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OSTEUROPA/370: Parlamentswahlen in Ungarn - Viktor Orbán, ein verdienter Sieger? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Parlamentswahlen in Ungarn
Viktor Orbán, ein verdienter Sieger?

Von Jan Niklas Engels
April 2014




• Am 6. April 2014 wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Der Sieger steht bereits fest: Viktor Orbán wird auch zukünftig als Ministerpräsident die Geschicke des Landes leiten. Ungleiche Wahlkampfetats, fehlender Medienpluralismus und ein auf das Regierungsbündnis maßgeschneidertes neues Wahlsystem lassen Zweifel daran aufkommen, dass es sich um einen fairen Wahlkampf handelt.

• Mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit im Rücken hat Viktor Orbán Ungarn nach seinen Vorstellungen und ohne große Rücksicht auf demokratische Gepflogenheiten umgestaltet. Seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik hat die Armut im Land vergrößert. Dennoch konnte die zersplitterte progressive Opposition nicht ausreichend an Zustimmung gewinnen, um einen Regierungswechsel herbeizuführen.

• Ein Profiteur der gesellschaftlichen Spaltung des Landes in zwei Lager ist die rechtsextreme Jobbik-Partei. Sie wird vielleicht sogar ihr Überraschungsergebnis der letzten Wahl von 16,7 Prozent noch steigern können und sich somit im ungarischen Wahlsystem fest etablieren.

• Wird der Regierungschef seinen bisherigen Kurs weiterverfolgen und damit langfristig die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung aufs Spiel setzen? Wie soll die Europäische Union darauf reagieren und stehen wir sogar vor einem europaweiten Abbau demokratischer und sozialer Errungenschaften?

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Einleitung: Der Sieger steht schon fest, dennoch herrscht Nervosität

Das Ergebnis der Parlamentswahlen in Ungarn steht bereits fest. Der zukünftige Regierungschef wird der alte sein: Viktor Orbán. Es stellt sich lediglich die Frage, wie hoch der Wahlsieg des konservativen Regierungsbündnisses ausfallen wird.

Im Jahr 2010 erlitten die damals den Regierungschef stellenden Sozialisten (MSZP) eine große Wahlschlappe, errangen nur noch zwei von insgesamt 119 Direktmandaten und erzielten nur noch 19,3 Prozent der Stimmen. Das oppositionelle Wahlbündnis von Viktor Orbán eroberte fast alle Wahlkreise und erzielte insgesamt 52,7 Prozent. Aufgrund des Wahlsystems konnte Viktor Orbán mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit regieren und machte eifrig von seinen gewonnenen Machtmitteln Gebrauch.

Zwar liegt das regierende Bündnis aus Ungarischem Bürgerbund (FIDESZ) und Christlich-Demokratischer Volkspartei (KDNP) in aktuellen Umfragen unter ihrem Wahlergebnis von 2010, doch geben weiterhin knapp 50 Prozent der entschiedenen Wähler an, für das Regierungsbündnis stimmen zu wollen. Da die Regierung ihre verfassungsändernde Mehrheit auch für eine Reform des Wahlsystems genutzt und in diesem Zuge einige für sie vorteilhafte Änderungen durchgeführt hat, liegt auch eine erneute Zweidrittelmehrheit im Bereich des Möglichen.

Dennoch ist im Regierungslager eine gewisse Nervosität bemerkbar. Viktor Orbán war bereits von 1998 bis 2002 Ministerpräsident Ungarns und auch damals schien seine Wiederwahl gesichert. Doch er verlor die Wahl und musste einer sozialliberalen Regierungskoalition weichen. Daher will er 2014 mit allen Mitteln einen neuen Machtverlust verhindern. So baute er zielstrebig starke landesweite FIDESZ-Parteistrukturen auf, schaffte es, die Medienlandschaft auf Kurs zu bringen und sorgte dafür, dass genügend finanzielle Mittel für den Wahlkampf zur Verfügung stehen. Trotz des komfortablen Vorsprungs wird mit harten Bandagen gekämpft.

Doch die Vormachtstellung der Regierungsparteien führt zunehmend zu der Frage, wie fair die Wahlen wirklich verlaufen werden. Ein zivilgesellschaftlicher Kampagnenmonitor (http://kepmutatas.hu/), unterstützt u.a. von Transparency International, rechnet vor, dass bereits Ende März FIDESZ und ihm zurechenbare »Zivilorganisationen« über zwei Milliarden Forint (umgerechnet knapp 6,5 Millionen Euro) für die Wahlkampagne ausgegeben haben. Das Oppositionsbündnis »Regierungswechsel« und die rechtsextreme Jobbik-Partei (wörtlich: die Besseren) haben jeweils gerade mal ein Drittel der Summe ausgegeben. Die errechnete Zahl ist auch problematisch, da die Wahlkampagnenausgaben gesetzlich auf jeweils eine Milliarde Forint pro Parteiliste begrenzt sind. Auch die Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) spricht von beunruhigenden Zeichen im Vorfeld der Wahlen und verweist auf die Berichte über das Ungleichgewicht bei der Wahlwerbung und den fehlenden Pluralismus in der Medienlandschaft.


