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MILITÄR/822: Verantwortung wahrnehmen - jetzt atomar abrüsten (VDW e.V.)


"Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.) - 4. Juni 2009

Verantwortung wahrnehmen - jetzt atomar abrüsten


Aus Anlass des Besuches von US-Präsident Barack Obama in Deutschland wendet sich die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler an den US-Präsidenten und die deutsche Bundeskanzlerin mit der Aufforderung:

• "Die Gunst der Stunde nutzen: Verantwortung wahrnehmen, jetzt atomar abrüsten."

• Wissenschaftsorganisation sagt Unterstützung zu

"Bundeskanzlerin A. Merkel und Außenminister F.-W. Steinmeier sollten rasch einen gemeinsamen Aktionsplan vorstellen, der detailliert und zeitnah ausführt, wie die Bundesrepublik Deutschland und ihre politischen und wissenschaftlichen Institutionen an der Initiative einer atomwaffenfreien Welt mitwirken können. Als ersten Schritt in diese Richtung sollten die Bundeskanzlerin und der US-Präsident den vollständigen sofortigen Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland verabreden."

Aus der Tradition der "Göttinger 18" heraus, bietet die VDW, die Unterstützung und das Mitwirken der Wissenschaft beim Abrüstungsprozess an.
"Die deutsche Wissenschaft ist aufgefordert, sich an den verbesserten Verifikationssystemen für spaltbares Material und einer effizienten Verifikation künftiger Rüstungskontrollabkommen zu beteiligen. Wir erwarten von der Bundesregierung, der Wissenschaft die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um dem Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen näherzukommen."


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Erklärung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) anlässlich des Besuchs von US-Präsident Barack Obama in Deutschland

Die Gunst der Stunde nutzen: Verantwortung wahrnehmen, jetzt atomar abrüsten

Die VDW begrüßt ausdrücklich die strategische Initiative von US Präsident Obama zur Wiederbelebung globaler Rüstungskontrollen und Abrüstung mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt und erklärt ihre Bereitschaft, daran mitzuwirken. Die deutsche Wissenschaft ist aufgefordert, sich an den verbesserten Verifikationssystemen für spaltbares Material und einer effizienten Verifikation künftiger Rüstungskontrollabkommen zu beteiligen. Wir erwarten von der Bundesregierung, der Wissenschaft die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um dem Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen näherzukommen. Bundeskanzlerin A. Merkel und Außenminister F.-W. Steinmeier sollten rasch einen gemeinsamen Aktionsplan vorstellen, der detailliert und zeitnah ausführt, wie die Bundesrepublik Deutschland und ihre politischen und wissenschaftlichen Institutionen an der Initiative einer atomwaffenfreien Welt mitwirken können. Als ersten Schritt in diese Richtung sollten die Bundeskanzlerin und der US-Präsident den vollständigen sofortigen Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland verabreden.

