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USA/367: Post-Amerikanische Konstellation (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2013

Post-Amerikanische Konstellation

Von Otto Jacobi



Der amerikanische Traum vom Wohlstand für alle und das Sendungsbewusstsein, Vorreiter und Garant von Freiheit zu sein, sind ins Wanken geraten. Dies hat zur Diskussion über die Zukunft und Stellung des Landes in einer Post-Amerikanischen Welt geführt. Intellektueller Meinungsführer der politischen Linken in den USA ist das Woodrow-Wilson-Institute der Princeton University, dessen prominentester Sprecher, John Ikenberry, 2011 mit dem Buch "Liberal Leviathan" die Debatte maßgeblich beeinflusst hat. Seine theoretischen und politischen Positionen werden im Folgenden diskutiert.

Die Verunsicherung in Politik und Gesellschaft der USA über die Zukunft des Landes ist groß. Dazu beigetragen hat zum einen die schwere Finanzmarktkrise der Jahre ab 2007, die abzufangen massiver staatlicher Interventionen bedurfte. Entgegen aller anderslautenden Äußerungen ist aber der amerikanische Kapitalismus vom neoliberalen Charakter her schon immer ein vom Staat geschützter Kapitalismus gewesen. Es hat sich erneut gezeigt, dass bei einer systemischen Krise der Staat ein zuverlässiger Garant des Status quo ist. Zum zweiten haben die desaströsen Ergebnisse amerikanischer Militäroperationen zur Verunsicherung beigetragen. Das Militär, von der amerikanischen Unabhängigkeit bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Zentrum amerikanischen Selbstbewusstseins, verfügt zwar noch immer über eine hohe Reputation, aber die Zweifel über politische und finanzielle Angemessenheit nehmen zu. Der dritte Faktor beinhaltet das fast schon chronische Außenhandelsdefizit, die überbordende Staatsverschuldung und die einem Entwicklungsland ähnelnde soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Und schließlich verunsichern auch die neuen globalen Akteure, v.a. China und Indien.


Hin zur unipolaren Welt

Zwar nicht unumstritten, jedoch weithin geteilt ist eine Weltsicht, der zufolge mit dem Zusammenbruch des Kommunismus auch die multipolare Welt an ihr Ende gelangt ist. Geblieben und zur unipolar-globalen Herrschaft aufgestiegen sind die USA. Die liberale Weltordnung wird nun angeführt und abgesichert von den USA, aber im Gegensatz zu einer imperialen Herrschaft entscheidet der liberale Hegemon weder unilateral noch willkürlich. Die liberale Weltordnung basiert auf freiwilliger Teilnahme, ist durch eine Vielzahl von Verträgen abgesichert und hat zwischenstaatliche Institutionen zur Durchsetzung vereinbarter Regeln geschaffen. Konsens hat Priorität vor Befehl. Mit anderen Worten: Das System liberaler Hegemonie setzt auf multilaterale Kooperation, die den kleineren Partnern Freiheitsräume belässt. Hillary Clinton nennt dies "multipartner world". John Ikenberry fasst dies so zusammen: "Liberal-oriented hierarchy is international order in which the dominant state builds and operates within more or less agreed-upon rules and institutions."

Die Vormachtposition der USA ist laut Ikenberry durch Überlegenheit auf mehreren Feldern abgesichert. Das amerikanische Wirtschaftssystem wird als die leistungsfähigste und innovationsfreundlichste Ordnung betrachtet. Noch mehr Bedeutung wird der US-Militärmacht beigemessen. Die Konzentration von Macht in der Hand eines Führungsstaates hat eine historisch beispiellose Höhe erreicht - dies ist, um zu erinnern, die Position eines einflussreichen linken Theoretikers.

Für das Konzept der liberalen Hegemonie sind die wirtschaftlich, technologisch und militärisch fundierten Ressourcen essenziell. Sie geben der Führungsmacht die Möglichkeit, dem globalen System öffentliche Güter bereit zu stellen, wie Sicherheit vor militärischen Angriffen, Garantie einer offenen Weltwirtschaft, Schutz demokratischer Ordnungen sowie Stabilität systemrelevanter Regeln und Institutionen.

