Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → ERNÄHRUNG


FRAGEN/037: "Nahrung ist die Währung des Lebens" - Interview mit Vandana Shiva (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 134, 4/15

"Nahrung ist die Währung des Lebens"
Interview mit der indischen Umweltaktivistin Vandana Shiva

Von Meriem Ait Oussalah


Geboren 1952 in Indien, setzt sich die Wissenschaftlerin und Feministin Vandana Shiva seit ihrer Jugend für Umweltschutz, Nahrungssouveränität und Fairness innerhalb der Gesellschaft ein. Sie ist eine Ikone des Ökofeminismus, promovierte Physikerin und erhielt 1993 den Right Livelihood Award - auch als alternativer Nobelpreis bekannt - für ihren Einsatz, Frauen und Ökologie in den modernen Entwicklungsdiskurs einzubringen. Meriem Ait Oussalah traf sie im Oktober 2015 kurz vor ihrem Vortrag im Wiener Otto-Mauer-Zentrum 1 für ein Interview und befragte sie zu ihren Projekten rund um das Thema "Samenrettung".


Meriem Ait Oussalah: Sie halten gleich einen Vortrag über Ihre weltumspannende Arbeit. Können Sie im Vorfeld sagen, worüber Sie heute sprechen werden?

Vandana Shiva: Mein erstes Hauptanliegen ist es, aus einer mechanischen, männlich dominierten Denkweise auszubrechen, die durch die Wissenschaft von Newton, Bacon und Descartes, welche die lebende Welt als Maschine, die Natur als tot und Frauen als leere Gefäße, die lediglich für die Reproduktion dienlich seien, sahen, definiert wurde. Mein zweites Angriffsziel ist der freie Handel und der Unternehmensunfug wie Freihandelsabkommen und Antiverfassungs-, antisoziale-, antidemokratische-, Antilebensvorhaben, wie zum Beispiel Leben patentieren zu lassen. Und mein drittes Anliegen ist es, konstruktive Alternativen zu schaffen mit Frauen, mit Landwirt_innen, den Fokus auf Pflanzensamen zu legen und diese wieder als Allgemeingut zurückzufordern. Ich konzentriere mich auf den biologischen Anbau, um zu zeigen, dass dadurch tatsächlich mehr Nahrung produziert wird.


Meriem Ait Oussalah: Welche Rolle spielen Frauen bei der Schaffung von Nahrungssicherheit?

Vandana Shiva: Die Landwirtschaft befand sich schon immer in Frauenhand. Frauen sind diejenigen, die die Landwirtschaft prägten, die Pflanzen und Samen kultivierten und züchteten, diejenigen, die das Wissen um Biodiversität und Ernährung hatten, diejenigen, die die Saaten in herrliche Speisen und Rezepte verwandelten. Erst im letzten halben Jahrhundert nach dem Krieg begannen Großkonzerne damit, Chemikalien in die Landwirtschaft einzuführen, und jetzt wollen sie sich durch Genmanipulation das Saatgut aneignen. Meine Arbeit mit Frauen bezieht sich also in erster Linie darauf, Pflanzensamen zu retten und gemeinschaftliche Samenbanken zu errichten. Alles rund um die Ernährung ist also Thema in unserer Frauenbewegung. Des Weiteren haben wir autonome Gruppen gebildet, die wir "Frauen Nahrungssouveränitätseinheiten" nennen.


Meriem Ait Oussalah: Ich würde gerne mehr über das Konzept der Samenbanken erfahren, wie funktioniert das genau?

Vandana Shiva: Das traditionelle Sammeln von Samen ging immer auch mit einem freien gegenseitigen Austausch zwischen Gemeinschaften einher, speziell unter Frauen. Was wir durch Navdanya 2 taten, war, diese Tradition aufrechtzuerhalten. Wir schufen 120 Samenbankgemeinschaften in Indien. Und in diesen Banken befinden sich Samen, die sehr nahrhaft sind, die Dürre, Überschwemmungen und Zyklone überleben und nach Klimakatastrophen der Gemeinschaft weiterhin für die Ernährung zur Verfügung stehen. Wir nennen sie Freiheitssamen und Samen der Hoffnung, denn als solche erschweren sie es den Konzernen, den Besitz und Austausch von Pflanzensamen für illegal erklären zu lassen. Die Konzerne sind nur deshalb so erpicht darauf, genmanipulierte Produkte herzustellen und patentieren zu lassen, weil sie dann für diese Lizenzgelder erhalten. Wir bringen frei zugängliche Samen in Umlauf, denn einmal in Händen, können sie immer wieder vervielfacht werden.


Meriem Ait Oussalah: Nahrungssouveränität ist auch hier in Europa ein Thema. Ich erinnere mich daran, vor ein paar Jahren eine Petition unterzeichnet zu haben, in der es um die Saatenfreiheit ging.

