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MILITÄR/842: Wende am Hindukusch? (spw)


spw - Ausgabe 1/2010 - Heft 176
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wende am Hindukusch?
Eine neue Afghanistan-Strategie lässt auch nach
der Londoner Konferenz noch auf sich warten

Von Marc Thörner


Hunderte zusätzlicher Soldaten, mehr Polizisten vor Ort, Ausstiegsprogramme für Mitläufer der Taliban. Laut Bundesregierung sind dies die Hauptpunkte einer neuen Afghanistan-Strategie. Doch was daran ist wirklich neu?

Grundlage des militärischen Engagements der ISAF-Staaten am Hindukusch ist die Idee vom bewaffneten Aufbau, das zivilmilitärische Konzept. Provinzwiederaufbauteams (PRTs) konzipieren Hilfsprogramme. Sie sollen ein "sicheres Umfeld" schaffen, in dem zivile Projekte gedeihen können oder die Soldaten selber Brücken, Straßen oder Brunnen anlegen.

Deutsche Außen- und Verteidigungspolitiker bezeichnen das PRT als modern und bahnbrechend, weil es die Militärs zu - wenn auch bewaffneten - Helfern mache.

Tatsächlich ist die Kombination von militärischem Schutz und Aufbaumaßnahmen nichts Neues.


Die Wurzeln des zivilmilitärischen Konzepts

Bürgerkrieg, ein schwacher Zentralstaat mit lediglich protokollarischen Vollmachten, Warlords, die das Land beherrschen, fanatische, religiös motivierte Aufständische - das Marokko des Jahres 1912 gleicht Afghanistan in vielen Aspekten. Auch die "ISAF" der damaligen Zeit, die französische Armee, die nach dem Beschluss europäischer Konferenzen in dem anarchischen Gebiet unweit Europas Ruhe, Frieden und einen funktionierenden Zentralstaat garantieren sollte, stand vor ähnlichen Aufgaben. Und wie die ISAF heute, verfügte sie über eng begrenzte Ressourcen.

Der "General McChrystal" dieser Zeit, der erste französische Resident, General Lyautey, stützte sein Konzept auf zwei Säulen. Erstens: den Aufbau eines neuen marokkanischen Staates, der alle Aspekte einer angestammten Tradition beinhalten sollte. Nur so, dies seine Überlegung, wäre es Frankreich möglich, von einer Bevölkerung als Schutzherr akzeptiert zu werden, die bisher keine Erfahrung mit säkularen, geschweige denn demokratischen Ideen hatte. Die Macht des Sultans musste wiederhergestellt beziehungsweise überhaupt erst aufgebaut werden, da in Marokko über Jahrhunderte vor allem lokale Kriegsherren regiert hatten. Mit anderen Worten: Im 20. Jahrhundert galt es, einen Staat aufzubauen, der den Prinzipien des 20. Jahrhunderts widerspricht, ein funktionierendes islamisches Kalifat samt "Führer der Gläubigen" und Scharia-Rechtsordnung für dessen Untertanen, einen Staat, der seines archaischen Zuschnitts wegen langfristig auf Frankreich angewiesen bleiben würde. Das erwies sich als nicht einfach, denn auch in Marokko fraß die Säure der Moderne bereits die Fundamente an; religiöse Eiferer wetterten gegen das Protektorat der Ungläubigen; begabte einheimische Intellektuelle forderten Parlamentarismus und Meinungsfreiheit. Um der Aufstandsbewegung vom Norden bis zum Süden das Wasser abzugraben, galt es aufzubauen, dem von Stammeswirren und Bürgerkrieg verelendeten Land Wohlstand und Sicherheit zu geben, für alle sichtbar und in kurzer Zeit - Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen, statt sie den Aufständischen zu überlassen.

