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HUNGER/271: Entwicklung - Hungerbekämpfung zahlt sich aus - Designierter FAO-Chef im Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Dezember 2011

Entwicklung:
Hungerbekämpfung zahlt sich aus - Designierter FAO-Chef im Interview

von Fabiana Frayssinet

FAO-Chef José Graziano da Silva - BILD: © FAO

FAO-Chef José Graziano da Silva
BILD: © FAO

Salvador, Brasilien, 13. Dezember (IPS) - Der Mann, der eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der erfolgreichen Konzepte zur Bekämpfung des Hungers in Brasilien spielte, hält die Ausrottung des weltweiten Hungers für möglich. Ernährungssicherheit sei eine Frage des politischen Willens, sagte der designierte Generaldirektor der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO. Investitionen in den Bereich seien in jedem Fall ein gutes Geschäft.

Der Agronom und Wirtschaftswissenschaftler bezeichnete den Kampf sozialer Bewegungen wie 'Vía Campesina' gegen die kommerzielle Landwirtschaft als kontraproduktiv. Es gebe diese Opposition zwischen Kleinbauern und der Agroindustrie nicht", meinte er. Beide seien Nahrungsmittellieferanten.

Es folgen Auszüge aus einem Interview, das IPS mit dem Graziano da Silva führte, der im Januar sein Amt als neuer FAO-Chef antreten wird.


IPS: Fast eine Milliarde Menschen haben nicht genug zu essen. Was schlagen Sie als künftiger FAO-Chef vor, um den Hunger auszuradieren?

José Graziano da Silva: Meine Idee ist simpel. Nur drei Elemente sind erforderlich.

Zum ersten muss in den ärmsten Ländern der politische Wille vorhanden sein, den Hunger auszurotten. Zweitens müssen die dafür notwendigen Ressourcen aufgetrieben werden und drittens absolutere Ziele als die Millenniumsentwicklungsziele (der Vereinten Nationen zur Armutsbekämpfung) gesetzt werden.

Ich habe vor, mich mit den armen Nahrungsimportländern zu beraten, die seit langem unter Ernährungskrisen leiden. Vor allem werde ich mit afrikanischen und einigen asiatischen Staaten sprechen, um sie dazu zu bringen, dass sie ihrer politischen Verpflichtung nachkommen und auch die finanziellen Mittel aufbringen. Denn diese Länder haben sehr wohl Ressourcen.

Die brasilianische Erfahrung hat gelehrt, dass sich solche Ressourcen schnell generieren lassen. Jede Investition in die Hungerbekämpfung bringt enorme Dividenden. In Brasilien konnten wir beobachten, wie die Anti-Hungerinvestitionen den Konsum ankurbelten, Steuern brachten und somit Arbeitsplätze und Einkommen schufen. Wir von der FAO werden diesen Ländern helfen, realistische Pläne aufzustellen und die notwendigen Mittel aufzuspüren.

IPS: Die Landwirtschaft ist in mehrerer Hinsicht an einem Scheideweg angekommen. Wie werden Sie mit Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Landverödung umgehen?

José Graziano da Silva: Eine der fünf Säulen meiner Kampagne (in Brasilien) war die Förderung einer besonders nachhaltigen Entwicklung mit Blick auf Produktion und Konsum, um eine doppelte grüne Revolution herbeizuführen.

Nehmen wir Argentinien, das heute zwischen 90 und 95 Prozent seines Getreides aussät, ohne den Boden maschinell vorzubereiten. Diese Vorgehensweise vermindert das Ausmaß der Bodenerosion. Gerade die tropische Landwirtschaft leidet unter dem Verlust der Böden und einer zunehmende Landverödung infolge eines intensiven Einsatzes von landwirtschaftlichen Maschinen.

Da chemische Düngemittel teuer und nur begrenzt zugänglich sind, haben wir Wege gefunden, sie durch Naturdünger und Kompost zu ersetzen. Es gibt in den Entwicklungsländern Technologien, die der tropischen Landwirtschaft entgegenkommen.

Eine weitere Säule meiner Kampagne ist die Süd-Süd-Kooperation.

IPS: Die exportorientierte Landwirtschaft und der großflächige Anbau von Nahrungs- und Energiepflanzen konkurrieren mit der Nahrungsmittelproduktion. Wie sehen sie diese Entwicklungen?

José Graziano da Silva: Leider vertreten einige Sozialbewegungen einen Standpunkt, der ihnen selbst abträglich ist und in einem bestimmten Ausmaß sogar schadet: dass sich kleinbäuerliche Landwirtschaft und Agroindustrie ausschließen und miteinander konkurrieren.

Die kommerzielle Landwirtschaft hat mehr mit Marketing zu tun. Bei dem in den 1950er Jahren in den USA entstandenen Konzept ging es darum, den Kongress zur Zahlung von Agrarsubventionen zu bewegen. Es ging um diejenigen Sektoren, die Inputs für die weiterverarbeitenden Industrien und für die gesamte Nahrungsmittelkette lieferten.

So gesehen, handelt es sich um ein verbindendes Konzept, und ich denke, dass heute ein großer Teil der Familienlandwirtschaft in die Nahrungslieferkette der Agroindustrie integriert ist. Es führt kein Weg an dieser Richtung vorbei. Aus diesem Grund glaube ich, dass die Idee, dieses Modell zu bekämpfen, kontraproduktiv ist.