Vandana Shiva: Ja, es gab den Versuch, Saatgut zu privatisieren, das Sammeln von Samen zu kriminalisieren und dadurch heimisches Saatgut verschwinden zu lassen. Wir arbeiten eng mit einer Organisation namens Arche Noah hier in Österreich zusammen, mit der wir auch unter Einbeziehung anderer Initiativen und dem EU-Parlament die Europäische Kommission zu einem entsprechenden Gesetz zwingen wollen. Die Petitionen stehen dafür, dass unsere freien Samen durch die Evolution, unsere Ahnen, auf unseren Feldern und Landwirtschaften getestet sind. Der Staat hat nicht das Recht dazu, sie für illegal erklären zu lassen. Was wirklich reguliert werden sollte, ist die Genmanipulation.


Meriem Ait Oussalah: Zu Beginn des Interviews erwähnten Sie männlich dominierte ökonomische Ideen und Theorien. Nun frage ich mich, ob eine höhere Zahl an Frauen in machtvollen Positionen, zum Beispiel in Unternehmen und dergleichen, einen sofortigen Wandel bedeuten würde, oder ob diese männlichen Ideen auch in weiblichen Köpfen wohnen?

Vandana Shiva: Wenn die Strukturen patriarchal sind, dann führt die Integration von Frauen in diese Strukturen nicht zwingend zu Feminismus. Es gab schließlich auch eine Margareth Thatcher, die diejenige war, die den neuen Wirtschaftsliberalismus praktisch in die Welt hinaustrug und die Meinung forcierte, dass Gesellschaft und Gemeinschaft gebrochen werden müssen, um die Menschen zu konsumierenden Individuen zu verwandeln. Diese Denkweise ist eine patriarchale. Was es wirklich braucht, ist, den Frauen zuzuhören. Es ist ja nicht so, dass Frauen keine Korrekturen vornahmen in diesem kapitalistischen, patriarchalen Modell. Letztendlich waren es Frauen wie Rachel Carson, die die Auswirkungen von Pestiziden aufzeigten. Es war eine Frau, die Gemeingüter zum großen Thema machte und dafür sogar einen Nobelpreis erhielt, nämlich Elinor Ostrom. Es waren Frauen, die zeigten, dass Landwirtschaft auf andere Weise geschehen sollte, nachdem ursprünglich sie das Land bewirtschafteten. Und sogar heute wenden sich mehr Frauen der biologischen Landwirtschaft zu, weil sie wissen, dass es hier um die Erhaltung und Gesundheit unseres Planeten und das Wohlergehen aller geht. Wir müssen Frauen auf jeder Ebene einschließen, nicht nur als Konzernchefinnen.


Meriem Ait Oussalah: Was können wir als Bürger_innen im Alltag zu einem guten Leben für uns alle beitragen?

Vandana Shiva: Jede_r kann einen Samen retten. Denn hierin liegt die Verantwortlichkeit und Stärke, nein zur Dominanz von Monsanto und dem Gentechnikimperium zu sagen. Österreich ist seit jeher gentechnikfrei, ich war vor 20 Jahren hier, als die Bewegung gegen Gentechnik startete. Pflanzensamen zu retten - und sei es in einem Topf auf dem Balkon - ist schon ein Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität. Wenn mir jemand sagt, dass sich nicht jeder Mensch biologische Nahrungsmittel leisten kann, dann sage ich: "Oh, aber jede_r kann es sich leisten, Gemeinschaften zu bilden, und sogar die ärmsten der Armen können hier mit eingeschlossen werden." Diejenigen, die privilegiert sind, schulden es dem Rest der Gesellschaft - also rettet Samen! Die Hälfte des gesamten europäischen Etats wird dafür aufgewendet, konventionelle Landwirtschaft aufrechtzuerhalten - das ist in keinster Weise billig. Nahrung ist die Währung des Lebens, und deshalb bestimmt die Art des Wachstums und was wir essen, die Gesundheit des Planeten und unsere eigene. Beteiligt euch also an der Gestaltung eines neuen Nahrungsmittelsystems, das den Planeten nicht weiter zerstört, das unsere Kinder nicht durch Gifte tötet, das die Bäuer_innen in der "Dritten Welt" nicht durch Überschuldung in den Tod treibt - das ist nämlich Genozid.


Meriem Ait Oussalah: Danke für das Interview!


ANMERKUNGEN:

(1) Vandana Shiva besuchte Wien und Graz auf Einladung des Grazer Elevate-Festivals. Die Veranstaltung in Wien wurde von Brot für die Welt, Frauen*solidarität, Grüne Bildungswerktstatt Wien, Grüne Frauen Wien, Katholische Frauenbewegung und WIDE organisiert.

(2) Vandana Shiva ist eine Mitbegründerin der Organisation Navdanya - was "Neun Saaten" bedeutet - und steht symbolisch für den Schutz von biologischer und kultureller Vielfalt des Saatgutes. Es ist ein Netzwerk von Samensammler_innen in Indien.


HÖRTIPP:
Das Interview mit Vandana Shiva wurde am 17. November 2015 im Rahmen der Sendereihe Globale Dialoge der Women on Air auf Radio Orange 94.0 ausgestrahlt. Sie können es jederzeit nachhörenn auf:
www.noso.at


ZUR AUTORIN:
Meriem Ait Oussalah lebt in Wien und ist Sendungsgestalterin bei Radio Orange 94.0.

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 134, 4/2015, S. 29-30
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang