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FRAGEN/062: "Globalisiere Kämpfe, globalisiere Hoffnung auf Freiheit" (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 147, 1/19

"Globalisiere Kämpfe, globalisiere Hoffnung auf Freiheit"
Mit Empowerment, dem Konzept Frauenkooperativen und internationaler Vernetzung für eine selbstbestimmte Agrarökonomie in Palästina

Interview mit Hiba Al-Jibeihi von Klaudia Rottenschlager


Die Beauftragte für internationale Vernetzungsarbeit in der Union of Agricultural Work Committees von Palästina, Hiba Al-Jibeihi, im Interview über Alternativen zur Abhängigkeit von internationalen Hilfsgeldern


Klaudia Rottenschlager (KR): Was war der Hintergrund für die Gründung der Union of Agricultural Work Committees in Palästina?

Hiba Al-Jibeihi (HAJ): Die Union of Agricultural Work Committees (UAWC) ist einer der größten landwirtschaftlichen Verbände in Palästina. Wir haben uns 1986 als Reaktion auf die sich zuspitzende sozioökonomische Situation der palästinensischen Bauern und Bäuerinnen gegründet. Dafür verantwortlich waren und sind Besatzungs- und Siedlungspolitiken Israels, durch die Landkonfiszierungen und Beschlagnahmung von Wasserressourcen im Westjordanland und im Gazastreifen vorangetrieben werden. Dagegen setzen wir uns seit unserer Gründung ein. Unsere Arbeit hat lokale und internationale Aufmerksamkeit bekommen, da wir Projekte und Unterstützungsstrukturen erarbeiten, die jährlich rund 30.000 Bauern und Bäuerinnen in ländlichen oder durch den Konflikt schwer erreichbaren Gebieten zugutekommen.

Derzeit arbeiten wir in zwölf Büros in Palästina. Wir fördern Agrarentwicklungs- und Landbewirtschaftungsprojekte, bauen Wasserversorgungssysteme und arbeiten mit dem Konzept der Frauenkooperativen, um die Lebensbedingungen von vor allem in ländlichen Gebieten lebenden Bäuer_innen zu verbessern. Rechtliche Beratung, Notfallplanung und Krisenunterstützung gehören seit langem zu unseren Aufgaben. Daran anschließend bauen wir lokale und internationale Solidaritätsnetzwerke auf.


KR: Was sind die konkreten Auswirkungen der mittlerweile mehr als 40 Jahre andauernden militärischen Besatzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens und Ost-Jerusalems für Bauern und Bäuerinnen in Palästina?

HAJ: Landwirtschaft hat einen zentralen Stellenwert in der palästinensischen Gesellschaft und ist durch die Besatzung, vor allem durch die Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit und den Zugriff auf Ressourcen, massiv beeinträchtigt worden. Die Förderung von Land- und Agrarwirtschaft ist einer der wichtigsten Schritte, um unsere Ernährungssicherung und Selbstversorgung zu gewährleisten.

Nach dem Oslo-Abkommen 1993 wurde das Westjordanland in verschiedene Verwaltungsregime aufgeteilt. Das setzte die Fragmentierung des gesamten palästinensischen Gebiets fort. Zone C, die 62% ausmacht, unterliegt zur Gänze israelischer Zivil- und Militärverwaltung. Das Gebiet umfasst die größten Wasserressourcen und fruchtbares Agrarland, das das Rückgrat unserer landwirtschaftlichen Entwicklung sein sollte. Real ist dieses Gebiet jedoch Sinnbild für voranschreitenden - unter internationalem Recht illegalem - Siedlungsausbau und Landnahme(1).

Der landwirtschaftliche Beitrag von Zone C zur palästinensischen Wirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten um mehr als die Hälfte verringert. Diese Entwicklungen bedeuten die vollkommene Abhängigkeit der palästinensischen Bevölkerung in Zone C von internationalen Hilfsgeldern. Das neue Nationalstaatsgesetz Israels wird massive Auswirkungen auf die palästinensische Kultur, Sprache, Identität und Landnutzung mit sich bringen und verwehrt palästinensischen Flüchtlingen einmal mehr das international anerkannte Recht auf Rückkehr.


KR: Die UAWC unterstützt vor allem Bäuerinnen und Frauenkooperativen im Westjordanland und im Gazastreifen. Was bedeutet dabei Empowerment?

