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AUSSEN/565: Schatten der Vergangenheit holen Gauck bei Staatsbesuch in Chile ein (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile / Deutschland
Schatten der Vergangenheit holen Gauck bei Staatsbesuch in Chile ein

Von Ute Löhning


(Berlin, 18. Juli 2016, npl) - Die Erwartungen von Menschenrechtsgruppen an den Besuch des deutschen Bundespräsidenten waren hoch: Was würde Joachim Gauck in Chile zur Colonia Dignidad und der Verstrickung deutscher Behörden sagen? Welche Gesten würde er finden gegenüber den Opfern der 1961 von Sektenführer Paul Schäfer gegründeten deutschen Siedlung im Süden Chiles, in der sklavenartige Arbeitsverhältnisse, Prügelstrafen und systematischer sexueller Missbrauch den Alltag bestimmten? Colonia Dignidad wurde zum bestimmenden Thema beim Staatsbesuch und am Ende kam es zu einem Eklat.


Deutsche Diplomat*innen schauten weg bei Folter und Unterdrückung

"Natürlich machen auch demokratisch verfasste Staaten Fehler. Und manchmal laden sie auch Schuld auf sich. Wenn z.B. deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte Colonia Dignidad Menschen entrechtet, brutal gefoltert, unterdrückt wurden", erklärte Gauck nach dem Gespräch mit der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet.

Während der chilenischen Militärdiktatur ab 1973 wurden etwa 100 Oppositionelle auf dem Gelände der Colonia Dignidad ermordet - sie gelten bis heute als verschwunden. Angehörige und Menschenrechtsgruppen fordern Aufklärung der genauen Umstände ihres gewaltsamen Verschwindenlassens. Noch nicht einmal die Namen aller Opfer und Täter sind bekannt.

Mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft kam Gauck zu einem Gespräch zusammen. Margarita Romero von der Vereinigung Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad war dazu eingeladen. Sie zeigte sich zufrieden, dass die Colonia Dignidad ein so wichtiges Thema bei dem Besuch war und Gauck ihre Forderungen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung in einem herzlichen Gespräch sehr genau angehört habe. "Konkrete Maßnahmen hat er zwar nicht angeboten. Mein Eindruck ist aber, dass sich in Zukunft konkrete Maßnahmen für gemeinsame Initiativen zur Aufklärung der Geschichte in Chile und Deutschland ergeben könnten", so Romero.


Angehörige von Verschwundenen fordern Geste der Anerkennung

Nicht zu einem persönlichen Gespräch empfangen hat Gauck die direkt betroffenen chilenischen Opfer: von der Colonia zwangsadoptierte chilenische Kinder, Folterüberlebende, Angehörige von Verschwundenen, die seit Jahren für die politische und juristische Aufklärung der Geschehnisse und Anerkennung ihrer Leidensgeschichte eintreten. Myrna Troncoso von der Organisation der Angehörigen der verschwundenen politischen Gefangenen aus Parral hatte sich um eine solche Geste bemüht: "Wir Familienangehörigen der Opfer der Colonia Dignidad sind sehr enttäuscht, weil der Präsident uns bei seinen Planungen nicht berücksichtigt hat. Mit anderen Organisationen hat er gesprochen, aber mit uns als direkt von der Colonia Betroffenen nicht."

Einzig einen Brief konnte sie Gauck schließlich zukommen lassen. Darin fordert sie, Deutschland solle auf dem Gelände der Ex-Colonia, die sich heute Villa Baviera - Bayerisches Dorf - nennt, den Tourismus stoppen. Dafür demonstrierten die Angehörigen zuletzt im Juni, kurz vor der Reise Gaucks, vor den Toren des Siedlungsgeländes.


Gedenkstätte versus Tourismusbetrieb

"Jedes Mal, wenn dort ein Bierfest oder eine Hochzeit gefeiert wird, ist das sehr verletzend für uns und belastet das Gedenken an unsere Angehörigen", erklärt Troncoso: "Die Gräber der auf dem Sektengelände Verscharrten sind immer noch nicht alle gefunden. Da wird auf den Gräbern unserer Toten gefeiert - in Deutschland wäre so etwas undenkbar!"

Der Tourismus als Geschäftsmodell der Villa Baviera wurde bis vor drei Jahren mit Geldern der Bundesregierung ausgebaut - Integration der Ex-Colonia Dignidad in den chilenischen Wirtschaftsraum war das Stichwort, unter dem deutsche Steuergelder für die Einrichtung von Hotel und Restaurant im bayerischen Stil über den Folterkellern in der Kolonie verwendet wurden. Hier hat mittlerweile ein Umdenken stattgefunden. Inzwischen unterstützt die Bundesregierung Seminare, bei denen über die Einrichtung einer Gedenkstätte diskutiert wird - eine zentrale Forderung von Angehörigen und Opfergruppen.