Seit ihrer Gründung vor fünfzig Jahren setzt sich die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) kontinuierlich für nukleare Abrüstung und damit eine friedlichere, atomwaffenfreie Welt ein. Achtzehn führende deutsche Kernphysiker darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl Friedrich von Weizsäcker haben am 12. April 1957 in der "Göttinger Erklärung" den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf jeglichen Atomwaffenbesitz gefordert. Im Rahmen der "Pugwash Conferences on Science and World Affairs", deren deutsche Sektion die VDW ist, haben zahllose Wissenschaftler und Wissenschafterinnen über Jahrzehnte friedenspolitische, völkerrechtliche und technische Grundlagen für eine atomwaffenfreie Welt erarbeitet. Sie waren durch Kooperationen, Workshops und Gespräche über alle Blockgrenzen hinweg an der Beendigung des Kalten Krieges ebenso beteiligt wie an der Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle und der konventionellen wie nuklearen Abrüstung. Präsident Obama hat in seiner Prager Rede vom 8. April 2009 darauf verwiesen, dass sich zwar "die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs verringert hat, aber dass das Risiko eines atomaren Angriffs gestiegen ist." In den Arsenalen der Nuklearwaffenstaaten existieren heute immer noch zu viele Nuklearwaffen und zuviel spaltbares Material. Die Missachtung des Abrüstungsgebots des NPT-Vertrages durch die Nuklearwaffenstaaten ist einer der Hauptgründe für andere Staaten, selbst Atomwaffen anzustreben. Das Nonproliferationsregime (Nichtverbreitungsregime) steht auch nach dem zweiten Nukleartest Nordkoreas unter Druck. Die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in regionalen Konflikten ist besorgniserregend aktuell ebenso wie die Möglichkeit eines Terrorismus mit Atomwaffen. Am 9. Januar dieses Jahres haben sich vier renommierte Politiker der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher in Übereinstimmung u.a. mit früheren Außenministern der USA für die Vision einer atomwaffenfreien Welt ausgesprochen und drastische Reduktionen der Nukleararsenale ebenso gefordert wie den Abzug der US-amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa und den Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durch die Nuklearwaffenstaaten. Alle diese elder statesmen wissen inzwischen ebenfalls, dass Nuklearwaffen die Sicherheit der Staatengemeinschaft nicht erhöhen, sondern verringern.

Aus unserer Sicht sind die folgenden Punkte von besonderem Gewicht:
1. Strategische Abrüstung im Rahmen des START-Prozesses und Raketenabwehr
Für die globale Abrüstungsdebatte ist es von entscheidender Bedeutung, dass im Rahmen des START-Prozesses die nukleare Abrüstung zwischen den USA und Russland zu konkreten und tiefgreifenden Reduktionen der nuklearen Arsenale führt. Eine verifizierbare Obergrenze von weniger als tausend strategischen Nuklearsprengköpfen pro Seite sollte noch in diesem Jahr auf vertraglicher Grundlage beschlossen werden. Dies kann als Signal für weitere nukleare Abrüstung unter Einbeziehung aller Nuklearwaffenstaaten wirken. Mit der Abrüstung verbunden ist auch ein Verzicht auf strategische Raketenabwehr. Solange vom Iran keine Bedrohung durch nuklearbestückte Raketen ausgeht, ist ein Stationierungsbeschluss für Raketenabwehr in Europa nicht nötig. Da die technische Funktionsfähigkeit des US-Raketenabwehrsystems berechtigterweise in Zweifel steht, sollte diese durch unabhängige Instanzen geprüft werden. Dieses bodengestützte Abwehrsystem bietet keine Aussicht auf eine Verteidigung der USA oder Europas durch einen realen Raketenangriff aus dem Mittleren Osten, erzeugt eine illusionäre Sicherheit und sollte abgebrochen werden, da es Russland und China unnötig provoziert. Eine Kooperation auf dem Sektor der Raketenabwehr zwischen den USA, Russland und Europa sollte ernsthaft angestrebt werden.

2. Vollständiger Verzicht auf taktische Nuklearwaffen
Im Rahmen der Überprüfung des Strategischen Konzeptes der NATO müssen alle taktischen Nuklearwaffen der NATO abgezogen werden. Nuklearwaffen, die für den unmittelbaren Einsatz auf dem Gefechtsfeld konzipiert sind, dürfen nicht mehr Bestandteil von Militärdoktrinen sein. Die vorhandenen taktischen Nuklearwaffen der USA und Russlands müssen auf Grundlage eines Rüstungskontrollabkommens zwischen den USA und Russland verifizierbar vollständig abgerüstet und zerstört werden. Bis heute ist weder ihre genaue Zahl noch ihre Sicherheit bekannt. Diverse Vorfälle zeigen deutlich, dass die Lagerung dieser Waffen, nicht sicher ist.