HAJ: Bäuerinnen, die in ländlichen Gebieten leben und oft wenig Bildungschancen hatten, sind auf mehreren Ebenen von den politischen und ökonomischen Auswirkungen des Konflikts betroffen. Die Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfreiheit durch die Besatzungsstrukturen verschlechtert ihre Lage enorm. Sie sind fast zur Gänze von Ehemännern und Brüdern abhängig, und die steigende Arbeitslosenrate lässt sie keine weiteren Einkommensquellen in nahe gelegenen Dörfern oder Städten finden.

Hier benötigt es langfristige Empowermentstrukturen, die ökonomische und soziale Unterstützung ermöglichen. Frauenkooperativen sind ein Weg, um unabhängiges Einkommen und die Würde dieser Bäuerinnen aufrechtzuerhalten. Wir kritisieren Hilfsprojekte von internationalen Organisationen, die Empowerment meist nur als Bewusstseinsbildung für individuelle Rechte verstehen und materielle Nachhaltigkeit oft nicht einmal ansprechen.

Empowerment bedeutet, sich Wissen und Fähigkeiten zu erarbeiten, die danach auch umgesetzt werden können. Frauenkooperativen bedeuten nicht nur Zugang zu nachhaltiger Vermarktung und dem Verkauf von eigenen Produkten, sondern auch lokale und internationale politische Vernetzung, um unsere Stimmen zu erheben.

Seit 2015 hat UAWC 45 Frauenkooperativen gegründet und damit 9.450 Frauen im Westjordanland und im Gazastreifen unterstützt. Alle sind unter dem gemeinsamen Label "bas baladi" ("nur lokale Produkte")(2) vereint, was die gemeinsame Vermarktung der Produkte ermöglicht. Auch Frauen, die individuell produzieren, können sich uns unter diesem Label anschließen. Wir verkaufen auf lokaler und internationaler Ebene. Ein Erfolgsprojekt ist zum Beispiel eine Frauenkooperative, die Suppe aus Palästina in die Niederlande verkauft.


KR: Welche Bedeutung haben internationale Solidaritätsnetzwerke für Bauern und Bäuerinnen in Palästina?

HAJ: Die UAWC ist seit 2013 Mitglied bei der globalen Bewegung von Kleinbauern und -bäuerinnen und Landarbeiter_innen La Via Campesina. Seither sind wir als erstes Mitglied der arabischen Welt dafür zuständig, Aufbauarbeit im Mittleren Osten und Nordafrika zu leisten. Wir haben bereits Netzwerke mit Kolleg_innen aus Tunesien und Marokko etabliert.

Wir setzen uns gegen Landnahme und Vertreibung der indigenen Bevölkerung, Bauern und Bäuer_innen und Landarbeiter_innen ein und versuchen, Widerstand gegen Besatzungsstrukturen und das kapitalistische System zu leisten - nicht nur hier in Palästina, sondern überall auf der Welt. Wir fordern die Souveränität von Bauern und Bäuerinnen über ihr Land, über Nahrung, Wasserressourcen und Saatgut. Unsere Solidaritätsnetzwerke helfen uns, die Geschichten und Kämpfe, die wir miteinander teilen, weltweit hörbar zu machen und voneinander zu lernen.

Wenn Bauern und Bäuerinnen in Kolumbien von Gewalt und Mord betroffen sind, versuchen wir auch hier Aufmerksamkeit dafür zu erzeugen. Wenn palästinensische Bauern und Bäuerinnen von Besetzungsstrukturen, Siedler- und Militärgewalt betroffen sind, dann machen unsere Kolleg_innen verschiedene Solidaritätsaktionen. Wir organisieren auch gemeinsame Konferenzen, die unsere Strategien und Widerstandsformen zusammenführen und unsere Stimmen lauter werden lassen. Unser Slogan ist: "Globalisiere Kämpfe, globalisiere Hoffnung auf Freiheit."

Anmerkungen:
(1) www.un.org/press/en/2016/sc12657.doc.htm
(2) https://viacampesina.org/en/uawc-launches-bas-baladi-outlet-store/

WEBTIPPS:

La Via Campesina Palestine:

https://viacampesina.org/en/tag/palestine

Food Souvereignity and alternative development in Palestine:
www.mattersburgerkreis.at/site/de/publikationen/jep/alleausgabenartikel/article/388.html


ZUR INTERVIEWERIN:
Klaudia Rottenschlager ist Sozialwissenschaftlerin und Doktorandin an der Universität Wien.

ZUR INTERVIEWTEN:
Hiba Al-Jiheihi ist Menschenrechtsaktivistin und arbeitet in der internationalen Vernetzungsarbeit der UAWC in Palästina.

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 147, 1/2019, S. 20-21
Text: © 2019 by Frauensolidarität / von Klaudia Rottenschlager
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2019

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