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DEMOGRAPHIE/282: Auf das Wachstum der Weltbevölkerung gibt es keine einfachen Antworten (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 1/2012

Zeichen der Zeit
Auf das Wachstum der Weltbevölkerung gibt es keine einfachen Antworten

Von Johannes Müller



Die Weltbevölkerung hat Ende 2011 die Grenze von 7 Milliarden überschritten. Nur eine differenzierte und regionalspezifische Sichtweise erlaubt ein begründetes ethisches Urteil und ein verantwortungsvolles Handeln. So wenig es einfache Antworten auf das Bevölkerungsproblem gibt, so wenig darf auch die Kirche die Menschen damit allein lassen.


In der öffentlichen Diskussion ist das Bevölkerungsproblem ein oft angesprochenes und kontroverses Thema. Die dabei geäußerten Meinungen sind freilich vielfach wenig begründet. Einerseits sieht man im Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt die Hauptursache für fast alle Probleme der heutigen Welt, angefangen von der Armut bis hin zu steigenden Preisen für Nahrungsmittel. Andererseits sieht man schwarz für die Zukunft vieler Industrieländer angesichts ihres Bevölkerungsrückgangs. Derartige Pauschalurteile sind jedoch wenig hilfreich, denn sie werden der Vielfalt der Probleme, ihrer Verflochtenheit und teils widersprüchlichen Trends in keiner Weise gerecht. Sie haben mehr mit Glaubenssätzen gemein als mit einer nüchternen Analyse der Ursachen, Auswirkungen und Handlungsmöglichkeiten. Nur eine differenzierte und regionalspezifische Sichtweise erlaubt ein begründetes ethisches Urteil und ein verantwortungsvolles Handeln. Dazu muss man mit den Fakten beginnen.


Die Weltbevölkerung hat laut Vereinten Nationen Ende 2011 die Grenze von 7 Milliarden überschritten. 1960 lebten erst 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Allein in den letzten 13 Jahren hat die Weltbevölkerung um eine Milliarde zugenommen. Für das Jahr 2050 sind etwa 9,3 Milliarden Menschen zu erwarten. Diese Zahlen verweisen auf einen bedrohlichen Tatbestand, der oft viel zu wenig wahrgenommen wird - zumal wenn man bedenkt, dass sie noch weit höher wären, wenn es in den letzten Jahrzehnten keine recht erfolgreiche Bevölkerungspolitik gegeben hätte. Eine schnell wachsende Weltbevölkerung erschwert schon heute die Lösung vieler globaler Probleme, angefangen von Armut, Hunger und Urbanisierung bis hin zum Klimawandel und zum Kampf um knappe Ressourcen.

Zumindest längerfristig darf die Weltbevölkerung daher nicht weiter zunehmen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Erde begrenzt ist und folglich nur einer begrenzten Anzahl von Menschen den nötigen Lebensraum und Lebensunterhalt bieten kann, auch wenn diese Grenzen beziehungsweise eine optimale Größe der Weltbevölkerung nur schwer zu bestimmen sind. Berücksichtigt man außerdem die Interessen zukünftiger Generationen - ein Gebot langfristiger Solidarität -, so wäre es auf jeden Fall unverantwortlich, sich allzu schnell diesen Grenzen zu nähern.

Aus diesem Grund ist eine aktive und vorausschauende Bevölkerungspolitik ein politisches wie sozialethisches Gebot. Dies gilt umso mehr, als das "demographische Moment" beziehungsweise der "Kindeskind-Effekt" Geburten beschränkende Maßnahmen immer erst längerfristig wirksam werden lässt. Selbst wenn die weltweite Geburtenhäufigkeit (Fertilität) schlagartig auf das Ersatzniveau von 2,1 lebendgeborener Kinder pro Frau zurückginge, würde die Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten noch um insgesamt fast 50 Prozent zunehmen. Gerade wenn man Zwangsmittel ablehnt und ethisch nicht für vertretbar hält, muss man für eine wirksame Bevölkerungspolitik heute eintreten. Da die Bevölkerungsentwicklung jedoch von primär individuellen Entscheidungen abhängt, bietet diese Erkenntnis nur einen sehr allgemeinen bevölkerungspolitischen Handlungsrahmen.