3. Ratifizierung des CTBT und Schaffung eines Kontrollsystems für spaltbare Materialien
Die schnelle und erfolgreiche Ratifikation des Umfassenden Nuklearteststoppvertrages CTBT durch den US-Kongress wird den Weg für ein Inkrafttreten des CTBT ebnen. Die Technologie zur Überprüfung eines globalen Verbots von Nukleartests ist heute weitgehend vorhanden. Eine rechtsgültige Norm, die das Testen von Nuklearwaffen vollständig und vertraglich gesichert verbietet, hätte Einfluss auf die Staaten, die bisher noch nicht Mitglieder des Nichtverbreitungsregimes sind. Das Ende der Produktion von gefährlichem spaltbaren Material (Fissile Material Cut-Off) und die Ausarbeitung eines funktionierenden Verifikationssystems ist ein weiteres wichtiges globales Rüstungskontrollziel. Die Wiederaufnahme der Arbeit der Genfer Abrüstungskonferenz erhöht auch die Möglichkeit, vertragliche Maßnahmen für die Verhinderung einer Bewaffnung des Weltraums auszuarbeiten, die in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt wurden. Das Verbot von Weltraumwaffen liegt im Interesse aller Staaten und sichert die ausschließlich friedliche Nutzung des Weltraums durch die internationale Gemeinschaft.

4. Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages und die Nuklearwaffenkonvention
Ein Erfolg der anstehenden Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Jahr 2010 ist für das nukleare Nichtverbreitungsregime von großer Bedeutung. Eine schnelle Belebung der Sechs-Parteien-Gespräche zur Lösung der Nuklearproblematik in Nordost-Asien und die Aufnahme des direkten Dialoges mit dem Iran bilden die Voraussetzung für die Deeskalierung und schließliche Lösung beider Nuklearkrisen. Das Aushandeln von Sicherheitsgarantien und die überprüfbare Verifikation umstrittener Nuklearanlagen und spaltbaren Materials durch die IAEO können ebenfalls zur Entschärfung der Situation beitragen. Die Einführung einer Zone im Mittleren Osten, die frei von Massenvernichtungswaffen ist, sollte konkret durch die USA und die Europäische Union diplomatisch, technisch und wirtschaftlich verfolgt werden. Die Ambivalenz der Nuklearenergie kann nur durch verstärkte Kontrollen, die Erhöhung der Proliferationsresistenz und den vollständigen Verzicht auf militärische Nuklearprogramme vermindert werden. Eine konsequente politische, gesellschaftliche und technologische Umorientierung auf erneuerbare Energien ist geeignet, langfristig die Nutzung spaltbaren Materials für energetische Zwecke zu beenden. Die Schaffung einer Nuklearwaffenkonvention, die den Besitz und den Einsatz von Nuklearwaffen verbietet, bildet den Bezugsrahmen, um das Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu erreichen. Das Verbot des Einsatzes von Nuklearwaffen muss als völkerrechtliche Norm etabliert werden.

5. Stärkung konventioneller Rüstungskontrolle in Europa und neue Sicherheitsstrukturen
Eine Wiederbelebung von Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa ist essenziell. Seit Ende des Ost-West-Konfliktes hat sich insbesondere in Europa eine einzigartige Rüstungskontrollarchitektur und ein umfassendes Verifikations- und Inspektionssystem auch im Bereich konventioneller Bewaffnung herausgebildet, das jedoch in den letzten Jahren nicht weiterentwickelt sondern marginalisiert wurde. So wurden die "Eckpfeiler der europäischen Sicherheit", der angepasste Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (AKSE) von den NATO-Staaten nicht ratifiziert und der Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE-Vertrag) von Russland suspendiert. Nach einem verlorenen Jahrzehnt besteht die dringende Aufgabe darin, die konventionelle Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Der Vorschlag von Präsident Medwedjew für eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur bildet einen guten Ansatzpunkt gemeinsam neue Sicherheitsbeziehungen mit Russland auf der Grundlage der OSZE zu entwickeln.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 4. Juni 2009
Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.)
Schützenstr. 6a, 10117 Berlin
Telefon: +49 30 21234056, Fax: +49 30 21234057
E-Mail: info@vdw-ev.de
Internet: www.vdw-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009