Zu diesem Zweck erfand General Lyautey den "zivilmilitärischen Aufbau" und auch den inzwischen von den US-Militärs gern verwendeten Vergleich: "Wie ein Ölfleck" dehnten stabile Regionen sich aus, verschmolzen miteinander, Felder erblühten, Städte wuchsen, Handel und Handwerk wurden mit neuer Energie erfüllt, Moscheen und Medinas wurden renoviert, mittelalterliche Stadtmauern neu verputzt. Die Fremdenlegion sprengte Tunnel in den Fels, trassierte Straßen, die sich im Hohen Atlas bald auch durch die unwegsamsten Berge schlängelten, und schloss den stets unsicheren, unkontrollierten Süden erstmals ans Machtsystem des Sultans an. Militärs waren nicht mehr Militärs allein, sondern auch Landräte, Architekten, Ingenieure, Agrarwissenschaftler. Die Idee des Provinzwiederaufbauteams, des PRT war geboren.

"Ah! Sich abends hinzulegen und (...) (zu lesen), dass eine Aufklärungspatrouille ihr Ziel erreicht hat", so brachte Lyautey sein Credo zu Papier, "dass zwei (verlassene) Dörfer sich wieder bevölkert haben, dass unerwartet 6000 Francs an Steuern eingegangen sind, dass das Experiment, Kartoffeln anzubauen, gelungen ist, dass sich ein neuer Geschäftsmann niedergelassen hat, dass ein Markt wieder eröffnet worden ist - welch einen guten Schlaf gibt das!"


Warlords als Partner

Frankreichs Mittel an Menschen und Material blieben während zweier Weltkriege höchst begrenzt. Um den zivilmilitärischen Aufbau zwischen 1912 und 1956 durchführen zu können, verfügte man nicht über Hunderttausende von Truppen. Man bedurfte daher der Hilfe lokaler Machthaber.

Das waren vor allem die "großen Caids", die Kriegsherren, die - hinter der bloß nominellen Obermacht des Sultans - mit ihren Stammesmilizen das flache Land seit Generationen beherrschen. Die Wächter der Gebirgspässe: der Goundaffi, der M'touggi und an erster Stelle: der Glaoui, vom Hohen Atlas bis zur Sahara der Herr des marokkanischen Südens.

Schon kurz nachdem der neue Resident in Marrakesch einmarschiert war, ließ er die besiegten Stammesführer zu sich rufen. "(Das Land) muss wiederaufgebaut werden. Helft mir bei dieser Aufgabe. Ihr werdet es nicht zu bereuen haben." Die Chronik verzeichnet "zustimmendes Gemurmel" bei den versammelten Warlords.

Der Glaoui öffnete der französischen Armee seine Wege. Zügig marschierten die blauen Kolonnen an Marrakesch vorbei der Wüste zu.

Der große Warlord, der Herr des Hohen Atlas, vorher ein klassischer Lokalchef, der ein Konglomerat von Stämmen kontrollierte, wuchs unter der Ägide Frankreichs zu einem lokalen Potentaten, der sich um die traditionellen Stammessitten nicht mehr zu scheren brauchte.

Doch gerade den Zentralstaat zu schwächen, die völkerrechtlich verbriefte Macht des Sultans nur so weit zu stützen, wie er die Anordnungen des französischen Protektorats umsetzte, mithilfe der Lokalfürsten den Staatschef unter Druck setzen zu können - darin bestand Frankreichs langfristige Strategie.

Zwischen dieser und der afghanischen Szenerie von heute fallen mehrere Parallelen auf.

ERSTENS: Das "Nation Building", der Aufbau eines modernen Rechtsstaates, wie er bei der Bonner Petersberg-Konferenz konzipiert worden war, steht aus Sicht der Afghanistan-Geberländer längst nicht mehr im Vordergrund.

Eher geht es darum, Strukturen zu stärken, die sich bei der vermeintlich "traditionell orientierten afghanischen Bevölkerung" durchsetzen lassen. Bereits Ende 2007 schien das Paradigma sich vom Nation Building weg zu bewegen, hin zur Stabilisierung eines fundamentalistisch orientierten Systems.

Als im Januar 2008 Pervez Kambaksh, ein Student aus Mazar-e Sharif, dem Sitz des deutsch geführten Regionalkommandos Nord, wegen angeblicher Gotteslästerung - tatsächlich aber aufgrund einer politischen Intrige - zum Tod verurteilt wurde, verurteilten deutsche Politiker wie Niels Annen (SPD), Mitglied im Auswärtigen Bundestagsausschuss, zwar die Einschränkung der Meinungsfreiheit, forderten andererseits aber Verständnis für das andersgeartete Recht Afghanistans, das ja immerhin eine "islamische Republik" sei.

