Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

FRIEDEN/1003: Krisengeplagte US-Bürger decken sich mit Waffen ein (SB)



Weit über eine lange zurückliegende historische Epoche oder einen bloßen Hollywood-Mythos hinaus ist der Wilde Westen ein zentrales Moment des US-amerikanischen Wesens, das Aufschluß über dessen ungeheure Durchsetzungsfähigkeit gibt. Mit der Waffe in der Hand massakrierte der Pionier die Ureinwohner, nahm das Land in Besitz und verstrickte sich in blutige Konkurrenzkämpfe mit seinesgleichen, um das Recht des Stärkeren in Einklang mit Gottes Wille zu bringen. Während an der Ostküste längst Großstädte in den Himmel wuchsen, die den Vergleich mit europäischen Metropolen nicht zu scheuen brauchten, trieben im Westen brutales Faustrecht und ungezügeltes Gewinnstreben samt einer gehörigen Portion Bigotterie die Expansion voran, die - wie wir heute wissen - nicht vor einer Herrschaftssicherung globalen Ausmaßes haltzumachen bereit ist.

Diese waffenbewehrte Behauptung des eigenen Lebens, Strebens und nicht zuletzt Besitzstands ist ein so tief verwurzelter Bestandteil der amerikanischen Kultur, daß sie in Krisenzeiten selbst in Kreisen mit Macht an die Oberfläche drängt, die sich für gewöhnlich als durch und durch friedliebend, liberal und zivilisiert verstehen. Dieses Phänomen ist gegenwärtig landesweit in den USA zu beobachten, wo die Käufe von Waffen und Munition derart emporschießen, daß die gängigsten Typen vielerorts ausverkauft und nur mit langer Lieferfrist erhältlich sind.

Nicht nur traditionelle Protagonisten freien Waffenbesitzes wie die Mitglieder von Milizen, konservativen Republikaner und anderen erklärten Verteidiger wehrhaften Bürgertums decken sich großzügig ein, sondern auch überzeugte Liberale, anzugtragende Angestellte, Frauen und sogar ältere Leute. Die Preise sind im Laufe eines Jahres um die Hälfte gestiegen, selbst Sturmgewehre sind auf Monate hinaus vergriffen und Smith & Wesson zählt mit einem täglichen Auftragsvolumen von bis zu 9 Millionen Dollar und Kursgewinnen von 70 Prozent zu den wenigen Lichtblicken an der Wall Street. (The Christian Science Monitor 13.04.09)

Nicht minder hoch im Kurs wie die Aktien der Waffenhersteller stehen die Spekulationen um die Gründe dieses Booms, der vor der Wahl Barack Obamas zum neuen US-Präsidenten begann und seither nichts von seinem Schwung eingebüßt hat. Die naheliegendste Vermutung, wonach eine um sich greifende Gewalt im Alltag den Drang zur Bewaffnung beflügelt, läßt sich zumindest anhand der Verbrechensraten nicht bestätigen. Angaben des FBI zufolge sind diese im letzten Jahr sogar rückläufig gewesen, was die Bürger jedoch nicht davon abhält, in Umfragen vom Gegenteil auszugehen, wobei eine überwältigende Mehrheit mit einer unmittelbar bevorstehenden Zunahme der Brutalität rechnet.

Der verbreitete Wunsch vieler Amerikaner, sich und ihre Familie notfalls mit einer Schußwaffe zu schützen, könnte andererseits auch mit der Erwartung zusammenhängen, eine demokratische Präsidentschaft werde dieses Recht weiter einschränken. Im Gegensatz zu Bill Clinton hat Obama jedoch nichts dergleichen angekündigt und den zweiten Verfassungszusatz sogar ausdrücklich bejaht. Auch bestätigte der Oberste Gerichtshof die Option, Haus und Hof mit der Waffe zu verteidigen. Gegner des Waffenbesitzes sind nach beachtlichen Erfolgen in der jüngeren Vergangenheit, die einen Durchbruch auf breiter Front erwarten ließen, jedenfalls konsterniert über die aktuelle Trendwende.

Eine nur auf den ersten Blick abwegige Überlegung stützt sich auf die These, man habe es bei dem aktuellen Boom in erster Linie mit einer Investition zu tun, die viele Bürger für ebenso praktisch wie krisensicher erachten. Wer derzeit auf der Suche nach Objekten ist, mit denen sich gute Geschäfte machen lassen, sieht sich in dieser Branche bestens bedient, was man für die allermeisten anderen Wirtschaftszweige gegenwärtig nicht gerade sagen kann. Allein der Krieg der Kartelle in Mexiko, der vielfach mit Waffen aus US-amerikanischer Produktion ausgetragen wird, hat einen Bedarf ausgelöst, der möglicherweise auf Jahre hinaus nicht eingedämmt werden kann, von Unruhen in den USA selbst ganz zu schweigen.

Von letzteren gehen die Milizen felsenfest aus, die sich nach einer längeren Periode ihres Niedergangs durch die jüngste Entwicklung bestätigt sehen und wieder aufzublühen scheinen. Ihrer Prognose zufolge wird der bevorstehende ökonomische Zusammenbruch eine mehr oder minder verheerende Beendigung von Recht und Gesetz nach sich ziehen und schließlich in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und wehrhaften Organisationen des Volkes münden. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß die Milizen ein breites politisches Spektrum abdecken, wobei sich traditionelle Elemente, die bis in die Zeit des Befreiungskriegs zurückreichen, mit modernen Konsequenzen einer Positionierung in der globalisierten Welt in allen erdenklichen Schattierungen durchmischen.

So verschieden und kontrovers die angedeuteten Interpretationsansätze auch anmuten mögen, scheinen sie doch in ihrer Gesamtheit die Grundbefindlichkeit einer Gesellschaft zu umreißen, die von einer langanhaltenden und tiefgreifenden Krise mit furchterregenden sozialen Verwerfungen ausgeht. Das Phänomen rapide zunehmender Bewaffnung in Krisenzeiten ist offenbar nicht neu und spiegelt wider, was der Amerikaner tut, wenn er mit dem Schlimmsten rechnen muß. Ob er die Waffe zuerst gegen seinen Nachbarn richtet, um sich im Streit worum auch immer durchzusetzen, oder sich auf Schritte verlegt, welche die Protagonisten staatlicher Ordnung fürchten müssen, ist zumindest noch nicht endgültig entschieden.

17. April 2009