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HEGEMONIE/1570: EU-Osterweiterung im Rückwärtsgang (SB)



Fünf Jahre nach dem gefeierten Beitritt von zehn mittelosteuropäischen Staaten zur Europäischen Union, denen sich zwei Jahre später Bulgarien und Rumänien anschlossen, ist angesichts der immensen wirtschaftlichen Probleme dieser Länder schon wieder die Rede von einer neuen Teilung Europas. Dabei kann wegen des sozialökonomischen Abstands zwischen West- und Osteuropa kaum behauptet werden, daß es über die politische Union hinaus zu einer europäischen Einigung gekommen wäre, die durch die grenzüberschreitende Kohärenz der Lebensbedingungen und -chancen ausgezeichnet wäre. Und selbst das politische Zusammenwachsen Europas ist von schwerwiegenden Differenzen etwa im unterschiedlichen Verhältnis zu Rußland und den USA bestimmt.

Die nun anhand der Wirtschaftskrise, die fast alle mittelosteuropäischen Staaten schwer getroffen hat, zutage tretenden Bruchlinien aktualisieren daher lediglich einen Mißstand, der dem von Kapitalinteressen getriebenen Charakter der EU-Osterweiterung seit jeher innewohnt. So wurden die neuen Mitgliedstaaten einem tiefgreifenden neoliberalen Strukturwandel unterzogen, der dem an seine Verwertungsgrenzen gestoßenen Akkumulationsregime der westeuropäischen EU-Mitglieder neue Investitions- und Absatzchancen bot. Die sogenannte Transformation der an Vergesellschaftung der Produktionsmittel und des Grundeigentums orientierten realsozialistischen Wirtschaftsordnung setzte erhebliche Privitisierungspotentiale frei, die schon vor dem EU-Beitritt der ehemaligen RGW-Staaten eine massive Expansion kapitalstarker Banken und Konzerne Richtung Osten ermöglichte.

Die Privatisierung des ehemaligen Volkseigentums nach Maßgabe radikalliberaler Wirtschaftskonzepte hinterließ deindustrialisierte und sozial verelendete Gesellschaften, die Investoren und Spekulanten ein weites Feld der Billigproduktion, des Warenabsatzes und der Finanzspekulation eröffneten. Auf dem hohe Gewinnerwartungen weckenden Niveau brachliegender Volkswirtschaften wuchsen Schuldenkaskaden heran, die eine krisenhafte Entwicklung nach Art der Subprime-Immobilienkrise in den USA und Britannien initiierten. Während sich in Osteuropa eine für kolonialistische Strategien dieser Art typische Kompradoren-Bourgeoisie herausbildete, die den neuen Reichtum in vollen Zügen genoß, lebt ein Großteil der osteuropäischen Bevölkerung bis heute in bitterer Armut. Mit dem Beitritt zur EU radikalisierte sich die Zerstörung verbliebener Subsistenzökonomien etwa nach Art der kleinteiligen polnischen Landwirtschaft, die ihren Betreibern zumindest eine gewisse Überlebenssicherheit bot, durch ordnungspolitische Maßnahmen, mit der in Brüssel konzipierte Verwertungsnormen EU-weit verallgemeinert werden sollten.

Das extreme Gefälle zwischen Wirtschaftsräumen wie etwa der Bundesrepublik und Polen sollte zwar als Fernziel eingeebnet werden, doch dem widersprach die aktive Ausnutzung der Lohn- und Preisdifferenzen schon im Ansatz. Westeuropäische Banken, Industrieunternehmen und Verlagskonzerne nutzten den politisch hebeigeführten Systemwechsel im sozialistischen Osteuropa von Anfang an dazu, sich mißliebige Konkurrenten vom Hals zu schaffen, indem diese entweder übernommen oder mit Hilfe der höheren Produktivität westeuropäischer Produzenten vom Markt gedrängt wurden. Der Widerspruch zwischen einer politischen Union, deren Mitglieder formal gleichberechtigt sind, und einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, dessen Freihandelsbedingungen die Unterschiede in den volkswirtschaftlichen Ausgangsbedingungen sogar noch verschärften, hat die EU schon in der Phase wirtschaftlicher Expansion schweren Zerreißproben ausgesetzt.

Nun, da die Wirtschaftskrise das Zentrum des EU-Kapitalismus selbst getroffen hat, die dort angesiedelten Banken ihr Geld aus Osteuropa abziehen und die transnationalen Industrien ihre nach dorthin ausgelagerten Produktionsstätten schließen, erweist sich vollends, daß die sogenannten Transformationsstaaten Objekte eines räuberischen Übergriffs wurden, dessen Freiheitsideologie als zweckdienlicher Vorwand fungierte, eine besonders effiziente Strategie der Ausplünderung und Bereicherung in Stellung zu bringen. Auch wenn die Profiteure des EU-Beitritts in den mittelosteuropäischen Staaten dies sicherlich anders sehen, wird anhand der massiven sozialen Probleme, die die Wirtschaftskrise dort unter großen Teilen der Bevölkerungen erzeugt, bei gleichzeitiger Weigerung der reichen EU-Staaten, mit einer massiven Alimentierung der in Not geratenen Länder gegenzusteuern, deutlich, daß die vielbeschworene europäische Einigung in erster Linie der Konzentration kapitalistischer Verfügungsgewalt dient.

Hier wiederholt sich im Großen, was bereits im Kleinen der Bundesrepublik anhand stagnierender oder gar weiter auseinanderklaffender sozialer Disparitäten zwischen Ost und West manifest wurde. Was in Deutschland den nicht immer nur ironisch gemeinten Ruf nach einem Wiedererrichten der Mauer hat laut werden lassen, findet in der EU seinen Widerhall in Bilanzierungen, laut denen die Osterweiterung vielleicht doch kein so lohnendes Projekt war. Da die westeuropäischen Banken und Konzerne, die von der liberalisierten Wirtschaftsordnung der EU bislang gut lebten, selbst in eine Refinanzierungskrise geraten sind, stehen ihre politischen Sachwalter nun vor der Wahl, entweder das ganze Schiff vor dem Untergang zu retten, indem der in Osteuropa herrschende Mangel auf alle Mitgliedstaaten verteilt wird, oder mit den in Not geratenen Armutsstaaten Ballast abzuwerfen, indem man ihnen bestenfalls auf symbolische Weise unter die Arme greift.

An den dazu getroffenen Entscheidungen wird sich die Tragfähigkeit des EU-europäischen Projekts bemessen lassen. Was als Rückkehr zu nationalstaatlichen Lösungen in Zeiten anwachsender Belastung kritisiert wird, hebt auf eine vermeintliche europäische Solidargemeinschaft ab, deren angeblicher Bestand jeglicher idealistischer Grundlage entbehrt. Hier zeigt sich vielmehr, daß das kaum verhohlen umworbene Konzept, die EU als erweiterte Plattform imperialistischer Durchsetzung in Stellung zu bringen, einem paneuropäischen Klassenkampf entspricht, dem nationale Antagonismen nachgeordnet werden, wenn die Systemfrage gestellt wird. Entstehung und Geschichte der EU sind von antikommunistischen Beweggründen geprägt, daher liegt nahe, daß die unter krisenhaften Bedingungen erfolgende Integration des kapitalistischen Staatenbundes erst recht zum Ausschluß großer Teile der EU-Bevölkerung von den Versorgungsleistungen für ein angemessenes Leben führen wird.

4. März 2009