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FRIEDEN/1086: Israel konsterniert - Ägyptens Regierung zeigt außenpolitisch Profil (SB)



Die Okkupation des Begriffs "Revolution" und dessen willkürliche Anwendung auf die Umwälzungen in Nordafrika und Vorderasien durch Politik und Medien der westlichen Mächte sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß bislang in keinem dieser Länder ein Prozeß stattgefunden hat, der ernsthaft an den gesellschaftlichen Verhältnissen hinsichtlich der Eigentumsordnung im Kontext kapitalistischer Verwertung gerüttelt und sich entschieden antiimperialistisch positioniert hätte. Wenngleich in dieser Weltregion Kräfte in Bewegung geraten sind, die weder von den herrschenden Regimes, noch deren westlichen Schutzmächten vorhergesehen wurden und wirklich verstanden werden, handelt es sich doch vorerst eher um ein vielfältiges und oftmals widersprüchliches Potential, das auszubremsen und zu neutralisieren alte und neue Machthaber Gewehr bei Fuß stehen, als um eine definierte Agenda revolutionärer Umgestaltung. Die Verwerfung festgefügter Strukturen auf derart breiter Front und ihr nicht einzudämmendes Übergreifen auf so gut wie jeden Staat des Nahen Ostens konfrontiert die Architekten dieser Hegemonialordnung jedoch mit eben jenem Phänomen, das sie erfolgreich eingefriedet und gezähmt zu haben glaubten, nämlich den Menschen und den unverhofft zu Tage tretenden Grenzen ihrer Beherrschbarkeit.

Das gilt auch für Ägypten, dessen neue Regierung dem Umstand Rechnung tragen muß, daß abgesehen von Mubaraks Sturz kein Machtwechsel stattgefunden hat. Um nicht als Fortbestand des Regimes identifiziert und vom Volkszorn aufs Korn genommen zu werden, sieht sich die Führung zu einer gewissen Flexibilität und Innovationsbereitschaft genötigt, die den innenpolitischen Frieden der Ausbeutung und Unterdrückung wiederherstellt und sichert. So nimmt man einige Kurskorrekturen vor, die der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung Rechnung tragen und das Land aus der Sackgasse führen sollen, in der es sich seit dem Friedensabkommen mit Israel 1979 zunehmend festgefahren hat. Unter Mubarak wurde Ägypten auf den Status einer Marionette an den Fäden Israels und der USA reduziert, die den reklamierten Einfluß in der arabischen Welt um so mehr verlor, je enger sie an die Seite der Hegemonialmächte rückte.

Offenbar strebt die neue Regierung in Kairo eine Normalisierung der Beziehungen zum Iran an, womit sie dessen durch Israel, die USA und die europäischen Mächte forcierte Isolation wenn nicht durchbricht, so doch zugunsten einer Entspannung in Frage stellt. In Reaktion auf die islamische Revolution brach Ägypten 1979 die Beziehungen zu Teheran ab, worauf erst 1991 wieder gewisse diplomatische Kontakte aufgenommen wurden. Wenngleich die beiden Staaten auch heute nicht befreundet sind, scheint Ägypten nun gewillt zu sein, den Iran nicht länger als Feind, sondern als regionalen Nachbarn zu betrachten. [1]

Bei der erfolgreichen Vermittlung zwischen Fatah und Hamas hat Kairo den bislang verfeindeten palästinensischen Fraktionen denselben Vermittlungsvorschlag unterbreitet, der seit 2009 auf dem Tisch liegt. Neu ist jedoch, daß die Vertreter der Hamas erstmals seit Jahren ins ägyptische Außenministerium eingeladen wurden und nicht mit dem Geheimdienst oder einem Hotel vorliebnehmen mußten. Sie nicht länger als Sicherheitsrisiko, sondern als diplomatischen Partner zu behandeln und Gespräche mit hochrangigen Regierungsvertretern zu ermöglichen, zeugt über ein entspannteres Klima hinaus von einer gewachsenen Bereitschaft Ägyptens, nicht wie bislang einen fiktiven Friedensprozeß im Munde zu führen, um im Einklang mit der israelischen Regierung die Aussöhnung der Palästinenser zu verhindern, deren Spaltung zu ihren wichtigsten Trümpfen gehört. Wie Repräsentanten der Hamas bestätigten, habe die offensichtlich veränderte Haltung und neu gewonnene Glaubwürdigkeit der ägyptischen Führung den Ausschlag für die mit der Fatah getroffene Übereinkunft gegeben.

