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FRIEDEN/1131: Alles Nobel - Juan Manuel Santos soll es richten (SB)



Wenngleich selbst bei einem Staatsmann ein fundamentaler Sinneswandel nicht restlos auszuschließen ist, dürfte die Mutation vom Falken zur Taube doch ein überaus seltenes Naturschauspiel bleiben. Blauäugiger Beifall sollte daher nicht die allererste Option sein, wenn das norwegische Nobelkomitee den diesjährigen Friedensengel kürt. Eher schon ist zu vermuten, daß Kriegstreiber mitunter durchaus Kreide fressen, wenn dies der finalen Entwaffnung des Gegners dient. Nun könnte man natürlich argumentieren, daß nach Friedensnobelpreisträgern wie Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk, Izchak Rabin, Schimon Peres und Jassir Arafat oder gar Barack Obama und der EU ein vergleichsweise kleiner Fisch im globalen Haifischbecken wie der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos den Kohl auch nicht mehr fett macht.

Andererseits reizt der allzu dick aufgetragene Konsens hinsichtlich des südamerikanischen Weltwunders doch dazu, das Haar in der Suppe zu suchen. Am Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrags standen zahlreiche Staatschefs aus Lateinamerika Spalier. Santos trat ganz in Weiß auf, mit einer Friedenstaube am Revers: "Die Region und der ganze Planet feiern: Denn es gibt einen Krieg weniger auf der Welt, und zwar den in Kolumbien." UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon lobte: "In einer Zeit vieler bewaffneter Konflikte geht vom Frieden in Kolumbien eine machtvolle Botschaft der Hoffnung an die Welt aus." Papst Franziskus gratulierte und kündigte einen Besuch in Kolumbien an. Ein Tag für die Geschichtsbücher? [1]

Entgegen der gängigen Praxis, bei derartigen Friedensschlüssen stets die prominentesten Verhandlungspartner beider Lager zu würdigen, ging das Preiskomitee in Oslo diesmal irritierend einseitig vor. Wie die schwedische Außenministerin Margot Wallström denn auch monierte, "gehören zwei zu einem Tango". Ein norwegischer Parlamentarier hatte Anfang des Jahres Santos und den obersten Comandante der FARC-Guerilla, Timoleón Jiménez, gemeinsam nominiert. Warum die Jury nur Santos kürte und damit die andere Konfliktpartei ausblendete, liegt auf der Hand. Die FARC stehen bis heute auf den "Terrorlisten" der USA und der EU, während die Gründe ihres Kampfs und das Scheitern früherer Friedensprozesse systematisch verschwiegen und von einer Bezichtigungskampagne überblendet werden.

Wenn sich Saulus in Paulus verwandelt, sind Glaubenseifer und Strahlkraft des Konvertiten kaum zu überbieten. Das gilt auch im Falle des ehemaligen Verteidigungsministers Santos, der als eiserne Faust seines Präsidenten Alvaro Uribe von 2006 bis 2009 mit brutaler Härte gegen die FARC-Guerilla vorging. Er war verantwortlich für das Eindringen der kolumbianischen Armee auf das Staatsgebiet Ecuadors am 1. März 2008. Der Angriff galt einem Camp der FARC im Grenzgebiet, wo die Rebellen Teilnehmer einer in Quito stattfindenden antiimperialistischen Konferenz empfingen. Bei dem Angriff starben FARC-Sprecher Raúl Reyes und vier mexikanische Studenten, womit die bekannteste Stimme der FARC zum Schweigen gebracht wurde und angebahnte Friedensgespräche endeten. In Reaktion auf die Grenzverletzung mobilisierten Ecuador und Venezuela ihre Truppen und entsandten sie an die kolumbianische Grenze, so daß zeitweise ein Regionalkrieg drohte. [2]

In Santos' Amtszeit fielen auch die auf getötete FARC-Kämpfer ausgesetzten Kopfgelder, die dazu führten, daß Soldaten reihenweise Unbeteiligte ermordeten, um die Prämie zu kassieren. Bei der spektakulären Befreiung der einstigen Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt aus den Händen der Guerilla setzte Santos wie auch in vielen anderen Fällen das Leben der Geiseln aufs Spiel. "Ich bin stolz darauf, dass ich als Verteidigungsminister der FARC in der schlimmsten Situation ihrer Geschichte die schwersten Schläge versetzt habe", erklärte Santos. Als Scharfrichter und Kronprinz Uribes versprach er, dessen Politik der harten Hand fortzusetzen: "Ich werde weiterführen, was Präsident Uribe in diesem Land gesät hat: Die demokratische Sicherheit, ja noch mehr, ich werde sie noch stärken." Mit diesem Versprechen gewann Santos 2010 die Wahl um das Präsidentenamt. Danach vollzog er eine Kehrtwende und söhnte sich mit den Regierungen von Ecuador und Venezuela aus. Er setzte sich mit der Guerilla an den Verhandlungstisch, was ihn 2014 fast die Wiederwahl gekostet hätte. Sein einstiger Ziehvater Uribe ist heute sein erbitterter Feind und trug als Wortführer der Kampagne des "Nein" beim Referendum nicht unmaßgeblich zu dessen Scheitern bei. [3]

Ist Santos in erster Linie ein Opportunist, der sein Fähnchen in den Wind gehängt hat, um nicht als Bluthund in die Geschichte einzugehen, sondern auch in zivileren Kreisen internationaler Machtausübung Akzeptanz zu finden? Mit derart simplen psychologistischen Strickmustern kommt man im Falle Kolumbiens nicht aus. Santos hat als Verteidigungsminister die FARC gravierend geschwächt, sie aber trotz Waffenhilfe der USA, absoluter Lufthoheit der Streitkräfte und aufwendiger Offensiven nicht sturmreif schießen können. Das angefangene Werk als Präsident mit politischen Mitteln fortzusetzen und die Auflösung der kämpfenden Guerilla auf dem Verhandlungsweg herbeizuführen, ist daher kein Paradigmenwechsel, sondern die Vollendung des strategischen Entwurfs mit anderen Mitteln, wie sie weltweit immer wieder durchexerziert worden ist, wo bewaffneter Widerstand gegen Staatsinteressen nicht restlos niedergeschlagen werden konnte.

