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OSTEUROPA/395: Ukraine - Im Schatten des Krieges (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 12. Januar 2023
german-foreign-policy.com

Im Schatten des Krieges

Kritik am antidemokratischen Umbau der Ukraine wächst im In- und Ausland: Mediengesetz hebelt Medienfreiheit aus, Arbeiterrechte werden gestrichen, Kirche könnte verboten werden.


KIEW/BERLIN - Ungeachtet des Krieges wächst im In- und Ausland die Kritik am antidemokratischen Umbau des ukrainischen Staates durch Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im Mittelpunkt steht aktuell unter anderem ein neues Mediengesetz, das die Aufsicht über sämtliche Medien einer nationalen Medienbehörde überträgt. Die Behörde, die zur Hälfte vom Präsidenten, zur anderen Hälfte von seiner Parlamentsmehrheit eingesetzt wird, kann Medien faktisch willkürlich mit Strafen belegen oder sogar schließen. Das Gesetz wirft, erklärt der Nationale Journalistenverband der Ukraine, "den Schatten eines Diktators" auf Selenskyj. Scharf kritisiert worden ist bereits im Sommer ein neues Arbeitsgesetz, das unter anderem den Arbeitsschutz für bis zu 70 Prozent aller Beschäftigten aushebelt. Selenskyj wollte es - wie das Mediengesetz - schon vor dem Krieg umsetzen, scheiterte aber an breitem Widerstand. Im Schatten des Krieges geht seine Regierung zudem gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche vor, die sich zwar komplett von der Russischen Orthodoxen Kirche getrennt hat und Moskau wegen des Krieges verurteilt, aber trotzdem verboten werden soll. Experten warnen vor gravierenden Folgen.

Kirche unter Druck

Kritik an der Politik der ukrainischen Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj entzündet sich seit geraumer Zeit unter anderem an deren Vorgehen gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK). Die UOK war traditionell Teil der Russischen Orthodoxen Kirche. Das hat schon in der Vergangenheit zu großen Verwerfungen geführt. So setzte der frühere Präsident Petro Poroschenko im Versuch, die Beziehungen zu Russland auf sämtlichen Ebenen zu schwächen, 2018 die Gründung einer neuen Kirche durch, der Orthodoxen Kirche in der Ukraine (OKU). Diese hatte allerdings, wie Experten feststellen, "nicht den Zulauf", den sich Poroschenko eigentlich erhofft hatte.[1] Die UOK wiederum hat seit dem russischen Überfall auf die Ukraine mit der Russischen Orthodoxen Kirche gebrochen; ihr Metropolit Onufri hat den Überfall sofort verurteilt, Moskau zudem zum Rückzug seiner Truppen aufgefordert sowie die Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine verlangt. Am 27. Mai hat sich die UOK komplett von der Russischen Orthodoxen Kirche getrennt und übt nun all ihre Aktivitäten vollumfänglich in Eigenregie aus. Das gilt auch - innerhalb der Kirche besitzt dies ganz spezielle Bedeutung - für die Gestaltung der Liturgie. In einem neuen Statut erklärt die UOK sich explizit für "selbständig und unabhängig", und so tritt sie auch auf.

"Als russische Agenten stigmatisiert"

Dennoch erhöht Kiew den Druck auf die UOK. Der seit dem Sommer amtierende neue Geheimdienstchef gilt als ihr Gegner; der neue Selenskyj-Berater Wiktor Jelenski hat sich in der Vergangenheit für ihr Verbot stark gemacht. Im vergangenen Jahr sind Liegenschaften der UOK, darunter das Höhlenkloster, das als Wiege der ostslawischen Orthodoxie gilt, durchsucht worden; Teile des Höhlenklosters wurden der rivalisierenden OKU übertragen, Kirchenfunktionäre wurden mit Sanktionen belegt. Nun wird - unter dem Vorwand, sie sei eine russische Tarnorganisation - die Umbenennung der UOK in Russische Orthodoxe Kirche in der Ukraine gefordert; am 1. Dezember teilte Präsident Selenskyj zudem mit, der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine wolle dem Parlament ein komplettes Verbot der Kirche nahelegen.[2] Zwar sei "ein gezieltes Vorgehen gegen Fälle erwiesener Kollaboration ... berechtigt", urteilen Thomas Bremer, emeritierter Professor für Theologie an der Universität Münster, sowie Regina Elsner vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin.[3] Für ein Kirchenverbot allerdings gelte das nicht. Kiews Politik müsse "dringend korrigiert werden, nicht nur im Interesse von Millionen von Gläubigen, die mitten im Krieg als russische Agenten stigmatisiert werden, sondern vor allem auch im Interesse einer demokratischen Weiterentwicklung der Ukraine".