Außerdem ist es nicht genug, die globalen Zahlen zu betrachten. So liegen die Zuwachsraten in den Entwicklungsländern (ohne China) bei 1,7, in den Industrieländern dagegen bei 0,2, in Europa bei 0,0 Prozent. Am höchsten ist sie in den allerärmsten Ländern, etwa in Afrika südlich der Sahara mit 2,5 Prozent, was zu einer Verdoppelung der Bevölkerung in 28 Jahren führen würde, wenn sie nicht sinkt. In Lateinamerika liegt sie bei 1,3 und in Ostasien bei 0,5 Prozent. Aber selbst innerhalb einzelner Länder gibt es krasse Unterschiede. So ist etwa die Bevölkerung Indonesiens von 1961 bis 2010 von 97 auf 240 Millionen gewachsen. Der Bevölkerungszuwachs hat sich jedoch dank erfolgreicher Familienplanung von 2,4 in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts auf heute 1,3 Prozent verringert.

Das größte Problem ist jedoch die Bevölkerungsverteilung. Fast 60 Prozent der Indonesier leben auf der Insel Java mit nur knapp 7 Prozent der Landfläche. Die Bevölkerungsdichte beträgt 120 Einwohner pro Quadratkilometer, in Java sind es dagegen fast 1000 (Deutschland 230). Umgekehrt leben in Papua (Westneuguinea) weniger als 10 Einwohner pro Quadratkilometer. Ähnlich vielfältig und unterschiedlich sind die sozio-kulturellen Bedingungen in Indonesien, das Hunderte von Völkern, Kulturen und Sprachen umfasst und auch religionssoziologisch sehr heterogen ist.

In den Industrieländern (besonders Europa), zunehmend aber auch in Schwellenländern wie China, gibt es dagegen eine stagnierende oder rückläufige Bevölkerungszahl bei steigender Lebenserwartung. Dies bringt erhebliche Probleme mit sich, im wirtschaftlichen Bereich vor allem für den Arbeitsmarkt, die Rentensysteme und die Gesundheitsversorgung. Zuwanderung in größerem Umfang könnte zwar eine Entlastung bringen, was aber auf erhebliche Widerstände stößt, nicht zuletzt, weil man befürchtet, dies werde die schon bestehenden Probleme der Integration und kulturell-religiösen Vielfalt verstärken.


Geburtenbeschränkung darf nie zum Selbstzweck werden

Die Bevölkerungsentwicklung ist überdies nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem. Je nach Wirtschaftsweise, Lebensstil und technologischer Entwicklung bietet die Erde mehr oder weniger Menschen einen zuträglichen Lebensraum. Hauptsächlicher Risikofaktor ist das Wohlstandsmodell der reichen Länder; denn wenn alle Menschen in gleichem Maß Ressourcen verbrauchen und die Umwelt belasten würden, wäre die Erde schon heute unbewohnbar und insofern "überbevölkert" - so man diesen fragwürdigen Begriff verwenden will.


Da dieses Modell große Anziehungskraft ausübt und andere Länder mit gutem Recht einen ähnlichen Wohlstand anstreben, geht von ihm eine gefährliche Dynamik aus. Letztlich geht es dabei um ein Verteilungsproblem zwischen Reich und Arm. Einziger ethisch verantwortbarer Ausweg ist ein ressourcen- und emissionsarmes Wirtschaftsmodell für alle. Dazu braucht es nicht nur technologische Innovationen (beispielsweise eine weit höhere Ressourceneffizienz), sondern ebenso wichtig sind neue Leitbilder, was Wohlstand und Lebensstil betrifft.

Global gesehen ist eine stagnierende beziehungsweise "stationäre" Bevölkerungszahl anzustreben, was eine aktive Bevölkerungspolitik mit dem Ziel der Beschränkung der Geburten erfordert. Diese darf aber nie zum Selbstzweck werden, sondern ist stets von übergeordneten Erfordernissen und Wertprämissen her zu begründen und ethisch zu rechtfertigen. Mehr Menschen sind nämlich nicht grundsätzlich unerwünscht und müssen nicht notwendig Probleme schaffen. Normativer Maßstab sollte es sein, menschliches Leid in einem ganzheitlichen Sinn - also physisches wie nicht-physisches Leid - so weit als möglich zu überwinden und besser noch zu verhindern.