Und Anfang 2009 war ein System, das sich an internationalen Standards orientierte, offenbar auch im Berliner Bendlerblock nicht mehr die Zielvorgabe.

"Wir müssen aufpassen", so damals Thomas Kossendey (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, "dass wir den Afghanen nicht etwas überstülpen, was weder zu deren Kultur, noch zu deren Religion passt. Wir haben in der Region ja durchaus andere Länder - Saudi Arabien -, die Rechtssysteme haben, die mit unseren nicht vergleichbar sind. Und ich glaube nicht, dass es Aufgabe von ISAF ist, hier Vormund zu spielen."

Dazu passte Präsident Karzais Annäherung an fundamentalistisch-wahabitische Kräfte, die ihm die Unterstützung breiter Warlord-Kreise sichern sollte. Auf Drängen des von Saudi Arabien gestützten Oberrichters Shinwari bestätigte er eine Reihe von Juristen auf ihren Posten, die entweder bereits unter den Taliban im Amt gewesen oder der Gruppe wahabitisch orientierter Mudschaheddin entstammten.

ZWEITENS driftet das Land immer weiter auseinander. Wie in Marokko unter dem französischen Protektorat, beginnt sich in einem Teil Afghanistans eine Gegenmacht zu etablieren. Im Norden bauen die Warlords der ehemaligen Nordallianz, der Tadschikenführer und Gouverneur von Balkh, Mohammed Atta, und der Usbekengeneral Dostum ihre parallelen Machtsysteme zusehends aus.

Der ISAF gelten sie als wichtige Stabilisatoren, mit deren Hilfe man vermeintlich kräftesparend eigene Interessen durchsetzen kann.


Die Wurzeln der Aufstandsbekämpfung

2006 und 2009 veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium Feldhandbücher, in denen es der Armee die "neue Strategie" der Aufstandsbekämpfung vorgab. Zeitgleich publizierte auch die französische Armee Überlegungen, wie die Situation in Afghanistan am besten unter Kontrolle zu bekommen sei. Darin spielen viele historische Vorbilder eine Rolle, vor allem aber die Techniken, die die französische Armee im Indochina- und Algerienkrieg verwandt hat, um Aufständische von der Zivilbevölkerung zu trennen. Eine Zusammenfassung findet sich in La Guerre Moderne, verfasst von Roger Trinquier, der Ende der 1950er während der "Schlacht um Algier" dem französischen Fallschirmjägergeneral Massu zugeteilt war.

Um eine rebellische Region unter Kontrolle zu bringen, so Trinquiers Eingangsüberlegung, reicht es nicht, sie militärisch zu besetzen, denn Befestigungen, Stützpunkte und Außenposten werden immer einen defensiven Charakter tragen, werden sich immer inmitten einer Bevölkerung befinden, die der autochthonen Aufstandsbewegung Informationen über die fremden Soldaten gibt. Die Aufständischen werden sich, wie Mao Zedong sagt, wie ein Fisch im Wasser bewegen. Infolgedessen muss man sie ins Trockene bringen. Es kommt darauf an, die Bevölkerung zu gewinnen, ihre Herzen, ihre Köpfe. Man muss ihr zeigen, dass die Kooperation mit den Besatzern beziehungsweise der von ihnen gestützten Regierung ihnen mehr Vorteile bringt als der Aufstand.

Nach einer ersten, rein militärischen Phase, in der man den Gegner physisch vernichtet oder vertreibt, macht man sich ans Halten des eroberten Terrains. Dann gibt man dem "Halten" eine Tiefen-Dimension. Zu diesem Zweck schafft man in Stadt und Land eine "zivile Organisation". Man schafft sie. Unter allen Umständen. Notfalls auch durch Zwang. Als Leiter dieser Organisation bieten sich traditionelle Autoritäten an: Honoratioren, Stammeschefs, jeder junge Mann, der ehrgeizig ist und sich durch diese Zusammenarbeit ein Vorwärtskommen verspricht: mehr Geld, Vorteile für sich und seine Familie. Kooperieren die Honoratioren nicht freiwillig, bringt man sie mit Zwang dazu, was in der Regel allerdings nicht nötig ist. Der Mensch an sich ist ehrgeizig. Jeden dieser Leiter macht man zum Verantwortlichen eines genau umrissenen Sektors in der Stadt oder auf dem Land, eines Viertels, eines Dorfes, einer Gruppe von Häusern. Einige dieser Chefs werden zu Anführern einer Miliz, mit der die Bevölkerung sich selbst gegen die Aufständischen verteidigt.

