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ASYL/716: Anforderungen an eine neue Bleiberechtsregelung (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56
Heft zum Tag des Flüchtlings 2011, PRO ASYL

Hier geblieben.
Anforderungen an eine neue Bleiberechtsregelung

von Andrea Kothen


Im 13-seitigen Text »Hier geblieben - Anforderungen an eine neue Bleiberechtsregelung« analysiert PRO ASYL ausführlich die Schwächen der bisherigen Bleiberechtsregelungen, liefert Beispiele und zieht detaillierte Schlussfolgerungen für eine neue Regelung. Der Text ist zum Download verfügbar unter www.proasyl.de/themen/bleiberecht.


Heute leben rund 86.000 Menschen mit einer Duldung in Deutschland, zwei Drittel von ihnen schon länger als sechs Jahre. Weitere rund 30.000 Menschen haben aktuell nur eine »Aufenthaltserlaubnis auf Probe« - die Verlängerung dieses Aufenthaltsrechts über 2011 hinaus soll von der Einkommenssituation der betroffenen Familien abhängig gemacht werden. Offenkundig haben die Bleiberechtsregelungen der letzten Jahre das Problem nicht wirklich gelöst. Zuletzt hat die Bundesregierung im März 2011 eine Bleiberechtsregelung für 15-20-Jährige verabschiedet. Doch auch sie wird nur Stückwerk sein. Für einen Teil der jungen Geduldeten - im besten Fall zunächst 4.500 - 5.000 junge Menschen - wird es endlich ein Aufenthaltsrecht geben, die anderen werden an den eingebauten Hürden scheitern.

Für die weitaus größere Gruppe an Geduldeten wird sich das politische Theater wiederholen: Verantwortliche Innenpolitikerinnen und -politiker erklären gebetsmühlenartig, dass weiterer Handlungsbedarf nicht bestehe, Ausreisepflichten künftig durchgesetzt und Abschiebungen konsequenter vollzogen würden. Gleichwohl wissen sie, dass es so nicht funktionieren wird: Dass eine Ausreise und erst recht eine Abschiebung für die Mehrzahl der Betroffenen undenkbar, unzumutbar, unmöglich ist. Dass das deutsche Aufenthaltsrecht immer neue Geduldete produziert, ohne ihnen je eine echte Integrationsperspektive zuzubilligen. Sie wissen auch, dass früher oder später erneut die Frage auf den Tisch kommt, wie unter diese fortdauernde gesellschaftliche und humanitäre Misere endlich ein Schlussstrich gezogen werden kann.

Nur eine großzügige, humanitäre Bleiberechtsregelung kann das Problem der Kettenduldungen dauerhaft lösen. Sie sollte folgende Kriterien erfüllen:


ANSPRUCHSREGELUNG

Eine Schlussstrichlösung sollte bundeseinheitlich den Anspruch auf ein Bleiberecht unter bestimmten Bedingungen definieren. Die bisherigen Bleiberechtsregelungen enthielten »Kann-Regelungen«, deren konkrete Auslegung im Ermessen der Länder und Behörden stand. Entsprechend unterschiedlich sah auch die Umsetzungspraxis aus: So erhielten in Hessen 43,7 % der Ende des Jahres 2006 Geduldeten bis Ende des Jahres 2009 eine Aufenthaltserlaubnis, in Sachsen-Anhalt hingegen nur 21,4 %. Eine humane Bleiberechtsregelung darf aber nicht davon abhängen, in welche Region Deutschlands jemand einst durch das quotierte Verteilungssystem verschlagen wurde.


FORTLAUFENDE REGELUNG FÜR ALLE

Auch in Zukunft werden viele Menschen über Jahre in Deutschland leben, die nicht als Flüchtlinge anerkannt, aber aus den unterschiedlichsten Gründen auch nicht abgeschoben werden. Nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer müssen diese Menschen ein Bleiberecht erhalten, weil ihnen eine Rückkehr nicht mehr zugemutet werden kann. Die neue Bleiberechtsregelung für Jugendliche (§ 25a AufenthG) ist da ein Schritt in die richtige Richtung: Mit dem Verzicht auf einen festen Einreisestichtag wird eine fortlaufende Regelung geschaffen, die auch in Zukunft wirksam bleibt. Leider betrifft dies bislang nur wenige Menschen.