Fundamentalste Form solchen Leides ist die Bedrohung menschlichen Lebens, nicht nur durch Gewalt und Kriege, sondern auch durch menschenunwürdige Bedingungen wie extreme Armut oder Hunger. Man kann auch von den Menschenrechten her argumentieren, die bürgerliche und politische (Zivilpakt) wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) umfassen. Diese Leitprämisse kann, besonders bei einer Abnahme der Zahl der Bevölkerung, auch eine geburtenfreundliche Bevölkerungspolitik nahelegen.


Diese ethische Grundprämisse impliziert, dass die Menschen selbst Ausgangspunkt, Ziel und Subjekt aller Entwicklung sind. Dies wiederum erfordert eine Politik der "Entwicklung von unten", welche die freie Selbstbestimmung der Menschen achtet und durch geeignete Rahmenbedingungen ihr Handlungsvermögen stärkt sowie ihre aktive Partizipation fördert, nicht erst bei der Durchführung politischer Maßnahmen, sondern bereits bei der Entscheidungsfindung. Dies gilt auch für Programme zur Familienplanung. Gerade bevölkerungspolitische Maßnahmen verlangen, wenn sie nicht schweres Leid verursachen sollen, eine genaue Kenntnis der Situation der Menschen, ein Ernstnehmen ihrer Werte sowie viel Einfühlungsvermögen.

Bevölkerungspolitik sollte daher immer nur Anreize für weniger (beziehungsweise auch mehr) Kinder geben. Auf keinen Fall darf physischer oder anderer Zwang ausgeübt werden, da sich dies längerfristig fast immer gegenteilig auswirkt, ganz zu schweigen davon, dass ein so tiefer Eingriff in die Privatsphäre ethisch höchstens im äußersten Notfall zu rechtfertigen wäre. Entscheidend ist es daher, die Menschen positiv zu motivieren, das heißt ihnen überzeugend zu vermitteln, dass eine geringere Kinderzahl in ihrem eigenen Interesse liegt, besonders was die Gesundheit der Mütter und die Zukunft der Kinder angeht.

Es ist daher falsch, Familienplanung auf den Gebrauch von Verhütungsmitteln zu reduzieren. Jede Bevölkerungspolitik muss von den Bedürfnissen, Werten und Wünschen der Menschen ausgehen, die meist sehr rational abwägen, welche Vor- und Nachteile ihnen weitere Kinder bringen. Und sie muss basisnahe sein, denn nur so können sie die notwendigen positiven Erfahrungen machen und sich überzeugen, dass die gemachten Versprechen eingehalten werden.

Im Hinblick auf die ethische Verantwortbarkeit der Mittel der Geburtenplanung sind eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Aspekte zu berücksichtigen, so dass es auch zu Wertkonflikten kommen kann. Sie müssen zuverlässig, medizinisch unbedenklich und nach Möglichkeit reversibel sein. Auf keinen Fall dürfen sie gegen den Schutz des Lebens verstoßen, weshalb (zumindest theoretisch) weltweiter Konsens besteht, dass Schwangerschaftsabbruch kein Mittel zur Bevölkerungskontrolle ist. Sie müssen dem kulturellen Kontext, den Lebensumständen und den Wünschen der betroffenen Menschen angepasst sein. Die Paare müssen nicht nur in ihrer generativen Entscheidung, sondern auch in der Wahl der Methoden frei sein, da sie am besten beurteilen können, was ihnen am zuträglichsten ist. In der Praxis kann man darum nur versuchen, in jedem Einzelfall die spezifischen Vor- und Nachteile jeder Methode ehrlich zu benennen und abzuwägen.

