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AUSSEN/590: "Fluide Lage, legitime Interessen" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 24. Januar 2018
german-foreign-policy.com

"Fluide Lage, legitime Interessen"


BERLIN/ANKARA - Zusätzlich zur Ankündigung neuer Rüstungshilfen intensiviert Berlin ungeachtet des türkischen Überfalls auf Afrin die politische Kooperation mit Ankara. Vor wenigen Tagen haben die Regierungen beider Länder mit einem Treffen auf Staatssekretärsebene ihre regelmäßigen Konsultationen wieder aufgenommen. Man sei "in einem Prozess", der "die Beziehungen Schritt für Schritt verbessern" solle, verlautbart das Auswärtige Amt. Während Experten bestätigen, der Krieg der Türkei in Afrin, der nicht zuletzt mit deutschen Panzern geführt wird, sei ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, spricht das Auswärtige Amt von einer "fluiden Lage"; man müsse, erklärt ein Sprecher, "legitime Sicherheitsinteressen" Ankaras berücksichtigen. Kanzlerin Angela Merkel stellt ein baldiges EU-Treffen mit dem türkischen Staatspräsidenten in Aussicht, das einen EU-Türkei-Gipfel vorbereiten soll. EU-Kommissar Günther Oettinger hat schon vor Jahren geurteilt, die geostrategische Bedeutung der Türkei für Berlin werde die Kanzlerin dereinst veranlassen, "auf Knien nach Ankara [zu] robben".

"Beziehungen verbessern"

Trotz des türkischen Überfalls auf die nordsyrische Region Afrin intensiviert Berlin - zusätzlich zu neuen Rüstungshilfen, die Außenminister Gabriel jüngst angekündigt hat [1] - die politische Kooperation mit Ankara. Beide Länder haben die Regierungskonsultationen wieder aufgenommen, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr in Reaktion nicht zuletzt auf fortdauernde Übergriffe der türkischen Behörden gegen deutsche Staatsbürger ausgesetzt hatte. Am vergangenen Mittwoch sind nun im Bundesinnenministerium Staatssekretäre beider Länder zusammengetroffen, um die Gespräche neu zu starten, bestätigt ein Regierungssprecher. Unter anderem sei es darum gegangen, sich beim Vorgehen gegen Terrorismus besser abzustimmen. Unklar blieb, ob es dabei lediglich um den Kampf gegen den IS ging, der von beiden Seiten als Terrororganisation eingestuft wird, oder auch um die PKK, deren Verfolgung Ankara gewöhnlich fordert. Zudem sind die Außenministerien der Türkei und der Bundesrepublik dabei, ihre Zusammenarbeit auszubauen. "Wir sind in einem Prozess dahingehend, dass sich die Beziehungen Schritt für Schritt verbessern können", konstatiert eine Sprecherin des Auswärtigen Amts: "Auf diesem Weg sind wir bereit weiterzugehen."[2]

"Auf Knien nach Ankara"

Hintergrund des Berliner Strebens nach einer engeren Kooperation mit Ankara sind altbekannte geostrategische Interessen: Die Türkei gilt deutschen Außenpolitikern als unverzichtbare Brücke in den Nahen und Mittleren Osten sowie nach Zentralasien; dabei geht es nicht zuletzt um mögliche Transitrouten für Pipelines, daneben aber auch um die systematische Erschließung auswärtiger Absatzmärkte sowie um größere politische Einflusschancen in den nah- und mittelöstlichen Zielregionen der Berliner Weltpolitik (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Als besonders dringlich gilt die Kooperation, weil die Türkei zuletzt ihre Zusammenarbeit nicht nur mit Russland, sondern auch mit China beträchtlich ausgeweitet hat und die Bundesregierung ihren eigenen Einfluss nun schwinden sieht.[4] Bereits Anfang 2013 hatte EU-Kommissar Günther Oettinger mit Blick auf das massive strategische Interesse des deutschen Establishments an guten Beziehungen zur Türkei gewarnt: "Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt ... auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türken zu bitten, Freunde, kommt zu uns".[5] Der Zeitpunkt scheint erreicht.

Berliner Einsichten

Die Überlegungen, die die Türkei-Politik der Bundesregierung antreiben, hat in den vergangenen Tagen Günter Seufert, Türkei-Experte der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in mehreren Interviews erläutert. Seufert zufolge hat sich in Berlin die "Einsicht" durchgesetzt, man müsse trotz der brutalen türkischen Repression gegen die Opposition wie auch gegen mehrere deutsche Staatsbürger "mit dem Land kooperieren" - "weil man eben entsprechende Interessen hat".[6] Um die Beziehungen zu Ankara zu verbessern, sei es nötig, dass die Bundesregierung "ihren Anspruch dahingehend, was sie glaubt, in der Türkei verändern zu können, radikal zurückfährt". Gestalte man das Verhältnis zu Ankara "konflikthaft ... im Hinblick auf eine Transformation des türkischen Regimes", dann werde man "für die nächsten Jahre" nicht die erwünschte gedeihliche, sondern "eine konflikthafte Beziehung" erhalten. Deshalb müsse man sich "überlegen, was man will und was man für umsetzbar hält".[7] Selbst der Einsatz "für politische Gefangene" werde sich kaum damit vertragen, "dass man die Beziehungen zur türkischen Regierung verbessert": "Es gibt hier keinen goldenen Mittelweg. Damit macht man sich etwas vor." Seuferts Analyse deckt sich mit Einschätzungen, die Beobachter schon vor über einem Jahr trafen. So hieß es bereits Ende 2016 in einem Leitkommentar einer führenden deutschen Tageszeitung: "Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten."[8]

