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HEGEMONIE/1697: EU-Interventionismus bedroht Unabhängigkeitsstreben der Maghreb-Staaten (SB)



Die immer lauter werdenden Rufe nach einer Militärintervention der EU in das von Angriffen durch Regierungstruppen und die Prätorianergarde Muamar El Gaddafis auf die eigene Bevölkerung erschütterte Libyen sind dem Erhalt des durch diesen Aufstand gefährdeten Kontrollanspruchs der EU-Staaten gewidmet. Seit Gaddafi vor über zehn Jahren das Bündnis mit den USA und der EU gesucht hat, ist Libyen ein wichtiger Vorposten in der von ökonomischen und geostrategischen Interessen der EU dominierten Region. Insbesondere dieses durch seinen Ölreichtum devisenstarke Land des Maghreb ist Ziel der Direktinvestitionen großer deutscher Industrie- und Rohstoffkonzerne, zumal Gaddafis Kurswechsel vom Unterstützer antiimperialistischer Bewegungen zum Nutznießer imperialistischer Expansion von marktliberalen Reformen in Libyen begleitet waren.

Gleichzeitig haben seine panafrikanischen Ambitionen dafür gesorgt, daß die Wanderungsbewegungen afrikanischer MigrantInnen häufig in diesem Land und dort nicht selten in Lagern und Gefängnissen enden. Was Gaddafis Regime im Auftrag der EU an Menschenschinderei an Flüchtlingen begeht, sorgt nördlich des Mittelmeers für das gute Gewissen europäischer Regierungen, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen. Wie im Fall der Folterdienstleistungen arabischer Staaten im Rahmen des US-geführten Terrorkriegs, zu denen sich auch das libysche Regime hergab, stellt die sogenannte Flüchtlingsabwehr eine Form des Outsourcings staatlicher Gewaltanwendung dar, die sich mit den Verfassungen der Auftraggeber nicht in Einklang bringen läßt.

Europäische Politiker wie der ehemalige britische Premierminister Tony Blair, der maßgeblich am völkerrechtswidrigen Überfall auf den Irak beteiligt war und vehement für entsprechende Maßnahmen gegen den Iran trommelt, oder der italienische Premierminister Silvio Berlusconi, dessen Land die libysche Bevölkerung zur Zeit der Kolonialherrschaft mit mörderischer Gewalt unterdrückte, haben Gaddafi zugunsten EU-europäischer Hegemonial- wie Wirtschaftsinteressen wieder salonfähig gemacht. Nach seiner aktiven Zeit als Politiker hat Blair die Interessen der US-Bank JP MorganChase in Libyen vertreten. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat enge Kontakte zum libyschen Diktator angebahnt und ist zumindest unter den starken Verdacht geraten, an der Ausbildung seiner Repressionsorgane durch deutsche Bundespolizisten beteiligt gewesen zu sein. 2007 hat der europäische Rüstungskonzern EADS erste Waffenlieferungen an das libysche Regime durchgeführt und so dazu beigetragen, die seit jeher bekannte Unterdrückung der Bevölkerung zu optimieren.

Von dieser Interessenlage ausgehend eine Militärintervention ins Auge zu fassen, und sei es nur unter dem Vorwand der Evakuierung eigener Bürger, ist auch angesichts der blutigen Kämpfe in Libyen ganz und gar eigennützigen Absichten gewidmet. Ein Staat wie die USA, der in Pakistan Zivilisten mit von Drohnen abgefeuerten Raketen umbringt, hat keinen moralischen Anspruch, aber politische Gründe, seine Kriegführung auf Libyen auszudehnen. Das gleiche gilt für eine EU, deren Mitgliedstaaten Jugoslawien überfallen haben und Krieg in Afghanistan führen. Im ersten Fall wurde ein Völkermord an den Kosovo-Albanern unterstellt, der sich im Nachhinein auf eine bürgerkriegsartige Situation reduziert hat, an deren Zustandekommen die angeblich alleinigen Betroffenen keinen geringen Anteil hatten. Nun spricht Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn von einem "Völkermord" an den libyschen Bürgern, als ginge es Gaddafi darum, die eigene Bevölkerung auszurotten. Die inflationäre Verwendung eines solchen Interventionsvorwands wird dem Blutvergießen weitere Nahrung geben, zudem maßen sich äußere Akteure an, die Handlungsvollmacht des libyschen Widerstands einzuschränken.

