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FRIEDEN/1069: Liebermans Protektoratslösung für Gaza setzt Sharons Disengagement-Strategie fort (SB)



Die von Israels Außenminister Avigdor Lieberman vorgeschlagene Kursänderung in der Politik seiner Regierung gegenüber Gaza ist keineswegs ein Hirngespinst ohne Aussicht auf Verwirklichung. Im Rahmen der Möglichkeiten, die der israelischen Regierung angesichts dessen bleiben, daß das Mißfallen unter den Verbündeten mit der ihrem eigenen Ansehen abträglichen Blockade Gazas stetig anwächst, wäre die Übertragung der Verantwortung für das Schicksal der dort lebenden Palästinenser an die EU ein für Israel vorteilhafter Befreiungsschlag.

Mit der Forderung nach Anerkennung der Hamas-Regierung durch die EU bringt Liebermann all diejenigen Kräfte in die Defensive, die vier Jahre nach dem Wahlsieg der islamischen Partei auf deren Einbeziehung in Friedensverhandlungen drängen. Wenn die Hamas die Regierung eines Protektorats von Gnaden der EU stellte, wären die Europäer auch mit ihrem Widerstand gegen diese für Palästinenser völlig inakzeptable, das Projekt der einheitlichen und souveränen Eigenstaatlichkeit final erledigende Lösung konfrontiert.

Mit der offiziellen Legitimierung der Hamas wären aber auch all jene Kräfte in der EU herausgefordert, die die Blockade Gazas unterstützen, weil sie die Hamas als terroristische Organisation betrachten, die dauerhaft kriminalisiert werden soll. Angesichts der Aussicht, das Nahostproblem selbst schultern zu müssen, neigten führende Kreise der EU um so bereitwilliger dazu, die bisherige Politik Israels gegenüber der Hamas und der Bevölkerung Gazas gutzuheißen.

Doch handelt es sich bei Liebermans Vorstoß nicht nur um eine diplomatische Scharade oder eine Eintagsfliege ohne strategischen Wert. Die Idee, Gaza zur Seeseite hin zugänglich zu machen, dabei allen Schiffsverkehr gründlichen Waffenkontrollen zu unterziehen und die Versorgung des kleinen Gebiets wie seinen Wiederaufbau und seine wirtschaftliche Entwicklung der EU zu übertragen, entledigte die israelische Regierung mit einem Schlag eines ganzen Bündels von Problemen. Die EU würde absehbar in die Position einer neuen Besatzungsmacht geraten, bekräftigte sie mit der Übernahme dieser Verantwortung doch die damit so gut wie unumkehrbar werdende physische wie politische Separierung Gazas vom Westjordanland. Die Regierungen der EU könnten die palästinensische Eigenstaatlichkeit nicht mehr glaubwürdig einfordern, entstände mit dieser Regelung doch ein de-facto-Staat in Gaza, während die Palästinenser im Westjordanland in eine noch schwächere Position gegenüber israelischen Annexionsplänen gerieten.

Liebermans Idee schließt nahtlos an den vom ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon durchgeführten Abzug der israelischen Siedler und Soldaten aus Gaza 2005 an. Sharon hatte den Disengagement-Plan 2004 aus dem Hut gezaubert, um die immer dringlicher gemachten Forderungen nach bilateralen Friedensverhandlungen abzuwehren. Indem er die Behauptung, auf der Seite der Palästinenser über keinen Verhandlungspartner zu verfügen, durch diese ohne jegliche Absprache mit den Palästinensern getroffene Entscheidung unterstrich, minderte er ihren Anspruch auf Partizipation generell. Indem er den Abzug mit den Bedingungen verknüpfte, den Palästinensern dauerhaft die Kontrolle über die Häfen des Gebiets zu entziehen und Israel weiterhin an der Aufsicht über den Grenzverkehr von Gaza nach Ägypten zu beteiligen, legte er das Fundament für die bald darauf erfolgende Verwandlung Gazas in ein großes Freiluftgefängnis.

Sharon erklärte damals gegenüber der Tageszeitung Yediot Aharonot, daß es in seinem "unilateralen Plan keinen palästinensischen Staat gibt. Diese Situation kann viele Jahre lang andauern". Gegenüber der Tageszeitung Maariv kündigte er an, daß der gleichzeitig in Angriff genommene Bau der Trennmauer im Westjordanland "ihre Träume enden lassen wird. (...) Wenn man Gebiete und Gemeinden im Westjordanland einzäunt, beendet man viele ihrer Träume (...) Mein Plan verlangt den Palästinensern viel ab. Ein tödlicher Schlag" [1]. Er bekräftigte damit die zentrale Funktionslogik israelischer Besatzungspolitik, deren Andauern stets zu Lasten der davon Betroffenen geht, während Israel alle Zeit der Welt hat, seine politische und ökonomische Stärke zu konsolidieren. Dies durchzuhalten erfordert allerdings die Unterstützung der USA und EU, die in diesem Fall durch die vermeintliche Freigabe des besetzten Gebiets bei tatsächlicher Belagerung und Auszehrung gewährleistet wurde.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte diese Ratio so gut verstanden, daß er die Einschaltung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag gegen die im Westjordanland und in Ostjerusalem territoriale Tatsachen schaffende Trennmauer mit den Worten verwarf, er glaube nicht, daß "die Verrechtlichung eines politischen Problems hilfreich" sei. Damit stellte sich die rot-grüne Bundesregierung nicht nur gegen das Votum der UN-Generalversammlung, die das Verfahren mehrheitlich gefordert hatte, sondern dementierte ihre am Beispiel der Strafverfolgung jugoslawischer Politiker vorexerzierte Behauptung, derzufolge die völker- wie strafrechtliche Behandlung internationaler Konflikte förderlich für den Weltfrieden sei.

