Sigmar Gabriels, man dürfe den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, da andernfalls alle Möglichkeiten der Einflußnahme schwänden, war Programm. Sie zeugte von der Maxime, daß der Theaterdonner ein Phänomen fürs Publikum sei, das die grundlegenden hegemonialen Interessen Deutschlands nicht berührt, in deren Kontext die Einbindung der Türkei eine maßgebliche Rolle spielt.

Und folgerichtig herrscht plötzlich wieder Tauwetter, das den bösen Schnee von gestern auf der Promenade der Wiederannäherung fast über Nacht abschmelzen läßt. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat seinen deutschen Kollegen Gabriel kürzlich in dessen Heimatort Goslar besucht und dabei das politische Spitzenpersonal des Gastgeberlands in höchsten Tönen gelobt. Vor wenigen Tagen wurden die deutsch-türkischen Konsultationen nach fast einem Jahr wieder aufgenommen, trafen Vertreter des Bundesinnenministeriums und hochrangige Beamte aus Ankara in Berlin zusammen. Ganz oben auf der Agenda stand Sicherheitspolitik, denn wie eine Sprecherin des Hauses von Thomas de Maizière betonte, bestehe die "Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit der Türkei bei dem, was wir unter Terrorismus verstehen". Deutschland sei "Ausgangspunkt und Ziel dschihadistischer Terroristen, deren Reisewege nach und von Syrien über die Türkei führen", die ihrerseits "bis in die jüngste Zeit wiederholt Opfer massiver Anschläge islamistischer Terroristen" gewesen sei. [1]

Durchaus vergleichbar dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei verspricht sich die Bundesregierung offenbar ein Bollwerk am Bosporus, das auch die nach den territorialen Verlusten des IS zurückströmenden Dschihadisten von Deutschland fernhält. Die eingeflochtene Andeutung, daß sich der Terrorbegriff hüben und drüben nicht vollständig zur Deckung bringen lasse, ändert nichts an der beiderseitigen Entschlossenheit und Übereinkunft, sich seiner nach eigenen Maßgaben hemmungslos zu bedienen. So zögern deutsche Politik und Justiz nicht, massiv gegen türkische und kurdische Linke vorzugehen. Erdogans Vorwurf, Deutschland stelle der kurdischen Arbeiterpartei PKK nicht konsequent nach, rennt offene Türen ein. Die PKK ist hierzulande seit 1993 verboten, im März 2017 wurde das Verbot noch einmal verschärft. Seither steht auch das öffentliche Zeigen von Symbolen und Porträts des seit 1999 inhaftierten Abdullah Öcalan unter Strafe. Zudem gehen Bund und Länder strafrechtlich in aller Schärfe gegen mutmaßliche Unterstützer der PKK vor.

Daß der türkische Staatschef jeden zum Terroristen erklärt und verfolgt, der sich seinem Drang zum Präsidialregime widersetzt, ist für deutsche Regierungspolitik offensichtlich kein Hinderungsgrund, auf sicherheitsrelevanten Feldern noch enger als bislang mit Ankara zusammenzuarbeiten. Was scheren uns Ausnahmezustand und Säuberungen nach dem gescheiterten Putschversuch, mehr als 50.000 inhaftierte Menschen und über 150.000 entlassene oder suspendierte Staatsbedienstete, mehr als 100 geschlossene Zeitungen, Radio- und Fernsehsender, über 150 Journalisten im Gefängnis! Hauptsache wir reden wieder miteinander darüber, wen es noch aus dem Verkehr zu ziehen gilt.

Während die türkische Führung bei ihrer strategischen Charmeoffensive nicht nur in der Bundesrepublik erleichtertes Aufatmen auslöst, als sei der losgerissene Kettenhund von allein nach Hause heimgekehrt, geht sie ungebremst auf Oppositionelle los. Soeben wurden fünf türkische Journalisten wegen "Terrorpropaganda" zu je 18 Monaten Haft verurteilt, weil sie an einer Solidaritätskampagne für die im Oktober 2016 verbotene prokurdische Zeitung "Özgür Gündem" teilgenommen haben. Der Chefredakteur des Blattes, Hüseyin Akyol, wurde zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. [2] Zudem ging die Polizei in sechs Städten gegen Unterstützer der sozialistischen Partei ESP vor. Zu den Verhafteten zählt auch Suat Corlu, der Ehemann der deutschen Journalistin Mesale Tolu, die ihrerseits erst vor einem Monat aus der Untersuchungshaft in Istanbul entlassen worden war. Corlu, der dem Vorstand der ESP angehört, muß damit nach nur acht Wochen auf freiem Fuß erneut ins Gefängnis zurückkehren. Wie seine aus Ulm stammende Frau, die nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, unterliegt auch er einem Ausreiseverbot. Beide sind in separaten Verfahren unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagt. Die ESP ist Teil der pro-kurdischen HDP, einer Dachorganisation für mehrere politische Parteien. [3]

