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ASYL/570: Zu Besuch bei Gazale Salame (IPPNWforum)


IPPNWforum | 113 | 08
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Zu Besuch bei Gazale Salame

Von Gisela Penteker


Gazale Salame wurde im Februar 2005 mit ihrer kleinen Tochter Schams aus Hildesheim in die Türkei abgeschoben, während ihr Mann die beiden älteren Töchter zur Schule brachte. Sie war schwanger und sprach kein türkisch. Ihr wird vorgeworfen, ihre Herkunft verschleiert zu haben und nicht aus dem Bürgerkrieg im Libanon sondern aus der Türkei geflohen zu sein und die türkische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Ihr Mann kämpft gegen denselben Vorwurf noch vor Gericht. Beide waren Kinder, als ihre Eltern aus dem Libanon nach Deutschland flüchteten.


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Sie gehören zur Gruppe der Mahalmi, die ursprünglich an der syrischen Grenze um Mardin siedelten. Die Menschen dort erzählten uns, die Mahalmi seien ursprünglich christliche Araber gewesen, die später zum Islam übergetreten wären. Auch sie waren als nichttürkische Minderheit immer wieder Übergriffen ausgesetzt und vom wirtschaftlichen Niedergang der Region betroffen. Das veranlasste viele Mahalmi, als Gastarbeiter in den Libanon zu ziehen oder dorthin auszuwandern. Im Libanon erhielten sie keine Pässe und galten als staatenlos. Während des Bürgerkriegs im Libanon flüchteten viele von ihnen nach Europa, auch nach Deutschland. Hier wurden sie zunächst als staatenlose Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt.

Die Kinder wuchsen in Deutschland auf, gingen zur Schule, lernten einen Beruf, gründeten eine Familie. Einige wurden eingebürgert. Dann kam der Verdacht auf, alle Mahalmi seien eigentlich türkische Staatsbürger. Die Aufenthaltserlaubnis wurde ihnen entzogen, sie verloren ihre Arbeiterlaubnis und wurden nur noch geduldet. Sie mussten und müssen vor Gericht beweisen, dass sie nicht türkische Staatsbürger sind. So kämpft auch Gazales Mann hier in seiner Heimat Deutschland um seine Zukunft und die seiner Familie.

Drei Jahre sind inzwischen ins Land gegangen. Seinen Sohn Gazi, der im August 2005 in Izmir geboren wurde, kennt er nur von Fotos. Er darf inzwischen wieder in seinem Beruf als Schlachter arbeiten. Das Geld, das er verdient, kann er aber nicht in die Zukunft seiner Familie investieren. Er unterstützt damit seine Frau in Izmir und vor allem bezahlt er Anwaltskosten. Bundesweit hat die Familie viele Unterstützer gefunden, Menschen, die fassungslos sind, dass in Deutschland der Schutz der Familie einem fragwürdigen Ordnungsrecht geopfert wird. Die Behörden und der niedersächsische Innenminister Schünemann sind unbeeindruckt. Nach ihrer Version trennen nicht sie die Familie. Der Ehemann könne jederzeit zu seiner Frau in die Türkei gehen und ggfs. sein Verfahren von dort aus weiter betreiben. Dass er kein Türkisch spricht, dass er dort keine Chance auf eine vergleichbare Existenz hätte, dass er als erstes für 18 Monate zum Militär eingezogen würde und in dieser Zeit keinerlei Einkommen hätte, all das zählt für die deutschen Behörden nicht.

Ich habe Gazale zum erstenmal im September 2005 kurz nach der Geburt von Gazi in Izmir besucht und seitdem mehrfach im Rahmen unserer Besuche bei der Menschenrechtsstiftung. Außerdem telefonieren wir oft und lange. Wenn die Kinder krank sind, fragt sie mich um meinen Rat als Ärztin, weil sie den türkischen Ärzten in Izmir nicht traut, weil sie unter der Verantwortung für die Kinder fast zerbricht. Und auch, wenn ich natürlich am Telefon keine Diagnose stellen kann, entlasten sie die Gespräche.

Ich hatte mir diesmal etwas mehr Zeit genommen und blieb über Ostern. Ich teilte ihr karges Leben und übernachtete mit ihr und den Kindern auf der großen Matratze im einzigen beheizbaren Raum der Wohnung. Die Kinder sind sehr lebhaft, neugierig und zutraulich. Man merkt ihnen an, dass sie wenig Kontakt zu anderen Kindern haben. Insbesondere Schams müsste dringend einen Kindergarten besuchen, wird aber nicht angenommen. Im Herbst würde sie eingeschult, wenn sie dann noch in der Türkei sein sollten. Sie spricht mit ihrer Mutter meist türkisch. Am Ende meines Besuches fielen ihr einige kleine deutsche Sätze wieder ein. Gazale weiß nicht, in welcher Sprache sie mit den Kleinen reden soll. Auf dem Spielplatz müssen sie türkisch können, wenn sie überhaupt Kontakt zu Nachbarskindern aufnehmen wollen. Für die Kinder ist das Leben oft langweilig. Selten geht Gazale mit ihnen auf den Spielplatz, meist quälen sie sich mit Bussen zu einem Arzt oder Krankenhaus oder zum Einkaufen. Gazale ist sehr ängstlich, berichtet von Kindesentführungen und Organhandel und lässt die Kleinen nicht aus den Augen. Viel zu oft sitzen die Kinder vor dem Fernseher, besonders abends. Wenn Gazale versucht, ihnen etwas vorzulesen oder zu singen, muss sie weinen, weil die Erinnerung an die großen Töchter sie übermannt.

