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FRIEDEN/1014: Siedler protestieren gegen geplante Räumung ... und greifen Palästinenser an (SB)



Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntag die Einheit Jerusalems als Hauptstadt seines Landes beschwor und sich jede äußere Einmischung in diesen angeblich ausschließlich der eigenen Souveränität unterliegenden Sachverhalt verbat, bediente er sich einmal mehr eines Opfermythos, den in Frage zu stellen einem Sakrileg gleichkommt. Netanjahu führte den hypothetischen Fall an, daß jemand die Forderung erhöbe, Juden zu verbieten, in bestimmten Gegenden von New York, London, Paris oder Rom einzukaufen oder zu wohnen. Das würde zweifellos zu einem gigantischen internationalen Aufschrei führen, so Netanjahu, der anhand dieses Beispiels erklärte, wieso ein entsprechendes Verbot für Ostjerusalem um so inakzeptabler wäre.

Der Regierungschef Israels vermischt hier auf vertraute demagogische Weise Sachverhalte, die nichts miteinander zu tun haben. So haben die Palästinenser längst erklärt, daß Juden in ihrem Staat willkommen sind, wenn sie bereit wären, sich wie jeder andere Mensch auch in seine Gesellschaft einzugliedern. Im Unterschied zur israelischen Regierung, die die Forderung an die Palästinenser stellen, vor der Anerkennung eines palästinensischen Staates müßten diese den jüdischen Charakter Israels anerkennen, soll ein palästinensisches Staatswesen säkular sein. Dementsprechend könnten ohne Probleme Juden in Ostjerusalem einkaufen und wohnen, wenn sie dem völkerrechtlichen Anspruch der Palästinenser auf diesen Teil der Stadt genügten. Sie könnten im Unterschied zur palästinensischen Minderheit in Israel, die auf unterschiedlichste Weise diskriminiert wird, vollwertige Staatsbürger eines Landes namens Palästina sein, wenn Israel nur die Bedingungen zu dessen Gründung erfüllte.

Indem Netanjahu die Diskriminierung von Juden anführt, um die Diskriminierung von Palästinensern zu rechtfertigen, greift er zu einem Propagandatrick, der sich nur aus der Position der Stärke erfolgreich anwenden läßt. Für Palästinenser ist es vollkommen zwecklos, aus der bereits erlittenen Ohnmacht heraus zu beklagen, wie ohnmächtig sie sind. Da etwa die fortwährende Aushungerung Gazas in Übereinstimmung mit den politischen Leitlinien der internationalen Gemeinschaft, sprich der Staaten der EU und Nordamerikas, erfolgt, wird das Martyrium seiner Bewohner schlichtweg ignoriert. Als vor einer Woche 218 US-Bürger, darunter viele jüdische Friedensaktivisten, nach zehntägigem Warten auf der ägyptischen Seite der Grenze nach Gaza einreisen durften, um der notleidenden Bevölkerung Hilfsgüter im Wert von einer Million US-Dollar zu überreichen, war das Ereignis westlichen Medien so gut wie keine Zeile wert. Man will weniger denn je Anlaß zu der Frage geben, was eigentlich mit den Menschen geschieht, die vor einem halben Jahr zu allem Überfluß an Not, die ihnen aus der zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre währenden, mehr oder minder strikten Versorgungsblockade ihres Freiluftgefängnisses zuteil wurde, mit einem mörderischen Bombardement überzogen wurden.

Was Palästinenser unter israelischer Besatzung auszustehen haben, entzieht sich medial reproduzierbarer Empörung, weil dieses Besatzungsregime nach wie vor von den wichtigsten Regierungen der Welt wenn nicht offen gutgeheißen, dann doch zumindest stillschweigend akzeptiert wird. Wenn die israelische Regierung nun Anstalten macht, einige Außenposten ihrer Siedlungskomplexe im Westjordanland räumen zu lassen, dann entspricht sie damit dem Druck ihres wichtigsten Verbündeten, den USA. Auf lange Sicht kann es sich keine israelische Regierung leisten, sich mit einer US-Administration ernsthaft zu überwerfen. Symbolische Zugeständnisse reichen jedoch allemal aus, um die politische Unterstützung und militärische Waffenhilfe der Vereinigten Staaten abzusichern. So ist das Thema Gaza durch den zwischen Washington und Tel Aviv ausgebrochenen Disput um die israelische Siedlungspolitik noch mehr in Vergessenheit geraten als ohnehin schon, und auch die systematische Unterminierung der palästinensischen Einheit durch die von US-General Keith Dayton ausgebildeten Polizeikräfte der Regierung in Ramallah, die mit großer Härte und bisweilen tödlicher Wirkung gegen Hamas-Mitglieder vorgehen, bleibt unterhalb der Schwelle öffentlicher Wahrnehmung.

Wenn nun israelische Siedler aus Protest gegen die mögliche Räumung einiger ihrer Vorposten im Westjordanland palästinensische Zivilisten angreifen und die Felder palästinensischer Bauern abfackeln, dann wäre einmal mehr besagter Aufschrei fällig. Allerdings vollziehen diese Siedler, wenn sie Palästinenser verletzen und ihre Lebensgrundlage zerstören, nur, was die israelischen Streitkräften ihnen in regelmäßigen Abständen vormachen, ohne daß dies zu übermäßig empörten Reaktionen westlicher Politiker und Publizisten führte. Daß die Siedler nicht etwa Einrichtungen der eigenen Regierung angreifen, die schließlich die politische Verantwortung für die geplante Räumungsaktion trägt, könnte nicht deutlicher demonstrieren, wie sehr sich beide Seiten die Bälle zuspielen. Die Siedlungspolitik der israelischen Regierung ist dafür verantwortlich, daß sogenannte illegale Außenposten - als wären die etablierten Siedlungen im völkerrechtlichen Sinne legal - überhaupt entstehen und jahrelang aufrechterhalten werden konnten. Nun soll ein Zeichen gesetzt werden, damit US-Präsident Barack Obama nicht wie ein zahnloser Tiger aussieht und alles weiterhin seinen gewohnten kolonialistischen Gang gehen kann.

Wer auf die israelische Justiz hofft, hofft vergebens, hat diese doch mit zahlreichen Urteilen bewiesen, daß Palästinenser vor ihren Schranken benachteiligt werden. Selbst wenn es zu Strafurteilen gegen Israelis, die Palästinenser umgebracht haben, kommt, dann ist das Strafmaß üblicherweise so gering, daß niemand dadurch abgeschreckt wird, es ihnen gleichzutun. Laut der Nachrichtenagentur Reuters (10.07.2009) hat Netanjahu dem deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier unter Verwendung des deutschen Originalworts erklärt, daß "Judäa und Samaria nicht judenrein" gemacht werden dürfen. Die Palästinenser, die von jüdischen Siedlern angegriffen werden, geraten in diesem Bild zu Nazis, die Juden aus einem Gebiet vertreiben wollen, das ihnen der biblischen Terminologie für das Westjordanland gemäß seit Jahrtausenden zusteht. Krasser könnte Netanjahu die Realität nicht auf den Kopf stellen, und doch steht sie kopfüber so fest wie ein Monument, an dem nicht gerüttelt werden darf.

23. Juli 2009