Parteienverbote

Scharfe Kritik wird schon seit dem Frühjahr auch an weiteren Maßnahmen laut, die die Regierung unter Präsident Selenskyj im Schatten des Krieges ergreift. So hatte bereits im Frühjahr Selenskyjs Entscheidung national wie international Protest hervorgerufen, elf politischen Parteien im Land jede Tätigkeit zu untersagen - mit der Begründung, sie seien prorussisch orientiert. Das Verbot traf neben der größten Oppositionspartei ("Oppositionsplattform - Für das Leben") unter anderem die Kommunistische Partei, die Sozialdemokratische Partei der Ukraine und weitere linke Organisationen. Manche der betroffenen Parteien hatten den russischen Überfall explizit verurteilt.[4] Nach der Unterzeichnung eines neuen Gesetzes am 14. Mai, das vollständige Parteiverbote leichter macht [5], wurden mehrere Oppositionsparteien komplett aufgelöst. Bestrebungen, die Verbote vor Gericht aufheben zu lassen, scheiterten.

"Ein Fenster der Gelegenheit"

Protest richtet sich schon seit dem Sommer unter anderem auch gegen die weitreichende Deregulierung des Arbeitsrechts, die Selenskyj bereits relativ kurze Zeit nach seinem Amtsantritt hatte durchsetzen wollen, die vor dem Krieg aber noch am energischen Widerstand der ukrainischen Gewerkschaften gescheitert war. Nun ist sie realisiert worden. Dabei ging es unter anderem um die Legalisierung sogenannter Null-Stunden-Verträge und um Maßnahmen, die bis zu 70 Prozent aller Beschäftigten von gesetzlichen Arbeitsschutzvorschriften ausnehmen. Der Präsident benutze den Krieg als "Fenster der Gelegenheit", um seine zuvor entschlossen bekämpften Deregulierungspläne umzusetzen, klagen Kritiker.[6] "Unter dem neuen Arbeitsgesetz", berichtet eine Aktivistin der "Kampagne für saubere Kleidung" - die Ukraine ist ein beliebter Standort der deutschen Textilindustrie -, "können Arbeitgeber Mitarbeitende einfach versetzen und sie in Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten ... grundlos entlassen. Sie können Tarifverträge einseitig kündigen, Urlaubstage streichen, und sie können die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöhen."[7] Der Behauptung der Regierung, das Gesetz werde nach dem Krieg wieder zurückgenommen, schenken Gewerkschafter keinen Glauben.

"Der Schatten eines Diktators"

Auf zunehmenden, auch internationalen Protest stößt nun auch das neue Mediengesetz, das Selenskyj am 29. Dezember unterzeichnet hat. Es sieht insbesondere vor, die Kompetenzen des Nationalen Rats für Fernsehen und Rundfunk auszuweiten und ihm die Aufsicht auch über sämtliche Print- und Onlinemedien zu übertragen. Der Nationale Rat ist offiziell unabhängig, faktisch aber nicht: Die Hälfte seiner Mitglieder wird vom Präsidenten ernannt, die andere Hälfte vom Parlament, in dem die Präsidentenpartei die Mehrheit innehat. Mit Inkrafttreten des Gesetzes verfügt der Rat über die Kompetenz, Medien zu verwarnen, Strafen gegen sie zu verhängen oder sie sogar zu schließen. Ein Gerichtsurteil ist dazu nicht nötig. Als Maßstab soll ein Ethikkodex genutzt werden. Faktisch lässt dies, wie etwa der ukrainische Journalist Serhiy Guz warnt, staatlicher Willkür freien Raum.[8] Protest kommt unter anderem vom Nationalen Journalistenverband der Ukraine, der das Gesetz als "größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit in der unabhängigen Geschichte der Ukraine" einstuft und scharf urteilt, es werfe "den Schatten eines Diktators" auf Selenskyj.[9] Auch der Generalsekretär des Europäischen Journalistenverbandes, Ricardo Gutierrez, übt massive Kritik und erklärt, das Gesetz sei "der schlimmsten autoritären Regime würdig".[10]