Hinzu kommt in jüngerer Zeit eine wirtschaftliche, soziale und politische Talfahrt des Landes, der Santos mit weiteren drastischen Sparmaßnahmen und einer Militarisierung begegnen will. Die Profitrate für ausländische Direktinvestitionen ist von durchschnittlich zwölf Prozent zwischen 2010 und 2014 auf vier Prozent im Jahr 2015 gesunken, die Gesamtmenge solcher Investitionen ging im letzten Jahr um 26 Prozent zurück. Eine hohe Inflation führt zu einem Rückgang der Realeinkommen, die Arbeitslosigkeit ist angestiegen, die öffentliche Verschuldung liegt bei fast 45 Prozent des BIP, das Steueraufkommen sinkt im zweiten Jahr in Folge. Schon jetzt kommen über 60 Prozent aller Familien kaum über die Runden, und die geplanten Maßnahmen wie Abwertung, Steuersenkungen für Konzerne und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer würden den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit noch weiter senken. Obgleich die Regierung durch die Verfassung nicht zur Abhaltung eines Referendums verpflichtet war, erhoffte sich Santos offensichtlich in Erwartung der allseits prognostizierten Zustimmung einen vorzüglichen Deckmantel für die Durchsetzung der massiven Sozialkürzungen und ambitionierten Steuerreform. [4]

Zwar gehen zahlreiche zivile Todesopfer auch auf das Konto der FARC, doch werden der Regierung und ihren paramilitärischen Unterstützern drei Viertel der schätzungsweise 177.000 zivilen Todesopfer in dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg zur Last gelegt. Während die Guerilla seit Beginn der Verhandlungen im Jahr 2012 ihre Kämpfe vermindert hat, nehmen die paramilitärischen Anschläge auf Politiker und Anführer der Ureinwohner und Bauern zu, was durchaus in einem Zusammenhang gesehen werden kann. Zudem würde der Rückzug der Rebellen aus den bislang von ihnen kontrollieren Gebieten den Großgrundbesitzern die Möglichkeit eröffnen, ihre Ländereien zu vergrößern, und den Abbau von Rohstoffen erleichtern, was wiederum verstärkte Gewaltanwendung gegen Bauern und verarmte Landarbeiter zur Folge hätte.

Bildet der angebliche Friedensprozeß in Kolumbien nur einen Ausschnitt der unablässigen Einschüchterungen, Drangsalierungen, Vertreibungen und Morde ab, so unterschlägt die Vergabe des Friedensnobelpreises ausgerechnet an Santos den Umstand, daß Kolumbien als wichtigster militärischer Partner der USA in dieser Weltregion mittels US-amerikanischer Finanzhilfen und direkter militärischer Unterstützung die mit 445.000 Mann größten Streitkräfte ganz Südamerikas unterhält, während die FARC eigenen Angaben zufolge auf landesweit 5.800 Kämpfer geschrumpft ist.

Die Gesamtsumme der US-Hilfsgelder für Militär und Polizei sowie die Waffenverkäufe an Kolumbien ist Schätzungen zufolge von 2012 bis 2014 auf 2,5 Milliarden Dollar gestiegen, während der Verteidigungshaushalt für 2017 laut Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas um 230 Millionen Dollar erhöht werden soll, um "für die Zeit nach dem Konflikt eine starke öffentliche Gewalt aufzubauen". Durch neue Steuern und Verschiebungen im Haushalt wird die Bevölkerung gezwungen, für einen noch größeren Anteil an der Aufrüstung des Unterdrückungsapparats aufzukommen.

Folgt man der Deutungsmacht westlicher Eliten im gängigen Friedensdiskurs, der das herrschaftssichernde Zusammenspiel von Krieg und Frieden ebenso unterschlägt wie er jegliche unterstützenswerten Gründe diskreditiert, sich gegen imperialistische Übergriffe und nationalstaatlich organisierte Ausbeutung und Unterdrückung auch bewaffnet zur Wehr zu setzen, ist Juan Manuel Santos also eine treffliche Wahl. Wer mit der Vergabe des Friedensnobelpreises allen Ernstes andere Erwartungen verbindet, sei an die abgenagte Geschichte Alfred Nobels erinnert, der erst das Dynamit erfunden und dann den Friedens- und Forschungspreis gestiftet hat. Beides verträgt sich prächtig miteinander, solange man nicht anfängt, sich für die Grundfesten der herrschenden Verhältnisse in der Absicht zu interessieren, mit wachsender Griffsicherheit an ihnen zu rütteln.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/news/2016-10/07/international-rueckenwind-fuer-kolumbiens-frieden-07153614

[2] https://www.jungewelt.de/2016/10-08/041.php

[3] http://www.tagesschau.de/ausland/santos-109.html

[4] https://www.wsws.org/de/articles/2016/10/07/kolu-o07.html

8. Oktober 2016


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