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HEGEMONIE/1622: Das Nachsitzen hat gefruchtet ... Iren am Überlebensprimat gepackt (SB)



Erleichterung, ja Genugtuung allenthalben. Die Iren haben eingelenkt, sie haben sich der Forderung der großen Mehrheit der EU-Regierungen angeschlossen, dem Vertrag von Lissabon zuzustimmen. Über die Mehrheit der Bevölkerungen weiß man nichts, sie wurden nach den Erfahrungen, die man mit den Franzosen und Niederländern vor vier Jahren gemacht hat, nicht mehr gefragt. Die Art und Weise, wie ein Vertragswerk durchgesetzt wurde, das einen dezisionistisch verordneten Übergang vom Staatenbund zum Bundestaat EU vollzieht, das die Wirtschaft der EU auf marktwirtschaftliche Prinzipien verpflichtet und eine imperialistische Außenpolitik begünstigt, repräsentiert bereits seinen Inhalt. An der Bevölkerung Irlands wurde exemplarisch vorgeführt, daß man sich der höheren Vernunft staatlicher Ermächtigung nur zur Strafe des Nachsitzens widersetzen darf.

Die häufig zu vernehmende Erklärung, daß die Bevölkerung Irlands vor allem aufgrund der Wirtschaftskrise, die das Land besonders heftig getroffen hat, dem Reformvertrag im zweiten Anlauf zugestimmt hat, ist ein nicht minder erhellender Kommentar zur inneren Verfaßtheit der EU. Das Prinzip der staatlichen Notgemeinschaft wird auf die angebliche Wertegemeinschaft übertragen, die eine dementsprechend von Angst und Zwang getriebene Integration in ihre institutionellen Strukturen, rechtlichen Vorgaben und ideologischen Legitimationen betreibt. Vorbei die Zeit der Visionäre, die Europa in ein Modell des gelebten Humanismus und der friedlichen Völkerverständigung verwandeln wollten. So, wie die Weltwirtschaftskrise nicht als Krise des kapitalistischen Systems, sondern bloßes Versagen ungenügend verwirklichter, da an und für sich idealer Marktprinzipien gedeutet wird, so wird dem letzten Träumer von einer besseren Welt zu verstehen gegeben, daß zur Bewältigung des Problems die Kapitalisierung aller verwertbaren Ressourcen bei Aufhebung aller solidarischen Praktiken, die sich nicht als Schuld des Leistungsempfängers an die Gesellschaft gegen ihn verwenden lassen, zu erfolgen hat.

Die Angst der Iren wird nun erst recht das befürchtete Ergebnis erzielen. Die Sanierung der Volkswirtschaft auf niedrigem Niveau mit bestenfalls geringen Wachstumsraten erfordert eine Organisation des Mangels, die mit dem Argument, daß es weniger zu verteilen gibt, ganz zu Lasten der im Sinne der Kapitalverwertung unproduktiven Menschen gehen wird. Bangemachen gilt eben doch, wenn der Wunsch, sich auf die Seite des Gewinners zu schlagen, stärker ist als der Mut, in politische Kämpfe zu treten, die an die Wurzeln des herrschenden Gesellschaftssystems greifen. Die EU hat als Überlebensregulativ allemal Zukunft. Die Frage, ob ein System staatlicher Verfügungsgewalt, in dem der Mangel nach hierarchischen, leistungs- und verbrauchsorientierte Kriterien organisiert wird, den Wünschen und Interessen der darin eingespeisten Menschen entspricht, soll sich mit der Marschrichtung, der man mit dem Vertrag von Lissabon folgt, erledigt haben.

Die am Beispiel Irland vorexerzierte Durchsetzung supranationaler Imperative ist von ihrem kapitalistischen und militaristischen Gehalt nicht zu lösen. All das, was auch ohne Lissabon möglich ist, wird durch die tiefergreifende Integration noch effizienter und technokratischer administriert. Die Vertragsbefürworter machen den Bürgern nichts vor, wenn sie den Zugewinn an exekutiven Handlungsmöglichkeiten rühmen, die aus dem Reformvertrag resultieren. Als Paladine neoliberaler und neokonservativer Ideologie reiten sie auf der Welle des hegemonialen Diskurses und können ihre Gegner leicht als rückstandig, weltfremd und nationalistisch diffamieren. Dem wird, wenn die Kritik an der EU nicht gleichzeitig Kritik der systemischen Grundlagen kapitalistischer Vergesellschaftung ist, nichts Wirksames entgegenzusetzen sein.

4. Oktober 2009