Jetzt beginnt die Aufbauphase: Offiziere für Zivilangelegenheiten - in Algerien SAR oder SAU ("Section de l'Administration Rurale"/Section de l'Administration Urbaine") genannt - schwärmen aus, um die Bevölkerung für ihre Kooperation zu belohnen. Sie lancieren zivilmilitärische Projekte, vernetzen Investoren aus dem Mutterland mit den "Chefs", planen den Bau von Schulen, Straßen, Brunnen ... die Menschen müssen sehen: "Regierung" und Besatzung bringen das Land voran. Der Aufstand hingegen bringt nur Tod und Elend.

In den US-Feldhandbüchern heißt dieses Konzept Clear-Hold-Build. In dem Ende 2006 unter der Ägide von General Petreaus veröffentlichten 'Counterinsurgency' wird den PRTs eine klare Rolle zugewiesen: Die "Herzen und Köpfe" der Bevölkerung im Sinne der US-Armee zu gewinnen.

Seit Januar 2009 führt die US-Armee in der Provinz Wardak, südlich von Kabul, Experimente mit Stammesmilizen und der von Trinquier geforderten "zivilen Organisation" durch.


Ausstiegsprogramme für Taliban?

Deutsche Politiker behaupten, das deutsche PRT-Programm unterscheide sich vom US-amerikanischen unter anderem durch die zivilmilitärische Doppelspitze: Ein Diplomat und ein Oberst führen das PRT gemeinsam.

Doch diese Abweichung wird praktisch wieder dadurch nivelliert, dass die USA mit ihrem Ansatz das Geschehen auf dem ganzen afghanischen Territorium dominiert und NATO-Partnern wie Deutschland Aufgaben zuweist oder für ihre Operationen zusehends nur noch als logistische Hilfesteller nutzt.

Die PRTs - so hat sich insbesondere in Nordafghanistan erwiesen - können nur arbeiten, wenn sie sich auf die örtlichen Autoritäten stützen, also Warlords. Diese Provinzherrscher verstehen die Hilfsangebote geschickt auszunutzen, infiltrieren ganze Kohorten ihrer ehemaligen Milizen in die neue Polizeiausbildung. In Balkh zum Beispiel unterstehen Polizei und Inlandsgeheimdienst (NDS) nur nominell der Zentralmacht in Kabul. Tatsächlich behält der Warlord und Provinzgouverneur Atta sich die Besetzung aller wichtigen Posten vor. Den Drogenhandel, der ihm seinen Einfluss sichert, wickelt er mithilfe einer Polizei ab, die weniger Polizei ist, als Teil seines mafiösen Netzwerks.

Außerdem häufen sich Hinweise darauf, dass die von Deutschen ausgebildeten Polizisten, schwere Menschenrechtsverletzungen im Auftrag ihrer alten Herren begehen. Repräsentanten der paschtunischen Minderheit im Norden werfen Polizei und Geheimdienst Gouverneur Attas vor, zwischen 2008 und 2009 24 missliebige Paschtunenführer liquidiert zu haben.

In der Nachbarprovinz Sar-e Pol, ebenfalls unter dem deutsch geführten Regionalkommando Nord, klagen Angehörige der paschtunischen Minderheit ebenfalls über gezielte Morde, Vertreibungen und Landraub durch Kommandeure der Jonbehs-Miliz des dort noch immer mächtigen Usbekengenerals Dostum.

Viele Paschtunen schließen sich in Nordafghanistan
vor allem aus diesen Gründen den
Taliban an.

Ausstiegsprogramme müssten darauf angelegt sein, diese Beraubten zu entschädigen. Wenn die Abfindungen ein gewisses Maß übersteigen, dürften sie automatisch die Interessen der tadschikischen und usbekischen Warlords im Norden beeinträchtigen. Ohne die Hilfe dieser Warlords können die PRTs aber, so wie sie bisher aufgestellt sind, nicht arbeiten.