Indirekte Ohrfeige für die Opfer

Was die Überlebenden von Folter und die Angehörigen von Verschwundenen NICHT fordern, ist eine persönliche finanzielle Wiedergutmachung seitens des deutschen Staates. Warum also diese Äußerung des Bundespräsidenten? "Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsanforderungen zu akzeptieren, denn die deutsche Regierung hat nicht die Diktatur gebaut und daran mitgewirkt."

Doch mit der Mitwirkung ist es so eine Sache, die noch genauer untersucht werden müsste. Erwähnt sei nur der Waffenhändler und nach eigenem Bekunden BND-Mitarbeiter Gerhard Mertins, der im großen Stil Waffen aus Deutschland über die Colonia Dignidad nach Chile brachte. Oder das Schmuggelsystem, das die Colonia organisierte, mit dem Waffen und Giftgassubstanzen über den Frankfurter Flughafen an allen Kontrollen vorbei nach Chile an die deutsche Siedlung und an den chilenischen Geheimdienst geliefert wurden.

Als Geste der Versöhnung kann Gaucks Äußerung jedenfalls nicht verstanden werden.

In Chile hat sie zu einem Aufschrei der Empörung geführt: "Eine indirekte Ohrfeige für die Opfer" - so nennt es Rechtsanwalt Winfried Hempel, der selbst in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist.

Er will mit einer Zivilklage gegen den chilenischen und den deutschen Staat Entschädigungszahlungen für diejenigen Opfer erreichen, die jahrzehntelang ohne Lohn und ohne soziale Absicherung arbeiten mussten: deutsche Bewohner*innen der Siedlung ebenso wie Chilen*innen, die als Kinder von der Colonia zwangsadoptiert worden waren.

Der Anwalt begründet seine Klage: "Jeder Staat muss angesichts von Straftaten nicht nur die Täter verfolgen, sondern auch die Opfer schützen. Die Bewohner der Colonia lebten in einem Sklavensystem und hätten vom deutschen und vom chilenischen Staat geschützt werden müssen. Beide Staaten kannten die Verhältnisse in der Colonia Dignidad, haben aber nichts dagegen getan."

Ob aus dieser Klage Wiedergutmachungszahlungen folgen, entscheiden schlussendlich weder der Bundespräsident noch die Regierung, sondern die Gerichte.


Kontinuität der alten Machtverhältnisse in der Colonia Dignidad

Bei einer Diskussionsveranstaltung in Santiago im Vorfeld der Gauckreise beschrieb Winfried Hempel, wie die hierarchischen Verhältnisse in der deutschen Kolonie und die Macht einer alten Führungsclique auch heute noch existieren: "Jeden Tag finden diese Ungerechtigkeiten in der Siedlung weiter statt. Zum Beispiel müssen diejenigen, die für 50 Jahre Arbeit keinen Lohn bekommen haben, seit drei oder vier Jahren auch noch Miete zahlen, um in den Wohnungen zu leben, die sie selber in Sklavenarbeit errichtet haben."


Verurteilter Colonia-Scherge beim Botschaftsempfang

Zum Ende des Staatsbesuches kam es beim Botschaftsempfang noch zu einem Eklat. Neben einigen Opfern der Colonia waren auch mächtige Freunde der Colonia und sogar ein wegen in der Colonia begangener Verbrechen Verurteilter geladen:

Der Milliardär Horst Paulmann war mehr als nur ein Freund des Sektenführers Paul Schäfer, erinnert sich Hempel: "In seiner Supermarktkette verkaufte er nicht nur die in der deutschen Siedlung produzierten Lebensmittel. Sondern er ließ auch bei jedem dieser Einkäufe ein Werbefilmchen über die "heile Welt" der Colonia Dignidad beilegen, in dem Kinder Tänze mit Tirolerhut aufführten und deutsche Volkslieder sangen."

Zur großen Empörung von Opfern und Presse war außerdem Reinhard Zeitner geladen. In einem Verfahren um sexuellen Missbrauch ist er rechtskräftig zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Früher gehörte er zum Sicherheitsapparat der Sekte und patrouillierte mit Pistole auf dem Gelände. Heute ist er einer der Chefs einer Immobiliengesellschaft, die das Vermögen der deutschen Siedlung verwaltet. - Ob er wohl die Mietzahlungen der Siedlungsbewohner*innen einstreicht?

Zeitners Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt - er kann sich also frei bewegen. Seitens der deutschen Botschaft sollte man im Jahr 2016 allerdings mehr Sensibilität und Bewusstsein in Sachen Colonia DigDignidad erwarten können.


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/schatten-der-vergangenheit-holen-gauck-bei-staatsbesuch-in-chile-ein/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2016

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