Völkerrechtswidrig

Entsprechend reagiert die Bundesregierung auf den Ende vergangener Woche gestarteten Überfall der Türkei auf die nordsyrische Region Afrin. Tatsächlich handelt es sich um einen unprovozierten Angriffskrieg, der offen internationales Recht bricht. Dies bestätigt beispielsweise Anne Peters, Direktorin am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht. Peters zufolge kann man "klar" sagen, dass der Angriff der türkischen Streitkräfte nicht mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen ist. Hätten sich die militärischen Operationen, die Ankara von August 2016 bis März 2017 auf syrischem Territorium durchgeführt habe, immerhin noch gegen den IS gerichtet, der zuvor türkisches Territorium mit Terroranschlägen attackiert habe, so gebe es für die Behauptung, die Türkei müsse sich diesmal gegen Attacken kurdischsprachiger Syrer behaupten, "keine Anhaltspunkte".[9] Weiteten die türkischen Streitkräfte ihren Krieg - wie bereits angekündigt - in Zukunft noch weiter in Syriens Nordosten aus, dann werde dies "noch stärker zur Unverhältnismäßigkeit des türkischen Einsatzes führen".

Berliner Rücksichten

Anders urteilt die Bundesregierung. Schon am Freitag erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amts, es sei "klar, dass die Türkei legitime Sicherheitsinteressen entlang ihrer Grenze mit Syrien hat"; diese seien für Ankara "von herausragender Bedeutung" und müssten "in diesem Kontext natürlich berücksichtigt werden".[10] Am Montag bekräftigte eine Sprecherin des Außenministeriums, man dürfe "die Sicherheitsinteressen, die die Türkei hat", nicht außer Acht lassen. Einen Angriffskrieg könne man nicht erkennen: "Für die Bundesregierung ist es eine fluide Lage." Es sei "im Moment nicht möglich, zu beurteilen, wie man eine völkerrechtliche Einordnung vornehmen würde"; Grund sei, dass "unser Lagebild dieser komplexen und fluiden Lage einfach nicht vollständig ist, sodass man eine Beurteilung vornehmen könnte".[11] Entsprechend weigert Berlin sich weiterhin, von der Modernisierung der türkischen Leopard 2A4-Kampfpanzer Abstand zu nehmen, die Außenminister Gabriel kürzlich in Aussicht gestellt hat.

"Ein geregeltes Verhältnis"

Gleichzeitig dringt die Bundesregierung darauf, auch die Beziehungen der EU zu Ankara wieder zu verbessern und in absehbarer Zeit einen EU-Türkei-Gipfel anzuberaumen. Wie Kanzlerin Angela Merkel am Samstag nach einem Treffen mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow in Sofia erklärte, bereite man gemeinsam mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani eine Zusammenkunft mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, die - mit Blick auf die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft - in der bulgarischen Hafenstadt Warna stattfinden solle. Als Termin wird ein Wochenende im März genannt. Laut Borissow soll es sich um ein "Puffertreffen" handeln, das "günstige Bedingungen für ein Gipfeltreffen schaffen" soll. Das Treffen sei notwendig, erklärte Merkel, "denn wir brauchen ein geregeltes Verhältnis mit unserer Nachbarschaft".[12]


Anmerkungen:

[1] S. dazu Panzer für die Türkei.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7508/

[2] Entspannung im deutsch-türkischen Verhältnis. dw.com 17.01.2018.

[3] S. dazu Operationsstützpunkt Türkei.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6986/

[4] S. dazu "Härtefälle" und Rüstungsexporte.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7494/

[5] Oettinger kritisiert EU-Kurs zur Türkei. bild.de 20.02.2013.
S. dazu Freunde, kommt zu uns!
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5863/

[6] Türkei-Experte: "Man muss kooperieren". dw.com 17.01.2018.

[7] "Wir arbeiten uns an der türkischen Identität ab". kas.de 22.01.2018.

[8] Michael Martens: Mit Erdogan verhandeln. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.11.2016.
S. dazu Folter? Kein Hinderungsgrund!
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7202/

[9] Christoph Strauch: Verstößt die Türkei gegen das Völkerrecht? faz.net 23.01.2018.

[10] Regierungspressekonferenz vom 19. Januar 2018.

[11] Regierungspressekonferenz vom 22. Januar 2018.

[12] Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem bulgarischen Ministerpräsidenten Boyko Borisov in Sofia. 20.01.2018.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2018

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