Bei der Blockade des Gazastreifens durch Israel hat Ägypten in der Vergangenheit die Einschnürung unterstützt, den Grenzübergang weitgehend geschlossen und den Tunnelbau durch die Errichtung einer unterirdischen Trennmauer eingeschränkt. In Rafah befindet sich der einzige nicht von Israel kontrollierte Übergang in den Gazastreifen. Im Februar ließ Kairo dort wenige Tage nach dem Sturz Mubaraks wieder stundenweise die Ein- und Ausreise von Palästinensern zu. Nun gibt es klare Signale einer Distanzierung von der früheren Beteiligung an der Blockade, die als "beschämend" bezeichnet wird. Wie der ägyptische Außenminister Nabil al-Arabi im arabischen Fernsehsender al-Dschasira ankündigte, werde sein Land "in den kommenden Tagen wichtige Massnahmen unternehmen, um die Blockade mildern zu helfen". [2]

Die Kollaboration des Mubarak-Regimes mit Israel und den USA schuf Fakten der Macht, die wenig Entsprechung in der ägyptischen Bevölkerung fanden. Während arabische Despoten die Sache der Palästinenser im Munde führten und zugleich fortgesetzt verrieten, galt das nicht in gleichem Maße für die Menschen in diesen Ländern. Während des Angriffskriegs der israelischen Streitkräfte auf den Gazastreifen Ende 2008/Anfang 2009 gingen Tausende Ägypter auf die Straße und forderten Hilfe für ihre "palästinensischen Brüder". Sie schmähten Mubarak als "Pudel Israels" und bezichtigten den israelfreundlichen Geheimdienstchef Suleiman, koscheres Essen zu lieben. In einer aktuellen Umfrage des US-amerikanischen Instituts Pew Research wünschten 54 Prozent der Ägypter eine Auflösung des Friedensvertrags mit Israel. [3]

Unterdessen setzt die israelische Regierung alle Hebel in Bewegung, den Druck auf den Westen zu erhöhen, ein neues palästinensisches Kabinett unter Beteiligung der Hamas nicht anzuerkennen. Es solle deutlich gemacht werden, daß der palästinensische Präsident Abbas einen Fehler mache, "ein Bündnis mit dem Teufel einzugehen, statt mit Israel zu verhandeln", wie die Zeitung Jediot Ahronot aus Regierungskreisen berichtete. Israel verfügt über diverse Druckmittel gegen die palästinensische Autonomiebehörde wie insbesondere die Erhebung der Steuern, die vorzuenthalten Außenminister Avigdor Lieberman bereits angedroht hat. Nach Angaben des Außenministeriums in Washington überdenkt die US-Regierung ihre finanzielle Unterstützung für die Palästinenser, sollte die Hamas in einer neuen Regierung vertreten sein. [4]

Und wie wollen die Europäer handeln? Bundesaußenminister Westerwelle hat bereits einer Palästinenserregierung unter Beteiligung der Hamas eine Absage erteilt, wie das von deutscher Seite nicht anders zu erwarten war. Hingegen hat der Luxemburger Jean Asselborn als erster europäischer Außenminister die Einigung zwischen Fatah und Hamas ausdrücklich begrüßt und Israel zu neuen Verhandlungen mit den Palästinensern aufgefordert. In der Welt am Sonntag bezeichnete Asselborn die Einigung zwischen den Palästinenserorganisationen als "eine äußerst positive Entwicklung", die eine große Chance biete, damit der Frieden im Nahen Osten näherrückt. Er gehe davon aus, daß eine neue palästinensische Regierung, der auch die Hamas angehören wird, bereit ist, Israel anzuerkennen und auf Gewalt zu verzichten. Die Hamas habe letztlich gar keine andere Wahl, meint der Luxemburger. [5]

Es liegt auf der Hand, daß die israelische Regierung die aktuelle Entwicklung voll Argwohn verfolgt, da ihr Ägypten als bislang festgefügter Bestandteil der eigenen Sicherheitsdoktrin tendentiell zu entgleiten droht. Zwar hat die neue ägyptische Führung die Einhaltung aller Abkommen mit Israel zugesagt, doch lassen eine mögliche Annäherung an den Iran, die Legalisierung der Muslimbruderschaft, die angekündigte dauerhafte Öffnung des Grenzübergangs zum Gazastreifen und die jüngst erfolgte Vermittlung zwischen Fatah und Hamas auf israelischer Seite alle Alarmglocken schrillen, eben weil die Tragweite des Veränderungsprozesses in Ägypten nicht abzusehen ist.

Anmerkungen:

[1] In Shift, Egypt Warms to Iran and Hamas, Israel's Foes (29.04.11)
New York Times

[2] Ägypten will Grenzübergang zu Gaza dauerhaft öffnen. Neue Regierung setzt Signal der Abkehr von der Politik Mubaraks (29.04.11)
http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/aegypten_will_grenzuebergang_zum_gazastreifen_dauerhaft_oeffnen_1.10419555.html

[3] Kairos neue Palästina-Politik. Ägyptens Distanz zu Israel ermöglichte den Fatah-Hamas-Deal (30.04.11)
http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13307203/Kairos-neue-Palaestina-Politik.html

[4] Ägypten lockert Blockade des Gazastreifens (29.04.11)
http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~E954E66EC9E194C028ED1606DB665820C~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[5] Luxemburgs Außenminister begrüßt Einigung zwischen Fatah und Hamas (30.04.11)
http://www.stern.de/news2/aktuell/luxemburgs-aussenminister-begruesst-einigung-zwischen-fatah-und-hamas-1679856.html

30. April 2011