"Ein autoritäres Regime"

Guz weist darauf hin, dass das Gesetz weitgehend mit einem Gesetzesentwurf übereinstimmt, den Präsident Selenskyj bereits kurz nach seiner Amtsübernahme ins Parlament eingebracht hatte, der dort damals aber noch als "zu extrem für eine demokratische Gesellschaft" beurteilt und zurückgewiesen worden war.[11] Der Vorgang war keineswegs untypisch für Selenskyjs Amtsführung, die noch kurz vor Kriegsbeginn von der vom Kanzleramt finanzierten Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) äußerst kritisch beurteilt wurde. So hieß es etwa Anfang Februar 2022 in einer Stellungnahme der SWP, unter Selenskyj habe sich die Kiewer Präsidialadministration "zum faktischen Zentrum von Politikgestaltung und Entscheidung" entwickelt; von Ministern und Parlament verlange der Präsident schlicht "Gefolgschaft".[12] Eine "Sonderrolle" spiele der nicht demokratisch gewählte Nationale Sicherheitsrat, der allerdings meist lediglich absegne, "was vorher in der Präsidialadministration entschieden" worden sei. Selenskyj irritiere, indem er "andere Verfassungsorgane" wie auch "den Vorrang des Rechts bei wichtigen Entscheidungen ignoriert" habe. "Selenskyjs Regierungsstil" biete "eine ideale Steilvorlage, um den Ukrainern und ihren westlichen Unterstützern eine Art Doppelmoral vorzuwerfen": Während sich die Ukraine "als demokratisch-liberaler Gegenentwurf zu Russland" darstelle, unterstütze der Westen mit ihr faktisch ein "ebenso autoritäre[s] Regime". Die damalige harsche Warnung bewahrheitet sich nun.


Anmerkungen:

[1] Thomas Bremer, Regina Elsner: Religiöse Intoleranz in der Ukraine? Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.01.2023.

[2] Ivo Mijnssen: Politisiertes Weihnachtsfest in der Ukraine. Neue Zürcher Zeitung 09.01.2023.

[3] Thomas Bremer, Regina Elsner: Religiöse Intoleranz in der Ukraine? Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.01.2023.

[4] Baha Kirlidokme: Kritik an Selenskyjs Verbot unliebsamer Parteien. fr.de 04.04.2022.

[5] Bernhard Clasen: Selenskis Parteienverbot. taz.de 20.05.2022.

[6] Thomas Rowley, Serhiy Guz: Ukraine uses Russian invasion to pass laws wrecking workers' rights. opendemocracy.net 20.07.2022.

[7] Hungerlöhne unter dem Deckmantel des Kriegsrechts. gew.de 05.12.2022.

[8] Serhiy Guz: Ukraine's proposed new media law threatens press freedom. opendemocracy.net 07.11.2022.

[9], [10] Harald Staun: Die lieben Kollegen. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 08.01.2023.

[11] Serhiy Guz: Ukraine's proposed new media law threatens press freedom. opendemocracy.net 07.11.2022.

[12] André Härtel: Die Ukraine unter Präsident Selenskyj. Entwicklung hin zum "populistischen Autoritarismus"? SWP-Aktuell A 09. Berlin, 04.02.2022.
S. dazu Der Preis des Machtkampfs.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8835

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 13. Januar 2023

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