Dem Aufstieg der USA zur Weltherrschaft ging eine längere historische Phase mit dem Siegeszug liberal demokratischer Staaten voraus. Ikenberry sieht im Anstieg von Macht, Einfluss und globaler Reichweite der liberal demokratischen Welt geradezu einen säkularen Trend, der sich gegen alle fundamentalistischen Gegenofferten durchgesetzt hat und bis heute anhält.


Die "Wilsonian Vision"

Um diese Einschätzung zu verstehen ist ein Rückblick auf die von Woodrow Wilson entwickelte außenpolitische Konzeption für die USA von Nutzen. Wilson war ein progressiv-liberaler Wissenschaftler und Demokrat, zunächst Governor of New Jersey und von 1913 bis 1921 amerikanischer Präsident. International berühmt geworden ist er durch seine außenpolitische Konzeption. Er wurde der Gründungsvater der liberalen Tradition amerikanischer Außenpolitik. Der Kernsatz seiner Überlegungen war: "Autocratic and militarist states make war; democracies make peace".

Roosevelt und Truman haben diese "Wilsonian Vision" inhaltlich um die Gesichtspunkte Menschenrechte und soziale Sicherung erweitert und große Teile in politische Praxis umgeformt. Danach haben weitere Präsidenten die Politik des "benign hegemon", des freundlich gutartigen Hegemons, fortgesetzt.

Die Leitmotive bzw. Bausteinen des "Wilsonianism" sind:

• Eine friedliche Weltordnung gründet auf der Gemeinschaft demokratischer Staaten.
• Offene Märkte und Freihandel einerseits, Wohlfahrtsstaat und soziale Sicherheitsnetze andererseits üben eine modernisierende und zivilisierende Wirkung aus; sie sind die materiellen Fundamente einer progressiv-liberalen Weltordnung.
• Internationales Recht, Institutionen der Kooperation, Streitschlichtungsgremien und Menschenrechte sind zentrale Elemente einer globalen Freiheitsordnung.
• Kollektive Sicherheit und Abrüstung sind die Bausteine einer Welt des Friedens.
• Die USA haben eine führende Rolle im Prozess der Überwindung von Gewaltherrschaft, Militarismus und Despotismus zu spielen.
• Die USA sollen die Rolle einer Avantgarde übernehmen: "America is the great moral agent and God's chosen midwife of progressive change."

Angetrieben von diesen Ideen waren die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges führend beteiligt an globalen Verhaltensstandards und an der Einrichtung globaler Institutionen: Charta der Menschenrechte, Vereinte Nationen, Weltbank, IWF, Bretton Woods und vieles mehr. Dies führte dann in der Zeit des Kalten Krieges zu dem von den USA angeführten liberalen Pol, der zum Zusammenbruch des Kommunismus und dem Wandel einer bipolaren in eine unipolare Hegemonie führte.

Die Außenpolitik von George W. Bush widersprach fundamental der Wilsonian Vision und wurde von den liberalen Demokraten heftig bekämpft. Das Günstigste, was man sagen kann, ist vielleicht, dass Bush, verführt von der überwältigenden Machtkonzentration der USA, den - fehlgeschlagenen - Versuch unternahm, eine imperiale Hegemonie zu etablieren. Geblendet von der einzigartigen militärischen Stärke, glaubte er, der Welt seinen Willen aufzwingen zu können. Seine Außenministerin Condoleezza Rice hat mit dem Hinweis auf das Ziel, Gewaltherrscher zu besiegen und demokratische Regime an ihre Stelle zu setzen, an die Wilson'sche Vorstellung von amerikanischer Avantgarde anzuschließen versucht.

Das konnte aber nicht mehr verhindern, dass die USA in die älteste Falle imperialer Staaten tappten: Das klassische Problem der Selbstgefälligkeit und Überschätzung der eigenen Macht.