An einem dieser Abende legte Gazale eine CD mit Fotos aus ihrer Kindheit ein und erzählte, woran sie sich erinnert: In Beirut lebte sie mit ihrer Mutter und zwei älteren Schwestern in einem Hochhaus. Sie erinnert sich, dass sie meist im Keller des Hauses waren, weil draußen geschossen wurde oder Bomben fielen. Der Vater war als Soldat im Krieg. Die Mutter hat während des Krieges mehrere Fehlgeburten erlitten und war in einer psychisch schlechten Verfassung. Die Familie entschloss sich, wie die meisten ihrer Nachbarn, Verwandten und Bekannten, aus dem Libanon nach Europa zu fliehen.

Da ihre Eltern das Geld für eine Flucht nach Europa nicht aufbringen konnten, flohen sie zunächst in die Türkei, wo sie an der syrischen Grenze in der Nähe von Mardin noch entfernte Verwandte hatten. In deren Dorf fanden sie Unterschlupf in einem Schuppen. Der Vater wurde sofort zum türkischen Militär eingezogen und die Mutter lebte mit den drei kleinen Kindern mittellos und elend von den Almosen der Dorfbewohner. Als der Vater die 2 Jahre Militärdienst abgeleistet hatte, suchte die Familie nach Möglichkeiten, zur Großmutter nach Deutschland weiter zu wandern. Der gelang es schließlich, bei Verwandten in Deutschland Geld für die Weiterreise zu sammeln. Die Mutter hatte allen Lebensmut verloren und war immer traurig und krank. Daran änderte auch die Geburt weiterer Töchter nichts und die relative Sicherheit in Deutschland. Gazale erinnert sich, dass immer jemand mit der Mutter beim Arzt war. Ihr selbst ging es gut. Sie war eine gute Schülerin und hatte viele Freundinnen. Dann heirateten die beiden älteren Schwestern und gingen aus dem Haus. Damit fiel ihr die Aufgabe zu, die Mutter zu begleiten. Sie musste beim Arzt und bei der Psychotherapie für die Mutter dolmetschen. Das belastete sie sehr. Oft konnte sie deshalb die Schule nicht besuchen. Sie bekam Ärger mit den Lehrern und schlechte Noten. So war es für sie wie eine Befreiung, als sie mit Ahmet Siala verheiratet wurde und ihre eigene Familie gründen konnte.

Ihr Mann verdiente gut, sie hatten eine schöne Wohnung und gesunde, fröhliche Kinder. Dann wurde ihnen die Aufenthaltserlaubnis entzogen, Ahmet verlor seine Arbeitserlaubnis, sie lebten mit dem Status der Duldung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit allen damit verbundenen Einschränkungen wie der Residenzpflicht.

Dann kam die unfassbare Trennung der Familie durch die Ausländerbehörde von Hildesheim. Die beiden großen Töchter leiden sehr unter der Trennung von der Mutter. Ihre Leistungen in der Schule lassen nach, sie sind traurig und still. Und sie verstehen nicht, was ihre Eltern Böses getan haben, dass die Familie so bestraft wird.

Seit drei Jahren lebt Gazale nun schon allein in Izmir, in Gümüspale, einem konservativen, streng moslemischen und armen Stadtteil im Norden, in dem hauptsächlich Flüchtlinge leben Sie fühlt sich von den Nachbarn aufmerksam beobachtet und kontrolliert. Sie denkt, dass die sie für eine schlechte Frau halten, weil ihr Mann nicht bei ihr ist. Männer machen ihr Angebote bis hin zur Belästigung. Sie kleidet sich streng konservativ mit arabischem Kopftuch und langem Rock.

Das schöne, reiche, touristische Izmir ist unerreichbar weit und unbezahlbar. Wir sind gemeinsam hin gefahren mit der Fähre über die Bucht, weil ich ihr und den Kindern eine Freude machen wollte. Sie konnte es aber nicht genießen, hatte Angst, die Kinder im Gewühl des Bazars zu verlieren, war in Panik, weil Gazi immer wieder zum Wasser an der Strandpromenade (Kordon) flitzte. Angst und Panik bestimmen ihr Leben. Sie ist depressiv, klagt über Rückenschmerzen und kann nicht schlafen. Es fällt ihr schwer, ihren Tag zu strukturieren. Sie hat keine Pläne und keine Freude und lebt von der Hoffnung auf ein positives Gerichtsurteil für ihren Mann und von der Verantwortung für die Kinder. Weinend sagt sie immer wieder: "Ich kann nicht mehr, holt mich nach Hause".


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Quelle:
IPPNWforum | 113 | 08, S. 30-31
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2009