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FRAGEN/032: Für die Vision eines sozialistischen Zukunftsprojektes (ubs)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 391 - September 2015
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Für die Vision eines sozialistischen Zukunftsprojektes
Alice Froidevaux, im Interview über den Kongress der Lateinamerikanischen Koordination der Bauernorganisationen (CLOC - La Vía Campesina)

Interview von Uniterre Schweiz mit Alice Froidevaux


Unabhängige Bauernstimme: Welche Themen wurden auf dem Kongress behandelt?

Alice Froidevaux: Es gab drei Teile: die Versammlung der Jugendsektion, die Versammlung der Frauensektion und der eigentliche Kongress. Bei der Jugendversammlung wurde über die bessere Integration der Jugendlichen in die Arbeit und die Entscheidungsprozesse von La Via Campesina (LVC) und über den Aufbau von Allianzen zwischen der ländlichen und der städtischen Jugendbewegung diskutiert. Die Frauenversammlung stand unter dem Titel "Ohne Feminismus gibt es keinen Sozialismus". Ein Hauptziel des Treffens war es, eine Definition für einen "bäuerlichen Volksfeminismus" (feminismo campesino y popular) auszuarbeiten. Am dreitägigen Kongress aller CLOC-LVC-Delegierten wurde zum Beispiel über Agrarreform, Ernährungssouveränität, Agroökologie, indigene Völker, Migration und Lohnarbeit, Menschenrechte debattiert. Aber es wurden auch interne Mechanismen und Strategien im Bereich der Kommunikation und der (Weiter-)Bildung zum Thema gemacht.

Umrahmt wurde alles von einem allgegenwärtigen politisch-ideologischen Diskurs, der geprägt ist von der Idee einer kontinentalen lateinamerikanischen Einheit im Widerstandskampf gegen Kapitalismus und Imperialismus sowie von der Vision eines sozialistischen Zukunftsprojektes. Seinen Abschluss fand das Treffen in einem großen Demonstrationsmarsch durch Buenos Aires am 17. April, dem Internationalen Tag des Bauernkampfes.

Was unterscheidet die Ausrichtung von CLOC-LVC von bäuerlichen Organisationen in Europa, z.B. ECVC?

Die CLOC-LVC hat einen viel stärkeren politisch-ideologischen Diskurs als zum Beispiel bäuerliche Bewegungen in Europa. Man stellt sich rigoroser gegen das kapitalistische System als bei uns. Begriffe wie Sozialismus oder Revolution gehören in Lateinamerika ganz natürlich dazu, während sie in Europa vermieden werden oder man sich zumindest schwer damit tut. Dies ist auf die unterschiedlichen historischen, politischen und sozialen Entwicklungen der beiden Kontinente zurückzuführen.

Auch die Bedeutung gewisser Themenbereiche und Kampagnen ist unterschiedlich. Während zum Beispiel die Forderung nach einer Agrarreform in Lateinamerika noch immer ganz oben auf der Agenda der Bauernorganisationen steht, ist das Thema in Europa heute kaum mehr relevant. Ein anderes Beispiel ist die LVC-Kampagne "Schluss mit Gewalt gegen Frauen". Sie ist zum Beispiel in zentralamerikanischen Ländern, wo Gewalt gegen Frauen sehr weit verbreitet ist und zudem eine hohe Straffreiheit besteht, viel sichtbarer (durch Aktionen etc.) als in Europa. Aber nicht nur die Ausrichtung von CLOC-LVC und bäuerlichen Organisationen in Europa ist unterschiedlich. Auch die Umstände für eine bäuerliche Mobilisierung sind nicht dieselben. In vielen Ländern Lateinamerikas herrscht eine starke Repression gegen Aktivisten; sie werden bedroht, eingeschüchtert und sogar umgebracht, weil sie für ihre Rechte einstehen.

Die jungen Menschen sind stark vertreten in der CLOC-LVC - was fordern sie?