Die neue Weltordnung

Gleichsam umstritten wie verbreitet ist die These, dass der Aufstieg bislang ökonomisch und politisch nachrangiger Länder wie China oder Indien und vielleicht Brasilien oder Russland an der Existenz einer unipolaren Welt wenig ändert. Neue global agierende Mächte führten zwar zu Machtverschiebungen innerhalb einer unipolaren Weltordnung, änderten aber nichts an einer von den USA angeführten Welt, da den neuen Akteuren sowohl die konzeptionellen Gegenmodelle als auch die Ressourcen fehlten. Ikenberry zufolge sind es tief verwurzelte Gründe, die ein entsprechendes Gegengewicht verhindern. Vor allem die politischen Risiken und finanziellen Kosten, die mit dem Aufbau einer Gegenmachtposition verbunden sind, schrecken potenzielle Gegenkoalitionäre ab.

So wird also nicht mit dem Erscheinen eines Gegenpols gerechnet, aber doch mit einer Machtverschiebung durch neue globale Problemlagen und Akteure: Die amerikanisch geführte liberale Weltordnung befindet sich in einer Phase der Erneuerung und Transformation. Ausschlaggebend hierfür sind grenzüberschreitende Herausforderungen wie Umweltschutz, Sicherheit, Migration oder die Verletzung von Menschenrechten, die allesamt das Westfälische Ordnungsprinzip unterlaufen, demzufolge die innere Souveränität des Nationalstaates unangreifbar ist. Zunehmend wird von der internationalen Gemeinschaft die Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates akzeptiert. Dafür bedarf es aber neuer Regeln und auf jeden Fall einer gründlichen Reform der Vereinten Nationen, um die Entwicklung in Richtung "post-Westphalian norms of sovereignty" (Ikenberry) treiben zu können.

Die zentrale Annahme ist also, dass die unipolare Welt sich auch in den nächsten Dekaden wegen des Fehlens politischer und konzeptioneller Alternativwelten durch eine überraschend hohe Stabilität auszeichnet. Dies ist eigentümlich konservativ für Wissenschaftler und Politiker, die sich als progressiv begreifen. Es ist sehr bezeichnend, dass sie primär in den Kategorien von Nationalstaaten denken, die in zwischenstaatlichen nicht aber transnationalen Systemen agieren. Auch neue gesellschaftliche Konstellationen, wie etwa die Umweltbewegung und manches, was wir heute noch gar nicht absehen können, werden nicht in eine Konzeption aufgenommen, die beansprucht, Grundrisse für einige Jahrzehnte zu liefern.

In der amerikanischen Diskussion über Veränderungen in der Weltordnung wird die Gefahr vernachlässigt, dass die USA die notwendige Flexibilität und Veränderungsbereitschaft zur Anpassung an eine multilateral anders gewichtete Machtkonstellation nicht aufbringen könnten. Insbesondere Ikenberry übersieht, dass die USA aus innerer Schwäche die Kraft zur unipolaren Führung verlieren könnten. So kommt es, dass neben dem entwicklungs-konservativen Element auch ein über alle Maßen unkritisches Selbstvertrauen vorherrscht. Dies ist umso befremdlicher, als sein Kollege Paul Krugman die ständig weiter ausufernde soziale Ungleichheit vehement kritisiert, weil sie die politische und wirtschaftliche Stärke des Landes aushebelt.


Chimerika

Meine These ist, dass die USA sich zu einer westlich geprägten autoritären Gesellschaft entwickeln werden, die formal demokratische Strukturen beibehält, aber sie gesellschaftlich unterläuft. Die asiatischen Länder wiederum, allen voran China, schaffen eine östlich geprägte autoritäre Gesellschaft, frei von den Ideen der Aufklärung aber partiell flankiert von paternalistischer Fürsorge. Die Gefahr einer Koalition autoritärer Globalmächte ist denkbar: Chimerika, bestehend aus einem autoritären Staatskapitalismus und einem elitären Marktkapitalismus, ist nicht von der Hand zu weisen.