Es würde mehr Sinn machen, wenn sich Kleinbauern stärker für die Entwicklung der lokalen Märkte einsetzen würden, um dort die hohe lokale Nachfrage nach frischen und nährstoffreichen Produkten zu bedienen, die sich nicht auf den internationalen Märkten verkaufen lassen.

In Zentralamerika werden Bohnen, in Brasilien Kassava angebaut, beides Grundnahrungsmittel. Das Gleiche gilt für Quinoa und Amaranth, die in den Andenstaaten produziert werden. Nicht jeder isst Fleisch. Es gibt andere Möglichkeiten, sich mit tierischen und pflanzlichen Proteinen zu versorgen, die in Vergessenheit geraten sind.

Die Verringerung der Vielfalt - für 80 Prozent der weltweiten Bevölkerung sind Weizen, Mais, Reis oder Soja Grundnahrungsmittel - stellt eine große Bedrohung für die Weltbevölkerung dar. Wir sind dabei, uns nur noch von Getreide, Fetten und Ölsaaten zu ernähren. Und Übergewichtigkeit ist ein ernstes Problem, das mehr als eine Milliarde Menschen weltweit betrifft.

Den Speiseplan durch eine auf Nahrungsmittelvielfalt ausgerichtete kleinbäuerliche Produktion zur Versorgung der lokalen Märkte auszuweiten, scheint mir der richtige Weg zu sein, der nicht mit der Agroindustrie kollidiert.

IPS: Die zunehmende Produktion von Nahrungsmitteln für die Biotreibstoffproduktion hat zum Anstieg der Nahrungsmittelpreise geführt. Auch gibt es kritische Stimmen, denen zufolge der monokulturelle Anbau - etwa von Zuckerrohr in Brasilien, Ölpalmen in lateinamerikanischen und asiatischen Ländern und Mais in den USA - zu Umweltproblemen führt. Was ist Ihre Meinung?

José Graziano da Silva: Da verweise ich auf die Rede (von Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva) auf einem Treffen der FAO 2008, (...) dass es wichtig ist, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden.

Es gibt einen Biotreibstoff, der sich negativ auf die Nahrungsmittelpreise negativ ausgewirkt hat. Das ist der aus Mais hergestellte Kraftstoff. FAO-Studien zeigen, dass er sich wegen der Interdependenz der Märkte auch auf die Preise anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse ausgewirkt hat.

Folgen haben auch Ölsaaten wie der in Deutschland kultivierte Raps, weil dieser viel Wasser benötigt und mit anderen Ressourcen konkurriert. In Malaysia gibt es die Sorge, dass die Ausweitung der Ölpalmen den natürlichen Artenreichtum zerstört.

Doch an sich wirken sich Biotreibstoffe nicht auf die Preise aus. Das konnte anhand des brasilianischen Zuckerrohrs nachgewiesen werden. Zunächst einmal wird nicht so viel Land - nur drei Prozent - für die Herstellung von Biotreibstoff aus Zuckerrohr verwendet. Und zweitens konkurriert Zuckerrohr nicht mit dem Nahrungsmittelsektor. Es hat eigene Kanäle.

Nicht überall gibt es ausreichend Land und Wasser für die Produktion von Biotreibstoffen. Bei der FAO haben wir Fallstudien in lateinamerikanischen Ländern durchgeführt. Heraus kam, dass nur vier Länder - Argentinien, Paraguay, Brasilien und Kolumbien - in der Lage wären, ihre Biotreibstoffproduktion ohne negative Folgen auf die lokale Ernährungssicherheit auszuweiten.

IPS: Ein weiteres Problem ist Land Grabbing in Afrika und anderen Entwicklungsländern durch Unternehmen und Regierungen...

José Graziano da Silva: Wir haben soeben eine Studie in 17 lateinamerikanischen Ländern durchgeführt, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Auswirkungen in Argentinien und Brasilien gravierend sind. Andere Staaten der Region bekommen das Problem in den Grenzregionen als Folge der Bevölkerungsbewegungen zu spüren, die lange zurückliegen. Dazu gehören Paraguay und Uruguay, die von der Ausweitung des kommerziellen Sojaanbaus Brasiliens betroffen sind.

In anderen Ländern konnten wir keine Beweise dafür finden. Wohl aber fanden wir heraus, dass Staaten und Regierungen ein Interesse an Gesetzen haben, die ihnen erlauben, ihr Haus in Ordnung zu halten. Im Süden Chiles zum Beispiel gibt es Unternehmen, die sich große Gebiete einverleibt haben, die den Schutz von Waldgebieten und dem Bau von Wasserkraftwerken unmöglich machen.

Die Länder müssen ihre Landgesetze modernisieren, die sich zu einem großen Teil an die US-Gesetze des 18. Jahrhunderts anlehnen, die darauf abzielten, den Zuzug von Menschen aus den Nachbarländern in ihre Grenzregionen zu verhindern.

Regierungen bitten die FAO um Hilfe bei der Entwicklung von Mechanismen wie Datenbanken, die ihnen erlauben, die Kontrolle über ihre Territorien zu behalten. Die große Mehrheit der Staaten in der Region ist nicht über Landkäufe informiert. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.fao.org/index_es.htm
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99738

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2011