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HEGEMONIE/1718: Mit der Eurokrise ein neues Verwertungsregime durchsetzen (SB)



In der medialen Verarbeitung der Eurokrise wird vorzugsweise der Eindruck erweckt, als würden die Mitgliedstaaten der Eurozone von einer sich stetig verschlechternden Lage auf dem internationalen Finanzmarkt getrieben, der sie fast ohnmächtig gegenüberstünden. Nur aus diesem Blickwinkel lassen sich Sachzwänge postulieren, die in der allgemeinen Entwertung der Arbeit erwerbstätiger EU-Bürger resultieren. Die Schulden der Staatshaushalte sollen durch ihre Einbußen nicht nur refinanziert, sondern das damit durchgesetzte Austeritätsregime soll zur dauerhaften Grundlage des EU-europäischen Verwertungssystems werden.

Zwar besteht die reale Gefahr, daß ein Zahlungsausfall Griechenlands und anderer Peripheriestaaten dominoartig verlaufende Zusammenbrüche im europäischen und internationalen Bankwesen initiierte. Doch wurde diese prekäre Situation wenn nicht bewußt einkalkuliert, dann zumindest leichtfertig riskiert. Die nach der Finanzkrise 2008 vielfach geforderten Restriktionen für den Finanzmarkt wurden nicht verwirklicht, es kam zu keiner Abkehr von der neoliberalen Doktrin der Privatisierung und Deregulierung, es wurde keine höhere Besteuerung der Kapitaleigner durchgesetzt und es wurden keine Vorkehrungen zur Regulation der absehbar krisenhaften Entwicklungen der Staatshaushalte getroffen.

Daß die Regierungen der Eurozone so gut wie nichts für die Entschärfung der Krisenanfälligkeit getan haben, ist eine in der öffentlichen Debatte um die Eurokrise kaum mit kritischem Inhalt gefüllte Leerstelle. Arbeitete man die Entstehung der weit vor 2008 begonnenen Krise entschieden auf, dann zeigte sich der voluntaristische Charakter einer Entwicklung, die in Politikerreden hingegen als numinoses Walten schicksalhafter Naturkräfte beschworen wird. Wie sonst sollten die Inhaber exekutiver Staatsgewalt erklären, wieso sie dem ökonomischen Niedergang ihrer Bevölkerungen scheinbar tatenlos zuschauen, ihn tatsächlich jedoch begünstigen und so das beanspruchte Primat demokratischer Willensbildung ad absurdum führen? Wie sonst sollten sie rechtfertigen, daß sie nichts gegen die Verteuerung von Nahrungsmitteln und ihre Zweckentfremdung als Treibstoff unternehmen, wenn in gar nicht so fernen Ländern Menschen aus Fleisch und Blut elendiglich verhungern?

Die vorgeschützte Ausrede, mittelbare Opfer des transnationalen Kapitals zu sein, bricht an der Grundsatzentscheidung, das kapitalistische Weltsystem als alternativlos gutzuheißen und anderslautende Forderungen mit antikommunistischer Demagogie abzuwehren. Nicht einmal so weit reicht die demonstrativ inszenierte Unschuld demokratischer Repräsentation, daß der Forderung nach bloßer Einhegung des Kapitals entsprochen würde. So erinnert der Linkenpolitiker Oskar Lafontaine heute im Deutschlandfunk daran:

"Als Die Linke vor einigen Jahren Eurobonds vorgeschlagen hat, um das Hochschießen der Zinsen in den schwachen Ländern zu vermeiden, hat der damalige Finanzminister Steinbrück erklärt, das würde also Deutschlands Steuerzahler mit drei Milliarden mehr belasten, das könnte man nicht machen. Auch Frau Merkel hat sich dagegen gewandt. Nun müssen wir zig Milliarden mehr bezahlen." [1]