REALISTISCHE ANFORDERUNGEN AN DIE LEBENSUNTERHALTSSICHERUNG

Die Bleiberechtsregelungen von 2006 und 2007 stellten hohe Anforderungen an die eigenständige Lebensunterhaltssicherung durch Arbeit. Eine »Sozialklausel« für alte, kranke oder behinderte Menschen fehlte. Viele Bleibeberechtigte »auf Probe« bemühten sich, schnell ein ausreichendes Einkommen zu erlangen, waren aber nur teilweise erfolgreich. Hohe Hürden stellten die schwankende Situation auf dem Arbeitsmarkt oder zu schlecht bezahlte, befristete Jobangebote dar. Die jahrelange »Dequalifizierung« der Betroffenen durch Arbeitsverbote und Ausgrenzung tat ein Übriges, um eine schnelle Arbeitsmarktintegration zu verhindern. Die Praxis der letzten vier Jahre hat gezeigt: Will man die Kettenduldungen wirklich beenden, muss man auf eine umfassende Lebensunterhaltssicherung verzichten und auch Sozialleistungsbezug in Kauf nehmen. Nur so haben auch Alte, Kranke und große Familien eine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis. Bei Arbeitsfähigen muss das erkennbare Bemühen um Arbeit ausreichen. Gering Qualifizierte brauchen gegebenenfalls Zeit für nachhaltige Qualifizierungen.


WEIT GEHENDER VERZICHT AUF AUSSCHLUSSGRÜNDE

Das Vorliegen von »Ausschlussgründen« hat in der Vergangenheit ein Bleiberecht verhindert, auch wenn die sonstigen Bedingungen erfüllt waren. Dabei ging es meist um Vorwürfe der mangelnden Mitwirkung oder der »Identitätstäuschung«. Auch die Ablehnung im Asylverfahren als »offensichtlich unbegründet« (zum Beispiel bei Kindern) war schädlich. Wurde ein Familienmitglied straffällig, wurde im Sinne einer Sippenhaftung die gesamte Familie von einem Bleiberecht ausgeschlossen. Dies ist nicht nur unmenschlich, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich.

Auch Geduldete sind, zumal unter den Bedingungen sozialer Ausgrenzung, Menschen mit Fehlern. Nicht immer aber haben die Betroffenen Verwerfliches getan. Manchmal ist ein Pass gar nicht zu erhalten. Die Forderung nach Mitwirkung bei der eigenen Abschiebung empfinden Menschen, die einst vor existenziellen, aber im Asylverfahren nicht berücksichtigten Bedrohungen geflohen sind, als unzumutbar. Eine künftige Regelung sollte auf Ausschlussgründe wie einen fehlenden Pass weit gehend verzichten. Bagatelldelikte und Verstöße gegen das Ausländerrecht sollten außer Betracht bleiben.


FAMILIEN SCHÜTZEN

Der neue § 25a AufenthG, der künftig den 15-20-Jährigen eine Lebensperspektive eröffnen soll, schützt nicht deren Familien: Die Eltern der begünstigten Jugendlichen können nur dann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn ihre Kinder noch nicht volljährig sind und sie selbst ihren Lebensunterhalt sichern können. Eine neue Bleiberechtsregelung darf aber den gesellschaftlich hohen Wert von Ehe und Familie sowie den humanitären Gehalt einer Bleiberechtsregelung nicht außer Acht lassen. Anstatt die vermeintlich Nützlichen von den Unnützen oder die Kinder von ihren Eltern zu trennen, sollte der Familienbegriff auf nahe Verwandte, wie etwa Großeltern, erweitert werden.


AUF EIN NEUES

PRO ASYL appelliert an die politisch Verantwortlichen, eine bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung zu schaffen, die sich an den Realitäten der in Deutschland lebenden Menschen orientiert und auch in Zukunft den langjährig hier Lebenden eine wirkliche Perspektive eröffnet.

PRO ASYL fordert eine rollierende unbürokratische und großzügige Bleiberechtsregelung und eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe

• für Alleinstehende, die seit fünf Jahren in Deutschland leben;
• für Familien mit Kindern, die seit drei Jahren in Deutschland leben;
• für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die seit zwei Jahren in Deutschland leben;
• für Traumatisierte;
• für Opfer rassistischer Angriffe.


7.000 km mit dem Rad durch Deutschland gegen Diskriminierung und Ausgrenzung.

70 Konzerte für eine menschliche Flüchtlingspolitik.

Drei Monate, von Januar bis April 2011, tourte der Liedermacher Heinz Ratz mit dem Rad durch Deutschland. Mit seiner Band »Strom & Wasser« besuchte er Flüchtlingslager und informierte bei Pressekonferenzen über die Situation der dort lebenden Flüchtlinge. Während der Konzerte wurden Spenden für den Rechtshilfefonds von PRO ASYL und die Arbeit vor Ort gesammelt.

Prominente Unterstützung gab es dabei unter anderem von Götz Widmann, Hannes Wader, Stoppok, Jan Plewka, Bodo Wartke, Jess Jochimsen und Dota der Kleingeldprinzessin.

Seinem wichtigsten Anliegen »gegen Diskriminierung und Ausgrenzung, für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen« ist Ratz mit jeder Etappe ein Stückchen näher gekommen: In vielen Städten solidarisierten sich Konzertbesucher und zeigten Bereitschaft, sich auch künftig für Flüchtlinge im eigenen Ort zu engagieren.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56, S. 30-31
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Heft_TdF_2011_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für
Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2011