Der Schachzug Sharons war aus mehreren Gründen genial. Mit dem weltweit begrüßten Abzug aus Gaza verschaffte er sich Bewegungsfreiheit für die weitere Annexion palästinensischer Gebiete im Westjordanland und den Bau der Trennmauer. Er erhielt Rückendeckung durch US-Präsident George W. Bush, der diesen Schritt als politischen Erfolg für seine mit der Road Map verfolgte Friedensstrategie verkaufen und gleichzeitig von der blutigen Besetzung des Iraks ablenken konnte. Und er band Ägypten, dessen Präsident Hosni Mubarak die Unterwanderung der eigenen Gesellschaft durch die Muslimbrüder fürchtet und daher keinen freien Grenzverkehr für ihren palästinensischen Ableger Hamas duldete, stärker an Israel. Die US-Regierung warnte die Palästinensische Autonomiebehörde davor, die Hamas in ihre politischen Strukturen einzubinden, da sie eine Terrororganisation sei, was den von Washington abhängigen Mubarak in seiner palästinenserfeindlichen Politik rechtfertigte.

Die Verwirklichung des Disengagement-Plans entzog dem moderaten, auf die Einhaltung des Friedensprozesses ausgerichteten Kurs der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Jassir Arafat jede Erfolgsaussicht. Dies verschaffte der in ihren Forderungen deutlich radikaleren Hamas Zulauf, was wiederum Israel und seine Verbündeten zum Vorwand nahmen, die palästinensische Regierung nach den Wahlen 2006 diplomatisch zu isolieren und Gaza schließlich zum Zwecke eines Regimewechsels auszuhungern.

Sharon setzte im Grunde genommen den Weg fort, der 1994 im Gaza-Jericho-Abkommen vorgezeichnet worden war. Die damals beschlossene Selbstverwaltung Gazas war der Köder für die Fragmentierung des Westjordanlands in die Kategorien A-, B- und C-Zone. Mit der territorial abgestuften Autonomieregelung wurde die Grundlage für die dauerhafte Parzellierung des Westjordanlands gelegt, während die israelischen Siedlungen unter dem Vorzeichen des Friedensprozesses so stark wie nie zuvor wuchsen.

Der Regierung Sharon schuf mit dem einseitig beschlossenen Abzug aus Gaza die Voraussetzung zur finalen Aufteilung Palästinas zwischen Palästinensern und Israelis. Dies sollte ohne die Schaffung eines einheitlichen palästinensischen Staates erfolgen, hätte dieser doch die legitimen Ansprüche der Palästinenser gegenüber Israel wirksamer artikuliert, als es zwei Entitäten können, die von miteinander verfeindeten Parteien regiert werden. Avigdor Lieberman folgt dieser Logik konsequent und löst mit ihr zudem das aus der Blockade Gazas resultierende Legitimationsproblem.

Sollte es dennoch zu Raketenbeschuß auf israelisches Gebiet kommen, dann könnten die israelischen Streitkräfte sehr viel glaubwürdiger den Anspruch auf Selbstverteidigung reklamieren, als wenn sie die Palästinenser aushungern und eigene militärische Exkursionen nach Gaza unternehmen. Die Grenze nach Israel ist längst mit breitem Todesstreifen, hohem Stacheldrahtzaun und Wachtürmen, deren ferngesteuerte Maschinenwaffen jeden Versuch der illegalen Grenzüberschreitung mit tödlicher Gewalt unterbinden, so gut wie unüberwindlich gemacht worden. Bei militärischen Zwischenfällen größeren Ausmasses wäre die EU zuständig und käme womöglich nicht umhin, die militärische Vorgehensweise Israels in Gaza im Nachhinein als angemessen anzuerkennen.

Der Ärger des israelischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu über den eigenmächtigen Schritt seines Außenministers, die Welt mit diesem Plan zu überraschen, ist verständlich. Das große Potential der Idee ist nicht zu leugnen, und Lieberman kann die Urheberschaft für sie beanspruchen. Nun kommt es darauf an, die europäischen Verbündeten von der Dringlichkeit der Verwirklichung des Plans zu überzeugen.

Fußnote:

[1] http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/3601593.stm

19. Juli 2010