Noch im Dezember 2010 widersetzte sich die Bundeskanzlerin diesem Vorschlag mit dem Argument, daß die dadurch bewirkte Angleichung der Zinsen den "wirtschaftspolitischen Konkurrenzdruck" in der Eurozone mindere. Selbst wenn das Primat marktwirtschaftlicher Wachstumsanreize ganze Bevölkerungen ins Elend stürzt, darf nicht an ihm gerührt werden, lautet die unerbittliche Logik dieser Form von sozialer Kriegführung. Wenn der Linkenpolitiker Michael Schlecht die Gründung einer öffentlichen europäischen Bank, die den Privatbanken das Geschäft abnimmt, für ein Prozent Zinsen Geld bei der EZB zu leihen und es, anders als diese, ohne Aufschläge an die überschuldeten EU-Staaten weiterzugeben, in der jungen Welt ins Gespräch bringt [2], ist das ein Anlaß mehr, seine Partei mit diskriminierenden Bezichtigungen zu überziehen.

Deutlich wird immerhin, in welch großem Ausmaß politische Entscheidungen dem angeblich selbstregulativen Wirken der Märkte zugrundeliegen. Die unterstellte Divergenz von Staat und Kapital mag größer geworden zu sein, der hegemoniale Kern des Verwertungssystems wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Kapitalinteressen sind Staatsinteressen, weil die Macht der administrativen Funktionseliten in der Übertragung der gewaltsamen Sicherung der Eigentumsordnung und Durchsetzung der Mehrwertabschöpfung auf sie gründet. Dieses Verhältnis überwölbt denn auch die nationalen Differenzen, die die ökonomische Dominanz Deutschlands innerhalb der Eurozone und im transatlantischen Bündnis erzeugt. Der nationale Impetus wirkt, wie das Ergebnis der Vertrauensabstimmung im griechischen Parlament zeigt, selbst auf dem harten Boden der europäischen Hackordnung Wunder. Ministerpräsident Giorgos Papandreou erhielt die Zustimmung der Abgeordneten zu dem drakonischen Sparpaket des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB), nachdem er an die patriotische Pflicht seiner Landsleute appellierte, nicht nur die pekuniäre Staatsschuld abzutragen, sondern auch die die moralische Schuld für ihr Zustandekommen zu übernehmen.

Griechenland ist bei allen eigenen Versäumnissen, unter denen die nicht erfolgte fiskalische Inpflichtnahme der griechischen Großverdiener und Kapitaleigner am schwersten wiegt, Opfer der mit dem Beitritt zum Euro aufgegebenen Möglichkeit, die eigene Währung gegenüber der ökonomischen Dominanz der Bundesrepublik abzuwerten. Den dabei erhaltenen Vorteil, durch niedrige Zinsen bei der Kreditaufnahme von der Bonität der Gemeinschaftswährung zu profitieren, bezahlte das Land mit den absehbaren Folgen der währungstechnischen Angleichung unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Produktivitätsniveaus - der Schwächere wird durch kostengünstiger produzierte Waren niederkonkurriert, seine Verbraucherpreise werden vom Zustrom neuen Investivkapitals in die Höhe getrieben, seine binnenwirtschaftlichen Strukturen fallen den destruktiven Auswirkungen unvermittelt auf sie einwirkender Weltmarkteinflüsse zum Opfer.

Was der EU-Peripherie zum Nachteil gereicht, ist der Vorteil der hochproduktiven EU-Kernländer Deutschland, Frankreich und Niederlande. Der krisenhafte Absturz der südlichen Randzone führt folgerichtig zur Ausbildung einer neokolonialistischen Verfügungsstruktur, die mit der Übertragung finanz- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen auf das Brüsseler Direktorat ihren hegemonialen Anspruch unterstreicht. Die massiven Lohnkürzungen und Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme, die Reduzierung staatlicher Subventionen in Bildung und Kultur, die Öffnung tariflich und berufsständisch geschützter Arbeitsbereiche für die europäische Konkurrenz sollen die griechische Bevölkerung auf viele Jahre hinaus in die Pflicht eines Kapitalregimes nehmen, dessen Durchsetzung ohne staatliche Verfügungsgewalt nicht möglich gewesen wäre.