Für eine autoritär-elitäre Wendung der USA spricht die enorme soziale Ungleichheit, die Mitte der 70er Jahre einsetzte und dazu geführt hat, dass das Land soziale Disparitäten im Ausmaß eines Entwicklungslandes aufgebaut hat. So sind mehr als 35 Millionen Amerikaner, davon fast zwei Millionen in New York City, auf Lebensmittelmarken angewiesen. In den USA stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft mit derart ungleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen demokratische Freiheiten dauerhaft gewährleisten kann oder autoritäre Strukturen entwickelt, die wirtschaftliche und politische Macht in einer kleinen Oberklasse konzentriert.

Der amerikanische Traum von der sozialen Durchlässigkeit und den Aufstiegschancen für Alle ist in der wachsenden Kluft zwischen gebildeten und wohlhabenden Enklaven einerseits und der Welt der Unterprivilegierten andererseits verschwunden. Die These vom autoritären Trend erntet in Gesprächen mit einem aufgeschlossenen liberalen Publikum jedoch nur halbe Zustimmung: Die Absicht und manche Umsetzung seien gewiss erkennbar, aber man solle die große demokratische Tradition des Landes nicht übersehen, die Fehlentwicklung durch Gegenmobilisierung wieder gerade rückt.

Die Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Struktur und Ausrichtung Chinas sind überaus unterschiedlich und spekulativ. Klar ist, dass der autoritäre Charakter des Landes institutionell und kulturell tief verankert ist. Die hierzulande häufig vertretene These, dass ein wirtschaftlich und technologisch modernes Land nicht autoritär verfasst sein kann, wird auf eine lange Probe gestellt. Menschenrechte und Umweltschutz gelten aus chinesischer Sicht weithin als Machenschaften der USA und ihrer westlichen Verbündeten, um die wirtschaftliche Dynamik und die historisch gewachsene Kultur Chinas zu unterlaufen.

China begreift die USA als niedergehende und sich selbst als aufsteigende Macht mit einer Alternative zum westlichen Demokratiemodell: Eine allmächtige Führung mit einem Geschick zum Management von sozialen und wirtschaftlichen Konflikten. Das klingt nun weniger nach der von Ikenberry erwarteten multilateralen Machtverschiebung sondern mehr nach einem chinesischen Anspruch auf die Macht eines Gegenpols. Ob die in der Diskussion immer wieder beschworene pragmatische Kooperation zwischen einer autoritär-anfälligen USA und einem autoritär-gestützten China eine Brücke sein kann, bleibt abzuwarten.


Rolle Europas

In der Diskussion über die zukünftige Gestalt der Weltordnung spielt Europa keine eigenständige Rolle. In den Vereinigten Staaten wird die europäische Integration als die "great quiet revolution" des 20. Jahrhunderts gelobt, weil innereuropäische Kriege ausblieben, die Einbettung der Länder Mittel- und Osteuropas gelang und ein paneuropäischer Markt geschaffen wurde.

Ansonsten aber gilt, dass Europa wegen seiner noch immer politisch fragmentierten Struktur Ansprüche auf eine hervorgehobene Rolle in einem unipolaren System mit multilateraler Machtverteilung nicht realisieren kann. Europa wird dem westlichen Kulturkreis und dem angelsächsischen Kapitalismus zugeordnet.

Das immer wieder betonte Alleinstellungsmerkmal Europas, nämlich über eine sozial ausgewogene Wirtschaftsordnung zu verfügen, findet wenig Anerkennung. Nicht nur in den konservativen sondern auch den liberalen Kreisen hat sich das Bild von einem zurückgebliebenen und in sich zerstrittenen Europa verfestigt. Es ist dringlich, dass Europa seine Probleme bald löst und selbstbewusster an der Diskussion über eine zukünftige Weltordnung teilnimmt.


Otto Jacobi (* 1938) ist Dozent an der Europäischen Akademie der Arbeit in Frankfurt und Visiting Professor an der Cornell Universität, New York.
otto.jacobi@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2013, S. 18-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2013