Die Jugend kämpft in erster Linie für reale Zukunftschancen der (Klein-) Bauern und einen Erhalt und die Aufwertung der bäuerlichen sowie der indigenen und afrolateinamerikanischen Kultur. Viele Kleinbauern sind in einer schlechten wirtschaftlichen Lage. Oft fehlt der Zugang zu Land für die Produktion, wodurch viele ländliche Bewohner gezwungen sind, unter schlechten Bedingungen als Landarbeiter auf den Plantagen internationaler Konzerne zu arbeiten. Dazu kommt, dass der Beruf "Bauer" in der Gesellschaft einen schlechten Ruf hat. Die Bauern werden als faul, dumm, rückständig und arm abgestempelt. Diese Situation führt auch dazu, dass viele Jugendliche nicht auf dem Land bleiben und in die Stadt abwandern. Auch deshalb ist es der Jugendsektion von CLOC-LVC wichtig, dass die ländliche und die städtische Jugendbewegung zusammenarbeiten - durch die Land-Stadt-Migration sind das keine gegensätzlichen Bewegungen mehr.

Welche Verantwortung haben die Mitglieder von La Via Campesina - bezüglich z.B. GVO, Globalisierung und Freihandelsabkommen?

Das Ziel ist es, dass alle Mitgliederorganisationen von LVC laufende internationale Kampagnen umsetzen und in ihrem Land auf die Themen der LVC-Agenda aufmerksam machen. Es ist klar, dass nicht in jedem Land oder in jeder Region dieselben Themen relevant sind. Es geht aber um die gemeinsame Erkenntnis, dass durch die Globalisierung und den Neoliberalismus die Landwirtschafts- und Ernährungspolitik eben weltweit zusammenhängen. Es geht also alle überall etwas an. Die LVC-Mitgliederorganisationen der verschiedenen Länder müssen entscheiden, welche Art von "Kampf" im lokalen Kontext Sinn macht. Uniterre hat zum Beispiel die Strategie gewählt, eine Initiative für Ernährungssouveränität zu lancieren. Ich finde diesen Schritt vor allem deshalb wichtig, weil er zeigt, dass Ernährungssouveränität nicht nur ein Konzept für die Bauern in so genannten Entwicklungsländern ist. Auch hier muss eine Debatte um die Rechte der Bäuerinnen und Bauern, der landwirtschaftlichen Mitarbeiter/-innen und der Konsument/-innen geführt werden. Es geht um faire Löhne und faire Preise, Markttransparenz, die Stärkung von lokalen Produktions- und Handelskreisläufen, eindeutige Produktinformation, einen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur usw.

Welche Eindrücke nehmen Sie von dem Kongress mit?

Die Atmosphäre während des Kongresses war für mich sehr eindrücklich. Es nahmen rund 1.000 Personen teil. So viele engagierte, motivierte Aktivistinnen und Aktivisten an einem Ort - mutige Menschen mit sehr interessanten Geschichten - ergaben eine sehr energiegeladene Stimmung. Zusätzlich war der Kongress sehr laut. Das meine ich aber im positiven Sinne. Es wurden oft zusammen Slogans gerufen oder Lieder gesungen. Generell hatte Musik (ob spontan oder geplant) sehr viel Platz: von brasilianischen Trommeln, über traditionelle indigene Gesänge bis zu argentinischem Pop-Rock.

Ganz speziell und schon ein fester Bestandteil der LVC-Kultur sind die sogenannten Místicas. Das sind kleine szenische Vorführungen, in welchen Geschichten des Bauernkampfes erzählt und symbolisch bäuerliche und indigene Werte dargestellt werden. Eine Hauptfunktion der Místicas ist es, den Zusammenhalt zu fördern und den Kampfgeist zu stärken. Jeweils zur Eröffnung und zum Abschluss eines Tages runden sie das Programm ab. Bei der Vorbereitung der Místicas spielen übrigens die Frauen die tragende Rolle.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 391 - September 2015, S. 10
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft -
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(verbilligt auf Antrag 28,40 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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