Die dazu ausgespielte Trumpfkarte des Nationalchauvinismus insbesondere auf der Seite der Gläubigerstaaten suggeriert einen Konflikt zwischen Nationalstaaten, der den grenzüberschreitend wirksamen Klassenantagonismus in nationalistischen Ressentiments aufgehen läßt. Das deutsche Modell der Agenda 2010 soll mit dem im März beschlossenen Pakt für den Euro [3] allgemeinverbindlich werden. Unter anderem verlangt werden Zurückhaltung bei Lohnabschlüssen im öffentlichen Dienst, Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, die Aufhebung der in einigen Eurostaaten gesetzlich verankerten Bindung der Löhne an die Inflationsentwicklung und die gesetzliche Festschreibung einer Schuldenbremse. Marktwirtschaftlicher Wettbewerb über alles lautet das Credo des inzwischen als Euro-Plus-Pakt firmierenden und von der Bundesregierung tonangebend erwirkten Maßnahmepakets.

Diese suprastaatlich organisierte Form ökonomischer Verfügungsgewalt wird mit einem Krisenmanagement, das die Staaten der Eurozone an den Abgrund führt, um sie erst im letzten Moment zu retten, in Stellung gebracht. Was Griechenland bei einem Staatsbankrott blühte, brachte der Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, Thomas Straubhaar, unlängst im Deutschlandfunk auf den Punkt einer abschreckenden Enteignungsoffensive. Der Frage des Moderators, ob sich zahlungsunfähige Staaten nicht ebenso wie bankrotte Privatunternehmen einem Insolvenzverfahren zu unterwerfen hätten, bejahte er ohne Wenn und Aber:

"Ich denke, das ist jetzt genau die richtige Fragestellung und das, was zu planen und durchzusetzen ist, nämlich - ich kann es nicht anders nennen - ein Insolvenzverfahren für Griechenland, bei dem es darum geht, aus der Insolvenzmasse das, was sozusagen griechisches Volksvermögen, Staatsvermögen in Flughäfen, in Wasserversorgung, in Telekommunikationsanlagen verfügbar ist, wie kann man aus dem sozusagen noch die größte Masse an Liquidität, an Geld erzielen, um damit auch eben heute bestehende Gläubiger entschädigen zu können. Das ist genau die Frage, wie in einem privaten Insolvenzverfahren: Wie können wir das tun?" [4]

Hinter der unterstellten patriotischen Pflicht der Griechen steht die Androhung eines größeren Schadens, so daß die Parlamentarier in Athen sich um so bereitwilliger ins kleinere Übel flüchteten. Das könnte sich jedoch im Endeffekt als nicht minder schwerwiegender Eingriff in die Lebensverhältnisse der erwerbsabhängigen und versorgungsbedürftigen Bevölkerung des Landes erweisen. Mit Wirtschaftsdiktat und Rückzahlungspflicht schaffen die kerneuropäischen Staaten regelrechte Protektorate, denen sie ihre ökonomischen Interessen fast nach Belieben diktieren können. Dem geht eine politisch durch den Euro-Stabilitätspakt bestimmte Doktrin der Preisstabilität voraus, die jegliche inflationäre Entwicklung mit einer Erhöhung des Leitzinses, also einer Politik des knappen Geldes, beantwortet. Die damit bewirkte Dämpfung der Konjunktur läßt die Arbeitslosigkeit steigen, das heißt sie sichert die Handlungsfähigkeit des Kapitals durch soziale Verelendung. Dies erfolgt bei vollständiger Aufrechterhaltung der Kapitalsverkehrsfreiheit und stetiger Expansion der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Die Inwertsetzung der Daseinsvorsorge verschärft, wie die bisherige Geschichte neoliberaler Privatisierung belegt, die Not in allen Lebenslagen, was wiederum die Bereitschaft fördert, sich zu welchem Preis auch immer zu verkaufen.

Die sogenannten Leistungsträger sollen keinesfalls in ihrem eigennützigen Wirken behindert werden, gilt das in Umlauf gebrachte Kapital doch als eigentlicher Vitalfaktor der von seiner Verwertung bedingten Gesellschaften. Die Lebensinteressen der Menschen selbst sind zu kapitalisieren, denn nur dadurch werden sie zu solchen, lautet der Glaubenssatz der Kapitaleigner und verkünden die vertraglichen Grundlagen der EU. EZB-Chef Jean-Claude Trichet formulierte dies bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises in Aachen am 2. Juni 2011 in dankenswerter Offenheit als Manifest herrschaftlichen Interesses. So gebe es in der Eurozone "Länder, die Wortlaut oder Geist der Regeln nicht eingehalten haben", was wiederum "Rückwirkungen auf andere Länder der Wirtschafts- und Währungsunion" habe. Um dies in Zukunft zu verhindern, habe er "im Namen des EZB-Rats die Kommission, den Rat und das Europäische Parlament aufgerufen, die wirtschaftspolitische Steuerung im Euroraum konsequent zu stärken. Es gilt nun, aus den ersten Jahren der Wirtschaftsunion und aus den von der Krise aufgedeckten Schwachstellen zu lernen und einen Quantensprung nach vorn zu tun."

Sollten die in einer ersten Stufe erfolgenden Hilfsmaßnahmen an überschuldete Länder erfolglos bleiben, dann gelte es, in einer zweiten Stufe "eine direkte Einflussnahme durch Institutionen des Eurogebiets auf die Wirtschaftspolitik in dem betroffenen Land" auszuüben, und zwar eine "direkte Einflussnahme, die weit über die derzeit geplante Überwachung hinausgeht". Diesen noch in Frageform formulierte Vorstoß konkretisiert Trichet, indem er die bisher aufrechterhaltene Souveränität einzelstaatlicher Entscheidungen zur Disposition europäischer Institutionen stellt. So soll der Rat, "Entscheidungen treffen, die auf die betroffene Volkswirtschaft durchgreifen." Dies könne etwa bedeuten, daß die EU "ein Veto gegen bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen eines Landes einlegen" könnte, um "wichtige Haushaltsentscheidungen" oder "grundlegende Entscheidungen, die für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ausschlaggebend sind", zum Nutzen Dritter zu regulieren. Darüber hinaus könnte Trichet sich ein europäisches Finanzministerium vorstellen, das die "Aufsicht über Haushaltspolitik und Wettbewerbsfähigkeit sowie den Durchgriff auf die Wirtschaftspolitik der Länder, die sich in der eben beschriebenen 'zweiten Stufe' befinden, ausübt". [5]

Es fällt nicht schwer vorzustellen, was eine derartige Kompetenzerweiterung EU-europäischer Institutionen auf der Basis der neoliberal verfaßten politischen Ordnung der Union für deren Bevölkerungen bedeutete. Die Maßgaben des Euro-Plus-Paktes könnten mit exekutiver Gewalt gegen den Widerstand der Betroffenen erzwungen werden. Wenn der Druck des Mangels allein nicht ausreicht, wird sich zeigen, daß die Aufrüstung der EU-europäischen Repressionsstrukturen keinesfalls im luftleeren Raum einer mutmaßlichen terroristischen Bedrohung erfolgt. Die Etablierung innovativer Formen der Sozialkontrolle und Aufstandsbekämpfung macht allemal Sinn, wenn die Ausbeutungsrate eben nicht nur als befristete Maßnahme zur Krisenbewältigung, sondern als Basis eines neuen Verwertungsregimes erhöht werden soll. Trichets "Quantensprung" könnte die EU-Bürger schon bald mit einer Union konfrontieren, die sie sich so keineswegs vorgestellt haben.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1487576/

[2] http://www.jungewelt.de/2011/06-20/062.php

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0063.html
BERICHT/063: Eurokrake Sicherheit - Ökonomische Verfügungsgewalt im Staatsprojekt EU (SB)

[4] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1476277/

[5] http://www.handelsblatt.com/politik/international/europa-voranbringen-institutionen-staerken/4246476.html

22. Juni 2011