Und es ist nicht auszuschließen, dass die Zusammenarbeit zwischen ISAF-Militärs und Warlords noch ausgebaut wird. Das jedenfalls fordert ein Praktiker, Marc Lindemann, der als Nachrichtenoffizier der Bundeswehr, der bis 2009 im PRT von Kundus stationiert war, in seiner Anfang 2010 veröffentlichten Analyse "Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert". Die kolonialen Ursprünge der Aufstandsbekämpfung sind Lindemann offenbar vertraut. "Die Franzosen", schreibt er, "verfügen auf diesem Gebiet über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz aufgrund ihrer Afrika-Politik (...) Ein Teil der Lösung des Problems könnte bei den ehemaligen Warlords liegen. (...) Diese Kriegsfürsten gilt es nach einem Prinzip des Gleichgewichts und der politischen Lenkbarkeit auszuwählen, um ihnen dann die Stabilisierung eines gewissen Gebiets zu übertragen, Demokratieverständnis und Good Governance können dabei nicht im Vordergrund stehen." Als einen aussichtsreichen Partner nennt Lindemann Usbekengeneral Dostum. "Nach unseren moralischen Vorstellungen müssten wir den Mann eigentlich vor ein Gericht bringen. Dazu wird es aber nicht kommen. Sein Vorteil ist, dass er kein religiöser Fanatiker ist, sondern als eine Person gilt, die weltlichen Freuden durchaus zugetan ist. Wenn es also gelänge, einen Machthaber wie Dostum unter westlicher Kontrolle zu halten, und ihm die Sicherheit des eines vorher verabredeten Gebiets zu übertragen, könnte man dort Stabilität erreichen, ohne eigene Truppen einsetzen zu müssen."

FAZIT: Eine wirklich neue Strategie ist nicht erkennbar. Erfolg könnte sie nur dann versprechen, wenn die zuvor beschriebenen Widersprüche zwischen Warlord- und Bevölkerungsinteressen aufgelöst würden.

Dazu müsste der Begriff des Feindes neu definiert, die Strukturen der Kriegsherren müssten zerschlagen werden. Die Voraussetzungen dafür sind deshalb gut, weil die despotischen Lokalherrscher bei der Bevölkerung unpopulär, ja sogar verhasst sind.

Anzunehmen, sie besäßen außer ihrer mafiös organisierten Macht auch noch Macht über die Herzen und Köpfe, wäre ein Denkfehler - ebenso wie die Gleichsetzung einer wahabitischen Gesellschaftsordnung mit der vermeintlichen afghanischen Kultur. Religiös gesehen ist die afghanische Kultur vom eher weitherzigen Sufismus beeinflusst, und bevor Saudi Arabien, die USA und Pakistan zum Kampf gegen die Sowjetunion den Wahabismus in die Region exportierten, herrschte ein anderes Rechtssystem als heute. (Das letzte Todesurteil wegen Gotteslästerung war in den 1920er Jahren gefällt worden.)

Sieht man die Warlords nicht länger als Verbündete, sondern begreift sie als Gefahr, könnte der Zentralstaat gestärkt und von der Abhängigkeit durch die alten Mudschaheddin-Kämpen befreit werden. Vorausgesetzt, die US-amerikanischen Strategen, von denen alles abhängt, wollen das.

Nicht unwahrscheinlich ist, dass ihnen ein "Teile und Herrsche"- Konzept vorschwebt - mit einer Vielzahl lokaler Machtzentren, die sich im Sinne langfristiger geostrategischer Interessen gegen die Zentralregierung und gegeneinander ausspielen lassen.


Marc Thörner, Jahrgang 1964, seit 1994 freier Journalist mit Spezialgebiet islamische Länder. Berichtet, vor allem im Auftrag des ARD-Hörfunks, aus Nordafrika, den Golfstaaten, dem Irak, Pakistan und Afghanistan. 2009 mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus ausgezeichnet. Ende Februar erscheint sein Buch "Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie", Nautilus-Verlag Hamburg.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2010, Heft 176, Seite 26-31
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2010