Letzteres wäre denn auch die vorrangige Stoßrichtung jeglicher Form von kriegerischem Eingreifen in Libyen. Daß der Sturz eines so lange im Sattel sitzenden Regimes nicht ohne Gewalt vonstattengeht, versteht sich von selbst, doch ist es Sache der Libyer, sich ihres Despoten zu entledigen, und nicht einer äußeren Macht, die einen Regimewechsel orchestriert, um maßgeblichen Einfluß auf die Nachfolgeschaft zu nehmen. So wurde den Irakern durch zwei Kriege und das Wirtschaftsembargo der Vereinten Nationen die Möglichkeit genommen, den Sturz Saddam Husseins selbst zu bewirken. Dabei ist die Bilanz der bei der Belagerung, Bombardierung und Okkupation des Landes gewaltsam oder aus Mangelgründen gestorbenen Menschen so hoch, ist der gesellschaftliche und kulturelle Rückschritt der irakischen Gesellschaft so schwerwiegend, daß es kaum vorstellbar ist, daß die eigenständige Befreiung des Landes seinen Bürgern nicht weit weniger geschadet hätte.

2001 hat die US-Regierung im Rahmen des Globalen Krieges gegen den Terrorismus die Behauptung aufgestellt, es gehe ihr um die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens. Dabei wurde nicht annähernd erreicht, was beherzte und entschiedene Bevölkerungen der arabischen Welt in wenigen Wochen bewirkt haben. Tatsächlich hat die Demokratisierungskampagne der USA und die Nachbarschaftspolitik der EU die autokratischen und diktatorischen Strukturen in der Region gestützt, unter anderem unter dem Vorwand, nur so könne Israels Sicherheit gewährleistet werden. Dessen Regierung hat sich 2006 im Libanon und 2008/2009 in Gaza mit der flächendeckenden Zerstörung ziviler Infrastrukturen und der Massakrierung zahlreicher Menschen Grausamkeiten zuschuldekommen lassen, die sie nur mit Einverständnis der EU und USA folgenlos begehen konnte.

Wenn diese Akteure nun den Libyern zur Hilfe eilen wollen, dann treibt sie ein Ziel - sie wollen ihren Stiefel in die Tür einer Entwicklung bekommen, die ihr zu entgleiten droht. Die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten sind auf eine Weise in Bewegung geraten, deren Folgen sich noch nicht absehen lassen, die aber auf jeden Fall einen immensen Kontrollverlust für die westlichen Hegemonialmächte mit sich bringen. In Libyen einen weiteren Ordnungskrieg zu beginnen wäre daher eine willkommene Gelegenheit, einen Präzedenzfall für die Reorganisation destabilisierter staatlicher Verhältnisse zu schaffen und von diesem ausgehend auch in anderen Ländern konterrevolutionäre Aktivitäten zu entfalten. Der Anspruch der EU, die Mittelmeerregion zur eigenen Einflußsphäre zu erklären, verkörpert ein neokolonialistisches Anliegen, das durch die revolutionären Entwicklungen in der arabischen Welt wirksam gekontert werden könnte. So lange nicht klar ist, daß deren postrevolutionären Regierungen Sachwalter dieses Anspruchs sein werden, so lange besteht die Gefahr, daß die eindeutig artikulierten imperialen Absichten der EU-Staaten zum Anlaß genommen werden, der europäischen Weltmacht im Wartestand den Vorwand zu verschaffen, vom Planspiel zum Ernstfall überzugehen.

24. Februar 2011