Mesale Tolu erhebt schwere Vorwürfe gegen die türkischen Behörden und erklärt, die Untersuchungshaft werde mißbraucht, um Regierungskritiker zu bestrafen. Die Regierung versuche, mit Hilfe der Justiz Journalismus zu kriminalisieren. Sie forderte die Bundesregierung auf, Druck auf Ankara auszuüben, da Deniz Yücel und etwa 150 weitere Journalisten noch immer im Gefängnis säßen. Wie Yücel, die aus deutscher Sicht prominenteste Geisel in Erdogans Hand, jüngst in einem schriftlich über seine Anwälte geführten Interview hervorhob, hing die Freilassung seines französischen Kollegen Loup Bureau aus türkischer Haft offenbar mit der Zustimmung der Macron-Regierung zu einem Rüstungsgeschäft um Luftabwehrsysteme zusammen. Anfang Januar unterzeichneten Macron und Erdogan jedenfalls ein ebensolches Rüstungsabkommen sowie den Verkauf mehrerer Tonnen Rindfleisch und von zwei Dutzend Airbus-Flugzeugen an die Türkei. Er selbst möchte seine Freiheit weder mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderen Waffenbrüder befleckt wissen, noch mit der Auslieferung von gülenistischen Exstaatsanwälten oder putschistischen Exoffizieren. Für schmutzige Deals stehe er nicht zur Verfügung, so Yücel. [4]

Da die türkische Rüstungsindustrie expandiert und dafür auch Komponenten aus der Bundesrepublik braucht, ist dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen, zumal deutsch-türkische Waffengeschäfte eine lange und finstere Tradition haben. Gabriel dementierte die Äußerung Yücels umgehend mit der treuherzigen Bekundung, es gebe keinerlei Verbindung zwischen der Freilassung deutscher Häftlinge und möglichen Waffenlieferungen an die Türkei. Erdogan braucht Nachschub für seine Kriegsführung im eigenen Land und in Nordsyrien, wobei es in beiden Fällen gegen die Kurdinnen und Kurden geht. Er kündigt derzeit den Großangriff auf den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin im Nordwesten Syriens ein, den die türkische Armee seit Tagen unter Artilleriebeschuß nimmt. Der Kanton ist eine traditionelle Hochburg der linken kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), was ihn für den türkischen Präsidenten zu einem "Terrornest" macht. Er will die gesamten kurdischen Gebiete südlich der Grenze mit militärischen Mitteln niederwalzen, kommt dabei aber US-amerikanischen und russischen Interessen an Präsenz und Einfluß in die Quere, was seiner Aggression im Nachbarland vorerst noch Grenzen setzt. [5]

Das dürfte einer der Gründe seiner jüngsten Friedenssignale an die Adresse der Westeuropäer sein, da er sich in seiner ambitionierten bis aberwitzigen Bündnispolitik ständig wechselnder Rückendeckung versichern muß. Der als neue europäische Kultfigur hofierte Macron hat die Steilvorlage aus Ankara sofort aufgenommen, Erdogan ohne Berührungsängste empfangen und sofort sein Talent als Starverkäufer genutzt. Für Ende März ist ein Spitzentreffen zwischen dem türkischen Präsidenten und führenden Vertretern der EU geplant, bei dem gemeinsame Interessen wie die Bekämpfung des "internationalen Terrorismus", die Migrationspolitik und Energiefragen erörtert werden sollen. Möglich sei auch, daß Ankara bei dem Treffen erneut drei Milliarden Euro für Flüchtlingsprojekte zugesagt würden, lockt das Zuckerbrot, wenngleich eine Erweiterung der Zollunion, visafreies Reisen für türkische Staatsbürger oder die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel in den Beitrittsgesprächen in diesem Jahr nicht zu erwarten seien, heißt es dazu in Brüssel. [6]

Erdogan hat die Spannungen mit der EU derart eskaliert, daß er nun Deeskalation signalisieren kann und bekommt, was er dringend braucht, ohne den Eindruck des Bittstellers zu erwecken. Für ihn ist zuallererst maßgeblich, daß die Beitrittsgespräche auf keinen Fall abgebrochen werden. Denn sollte es dazu kommen, würden zahlreiche westliche Unternehmen und Banken ihre Engagements zurückfahren und die türkische Wirtschaft dadurch massiv unter Druck setzen. Genauso wichtig ist die Zollunion mit der EU, die bislang nur Industriewaren umfaßt, aber auf Dienstleistungen und Agrarprodukte ausgeweitet werden soll. Da die Bundesrepublik der größte Abnehmer türkischer Produkte ist und vor allem Textilien und Nahrungsmittel importiert, strebt Ankara günstigere Konditionen auch auf diesen Sektoren an. Schon der bloße Verhandlungsprozeß könnte dazu führen, daß die anhaltende Investitionszurückhaltung deutscher Unternehmen in der Türkei schwindet.

2016 brachen die Direktinvestitionen um 31 Prozent ein, die Landeswährung Lira stürzte ab, die Inflation stieg und die Arbeitslosigkeit wuchs. Wenngleich sich die düstere Prognose des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nicht erfüllte, gehört das türkische Wirtschaftswunder, der wohl größte Faustpfand beim Aufstieg Erdogans, der Vergangenheit an. Er muß die ökonomische Talfahrt bremsen, ehe seinen Landsleuten im Taumel nationalistischer und chauvinistischer Euphorie bewußt wird, wie es um ihre Lebensverhältnisse unter dem Machthaber und der AKP bestellt ist.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/deutschland/article172544684/Anti-Terror-Kampf-Deutsch-tuerkische-Konsultationen-starten-wieder.html

[2] www.welt.de/politik/deutschland/article172556693/Terrorpropaganda-Fuenf-Journalisten-in-der-Tuerkei-zu-18-Monaten-Haft-verurteilt.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-ehemann-von-mesale-tolu-festgenommen-a-1188640.html

[4] www.welt.de/politik/ausland/article172557898/Deniz-Yuecel-Das-wuerde-er-nach-seiner-Freilassung-als-Erstes-machen.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/325535.vor-der-invasion.html

[6] www.welt.de/politik/ausland/article172585091/EU-und-Tuerkei-Juncker-und-Tusk-wollen-Erdogan-im-Maerz-treffen.html

19. Januar 2018


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