Unter sozialethischer Rücksicht ist es sehr wichtig, dass alle Bevölkerungsschichten Zugang zur Familienplanung haben. Darum müssen stets auch Methoden angeboten werden, von denen man vernünftigerweise annehmen kann, dass sie auch von den Armen anwendbar sind, denn erstens ist menschliches Leben durch extreme Armut und eine zu hohe Fertilität oft gefährdet, zweitens ist jede Bevölkerungspolitik zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht auch die Armen erreicht, und drittens haben auch die Armen ein Recht auf Familienplanung. Dieser Maßstab erfordert Mittel zur Empfängnisverhütung, die billig, leicht erhältlich und möglichst einfach anwendbar sind.

Eine armenorientierte Entwicklungspolitik ist die effektivste Bevölkerungspolitik

"Natürliche Familienplanung" wie auch die "Pille" werden diesem Anspruch in der Regel kaum gerecht, da sie eine Lebensweise und einen Bildungsstand voraussetzen, die unter Bedingungen extremer Armut kaum gegeben sind. Zudem brauchen gerade die Armen, die weniger Kinder wünschen, in autoritätsgeleiteten Gesellschaften ehrliche Beratung und uneigennützige Hilfe. So sehr dabei die Freiheit persönlicher Gewissensentscheidung immer zu achten ist, so wenig sollte man erbetene Entscheidungshilfen verweigern, da sich die Menschen dann andere, oft fragwürdige Ratgeber suchen. Umso wichtiger ist die Ausbildung von Fachpersonal, das einfühlsam und verantwortungsvoll berät.


Eine Abnahme des Bevölkerungswachstums schafft nicht automatisch menschenwürdige Verhältnisse für alle. Familienplanungsprogramme sind daher nur sinnvoll und ethisch rechtfertigbar, wenn sie Teil von Entwicklungsprogrammen sind, welche vor allem die Armutsbekämpfung zum Ziel haben. Solche Programme müssen auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse, eine gerechtere Einkommensverteilung und mehr Mitspracherechte ausgerichtet sein. Besonders wichtig ist eine Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse, auch weil die Gesundheit der Kinder und der Familie überall einen hohen Motivationswert hat. Eine armenorientierte Entwicklungspolitik ist umgekehrt zugleich die effektivste Bevölkerungspolitik, denn Armut ist ein Hauptgrund für den Wunsch nach vielen Kindern.


Eine Schlüsselrolle in der Familienplanung spielen die Frauen, denn sie haben die Belastung der Schwangerschaft und häufig auch des Aufziehens der Kinder zu tragen. Sie sind daher meist mehr als die Männer an Geburtenkontrolle interessiert, können aber diesen Wunsch nur durchsetzen, wenn sie ihre gesellschaftlich meist untergeordnete Rolle durch mehr Chancen in allen Lebensbereichen, beispielsweise Bildung und Berufsmöglichkeiten, verbessern können.

Eine Politik, welche die gesellschaftliche Stellung der Frauen verbessert, ist daher sowohl ein ethisches wie ein entwicklungspolitisches Gebot. Mehr Rechte für Frauen stellen nämlich einen Eigenwert dar, sie sind aber auch funktional bedeutsam, weil Frauen besonders viel zur Bekämpfung der Armut beitragen. Ebenso wichtig sind freilich Einstellungsänderungen der Männer als Voraussetzung einer partnerschaftlich-verantwortlichen Elternschaft.


Allerdings können durch Bevölkerungspolitik auch neue Probleme entstehen, die spezifische zusätzliche Maßnahmen erfordern. So gibt es in China und Südasien etwa 100 Millionen Frauen weniger, als "natürlicherweise" zu erwarten wäre (missing women). Dies ist eine Folge geschlechtsspezifischer Abtreibungen und Kindestötungen. Zumindest in Teilen Chinas hat dies teilweise zu einem enormen Männerüberschuss geführt, was ein erhebliches Konfliktpotenzial für die Zukunft darstellt. Derartige Fragen dürfen politisch nicht ausgeblendet bleiben und zeigen, dass sozio-kulturelle Traditionen ambivalent sind und manchmal im Widerspruch zu grundlegenden Menschenrechten stehen.

Viele Menschen und auch die Religionen stehen diesen Entwicklungen recht hilflos und oft sprachlos gegenüber. Dies gründet auch im kollektiven Gedächtnis der Menschheit - in armen noch weit mehr als in reichen Ländern. Bis in die jüngste Geschichte der Menschheit bestand das Hauptproblem nämlich darin, den Fortbestand von Bevölkerungen zu sichern, der durch Naturkatastrophen, Krankheiten und Kriege immer wieder gefährdet war. Für einige Länder besonders im südlichen Afrika, in denen sich die Lebenserwartung infolge von AIDS teils um weit über 20 Jahre verringert hat, gilt dies auch heute wieder. Erst im 19. Jahrhundert kam es dank moderner Hygiene und Medizin zu einer gegenläufigen Entwicklung.


Der Einfluss der Religionen wird meist weit überschätzt

Damit sind bisher nicht gekannte Herausforderungen entstanden, die andere Antworten und Lösungen verlangen als in der Vergangenheit. Dies betrifft besonders das Ziel der Empfängnisverhütung und die Methodenwahl, was Fragen betrifft, die auch traditionelle Lehren und Moralprinzipien berühren. Umgekehrt beeinflussen die Religionen das generative Verhalten ihrer Anhänger und können staatliche Bevölkerungspolitik erheblich behindern. Dies gilt keineswegs nur für die Sexualethik, sondern oft noch mehr für sozialethische Vorstellungen über Familie, Ehe, Rolle der Frauen oder persönliche Selbstbestimmung. Auch die Religionen müssen sich daher prüfen, ob ihre Traditionen und moralischen Normen, besonders bezüglich Familienplanung, zur Befreiung von Leid beitragen oder aber dieses Ziel behindern.


Die kirchliche Lehrverkündigung im "bevölkerungspolitischen Abseits"

Alle großen Religionen erkennen heute die Notwendigkeit von Geburtenplanung an, allerdings mit abweichenden Meinungen von teilweise erheblichem Gewicht. Übereinstimmung besteht weithin in der Ablehnung von Schwangerschaftsabbruch (in gewissem Umfang auch von Sterilisation) als Mittel der Familienplanung. Sehr viel heterogener sind die Ansichten über sonstige Methoden, vor allem aber zur Geschlechterbeziehung und ähnlichen Fragen, die das reproduktive Verhalten indirekt sehr beeinflussen.

Der direkte Einfluss der Religionen wird freilich meist weit überschätzt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass zwischen den Variablen Religion und Geburtenhäufigkeit keine klare Korrelation besteht. Dies ist damit zu erklären, dass viele Gläubige die Vorschriften ihrer Religion nicht kennen, sie sehr flexibel interpretieren oder sich nicht an sie gebunden fühlen, so dass sie in ihrem generativen Verhalten faktisch vor allem von sozialen und ökonomischen Umständen bestimmt werden. Dies mag im Fall sehr restriktiver Lehren Probleme lösen helfen, kann aber auch zum völligen Verzicht auf ethische Erwägungen führen.


Ethisch-moralische Urteile zur Bevölkerungspolitik und Familienplanung sind nur dann verantwortungsbewusst und hilfreich, wenn sie sachlich begründet sind, das heißt die oft komplexen empirischen und theoretischen Ergebnisse der Demographie und Bevölkerungssoziologie in ihre Überlegungen einbeziehen. Dabei ist besonders eine Engführung auf die Sexualethik zu vermeiden, denn das Bevölkerungsproblem ist primär ein sozialethisches. Die Religionen müssen besonders darauf achten, dass ihre bevölkerungsethischen Aussagen nicht ihren sonstigen sozialethischen Prinzipien widersprechen, etwa dem Schutz menschlichen Lebens im umfassenden Sinn, einer menschenwürdigen Entwicklung für alle (besonders für die Armen), der sozialen Gerechtigkeit oder der Bewahrung der Schöpfung.

Wenn nun ein ungebremstes Bevölkerungswachstum diese Ziele nachweisbar gefährdet und nur eine wirksame Geburtenkontrolle einen Ausweg bietet, dann ist ihre Ablehnung kaum einsichtig begründbar. Dies gilt vor allem für Länder mit hoher Bevölkerungsdichte oder mit einem sehr hohen Bevölkerungswachstum, in denen die Religionen ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn sie von Politik und Wirtschaft die Bekämpfung der Armut verlangen, gleichzeitig jedoch alle gangbaren Wege zur Verminderung des Bevölkerungszuwachses ablehnen und verurteilen.

Im Fall scheinbar unüberbrückbarer Meinungsunterschiede bezüglich Bevölkerungspolitik sollten religiöse Führer wissenschaftlich gut begründete Positionen und eine sich darauf stützende Politik nicht als unmoralisch verwerfen, sondern zumindest das Prinzip des kleineren Übels gelten lassen, zumal wenn schnelles Handeln erforderlich ist und sie keine echte Alternative aufzuzeigen imstande sind. Umgekehrt bietet eine solche Situation eine Chance zum interdisziplinären Dialog aller, deren zentrales Anliegen der Schutz menschlichen Lebens ist, was den Einsatz für menschenwürdige Lebensbedingungen überall auf der Welt und heute auch mehr denn je für künftige Generationen einschließt.

Die Bevölkerungsentwicklung und die damit verbundenen Probleme gehören sicher zu den "Zeichen der Zeit" (Pastoralkonstitution "Gaudium und spes", Nr. 4). So wenig es einfache Antworten gibt, wie schon die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Probleme zeigt, so wenig darf die Kirche die Menschen dabei allein lassen. Dies bleibt allerdings weiterhin ein offenes Desiderat. Schon vor 20 Jahren hat Kardinal Joseph Ratzinger zu Recht festgestellt: "Auch zum Weltbevölkerungsproblem ist vom kirchlichen Lehramt bisher, soweit ich sehe, noch nicht viel Hilfreiches gesagt worden" (Die Zeit, 29. November 1991). Ein Blick in die Soziallehre der Kirche einschließlich ihrer jüngsten Enzykliken zeigt, dass sich daran seitdem kaum etwas geändert hat. Auch zum Erreichen der Grenze von 7 Milliarden Menschen hat sich die Weltkirche, soweit bekannt, nicht geäußert.

Einen Ausweg aus diesem Schweigen hat der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus ebenfalls vor schon fast 20 Jahren gewiesen. In seinem Artikel "Weniger Menschen durch weniger Armut. Überlegungen zum Weltbevölkerungswachstum" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März1992, vielfach nachgedruckt) spricht er von "der sozialethischen Engführung und dem bevölkerungspolitischen Abseits" der kirchlichen Lehrverkündigung in dieser Frage.

In der natürlichen Familienplanung sieht er einen ethischen "Königsweg", der aber "nur schrittweise zu erreichen und zu gehen ist" und fährt fort: "Das ist insbesondere im Blick auf die Situation der Armen zu bedenken, wenn sie für eine verantwortliche Geburtenregelung gewonnen werden sollen. Es kann ja nicht angehen, unter den wachsenden Scharen von Menschen in den Elendsvierteln für die Familienplanung zu werben, ohne Wege aufzuzeigen, die in diesen konkreten Lebensverhältnissen gangbar sind. Wer von der vorrangigen Option für die Armen spricht, darf die Armen an diesem vitalen Punkt nicht allein lassen. Er muss ihnen eine in ihrer Situation praktikable Familienplanung ermöglichen. (...) Auch die Kirche muss sich fragen, was sie mit ihrer Lehrverkündigung praktisch ausrichtet." Der Argumentationslinie von Bischof Kamphaus folgte auch eine 1993 veröffentlichte, differenzierte und sehr ausgewogene Erklärung der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischöfe "Bevölkerungswachstum und Entwicklungsförderung. Ein kirchlicher Beitrag zu Diskussion".


Der Jesuit Johannes Müller (geb. 1943) ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München und Leiter des dort angesiedelten Instituts für Gesellschaftspolitik. Von 1968 bis 1981 Tätigkeit in Indonesien, seitdem regelmäßige Aufenthalte dort und auf den Philippinen. Mitglied beziehungsweise Berater verschiedener Kommissionen im Rahmen der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz. Seit 2011 Vorsitzender des Misereor-Beirates.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 1, Januar 2012, S. 20-24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2012