Die Ausgangssituation: Freiheitskämpfer vs. oppositionelle Notgemeinschaft

Viktor Orbán, der 1988 den Bund Junger Demokraten (FIDESZ) mitgründete und damals landesweit durch seine Forderung des Abzugs der sowjetischen Truppen große Aufmerksamkeit erregte, pflegt bis heute sein Image als »Freiheitskämpfer« für die ungarische Nation. Er stilisiert sich als Kämpfer gegen die inneren (kommunistische Seilschaften, Opposition) und äußeren (multinationale Firmen, EU, IWF, ausländische Landbesitzer) Feinde. Ziel seines Wirkens ist der Aufbau eines starken und unabhängigen Ungarns. Dabei greift er gerne in die nationalistisch-populistische Instrumentenkiste: Sein Wahlkampfschlager ist dabei seine Regierungsinitiative zur Senkung der Wohnnebenkosten zu Lasten der zumeist multinationalen Versorgungsbetriebe. Diese Lebenshaltungskostensenkung sorgte dafür, dass die Zustimmung zur Regierungsarbeit im vergangenen Jahr trotz einiger Korruptionsskandale kontinuierlich gesteigert werden konnte. Ein politisch genialer Schachzug, da einerseits die Opposition gegen Ausgabensenkungen argumentativ nicht ankam und daher zum Großteil die Senkung der Verbrauchskosten begrüßte. Andererseits ließ sich diese Maßnahme gut in die Erzählung der Regierungspartei eines von ihr geführten Freiheitskampfes einbetten.

Nach seinem Wahlsieg 2010 hatte Viktor Orbán eine unorthodoxe Wirtschaftspolitik[1] angekündigt, die einerseits keine Steuererhöhung, dafür aber die Einführung einer einheitlichen Einkommenssteuer (Flat-Tax) von 16 Prozent, eine Million neue Arbeitsplätze und eine wirtschaftliche Erholung vorsieht. Stolz verweist man nun vor den Wahlen auf den Abbau der Staatsverschuldung, die Senkung des Haushaltsdefizits,[2] das leichte Wirtschaftswachstum und den Rückgang der Arbeitslosigkeit als Erfolgsbelege. Verschwiegen wird aber, dass der Haushalt nicht ohne die Verstaatlichung des Vermögens der privaten Rentenkassen hätte saniert werden können, was finanzielle Spätfolgen nach sich ziehen wird. Die Erholung der Wirtschaft hinkt weiterhin den Nachbarländern hinterher und hängt stark vom Wohlergehen der exportierenden Automobilindustrie und dem volatilen Output der Landwirtschaft ab. Die sinkende Arbeitslosigkeit erklärt sich durch das Mitzählen im Ausland tätiger Ungarn und das umstrittene gemeinnützige Beschäftigungsprogramm, das nur eine Entlohnung unter Mindestlohnniveau vorsieht und Mindeststandards für Arbeitsschutz nicht einhält. Die einheitliche Einkommenssteuer ist sozial ungerecht und wird über die höchste Mehrwertsteuer Europas (27 Prozent) gegenfinanziert. Hinzu kommen eine Reihe von Sondersteuern auf Finanztransfers, auf gesendete SMS sowie auf Wirtschaftssektoren, in denen das Auslandsengagement besonders stark ist.

Trotz aller Jubelrufe der Regierung sieht die sozio-ökonomische Realität in Ungarn weiterhin schlecht aus. Die Armut ist auch 2013 weiterhin stark gestiegen, über ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut oder ist von dieser bedroht. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist sehr hoch, so dass die Auswanderung stark zugenommen hat. Im Vergleich der Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Ungarn bei den meisten sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren, wie zum Beispiel Haushaltseinkommen, Geburtenrate, Gesundheitsausgaben oder Selbstmordrate, inzwischen einen der letzten Plätze.

Doch das linksliberale Oppositionsbündnis konnte bisher nicht von der prekären Lage der ungarischen Bevölke rung profitieren. Aufgrund interner Rivalitäten zwischen den Oppositionsparteien war man 2013 mehr mit sich selbst als mit der Formulierung von Politikalternativen beschäftigt. Doch durch das geänderte Wahlsystem hat nur eine geeinte Opposition eine Chance, über die Eroberung von Wahlkreisen gegen das populistische Rechtsbündnis von Viktor Orbán zu punkten.

Erst im Januar 2014 wurde aufgrund stagnierender Umfragewerte der Druck groß genug, um sich auf eine umfassende Zusammenarbeit der wichtigsten Gruppierungen im linken und liberalen Spektrum zu einigen. Spitzenkandidat der Opposition ist der 40-jährige MSZP-Vorsitzende Attila Mesterházy. Auf den Listenplätzen zwei und drei kandidieren die ehemaligen Ministerpräsidenten Gordon Bajnai, der das linksliberal-ökologische Bündnis Együtt-PM anführt, und Ferenc Gyurcsány, der 2011 die linksliberale Abspaltung »Demokratische Koalition« gegründet hat. Besonders Gyurcsány ist aufgrund seiner Regierungsbilanz und seiner Scharfzüngigkeit sehr umstritten und wird teilweise als Belastung für das Bündnis »Regierungswechsel« gesehen.


Aktuelle Umfragewerte: Große Abstände mit Unwägbarkeiten

Nach den Wahlumfragen im März wollen 48 bis 52 Prozent der entschiedenen Wähler für das Regierungsbündnis unter Führung von Viktor Orbán stimmen. Das linksliberale Oppositionsbündnis »Regierungswechsel« unter Führung der MSZP kommt dagegen nur auf 27 bis 30 Prozent, die letzte Umfrage des Umfrageinstituts Tárki kommt sogar nur noch auf 21 Prozent. Dies bedeutet im Vergleich zu 2010 zwar einen Stimmenzuwachs für das linke Lager, doch die Umfrageergebnisse sind weit von den eigenen Hoffnungen entfernt und lassen den proklamierten Regierungswechsel in weite Ferne schwinden. Die rechtsextreme Jobbik-Partei führt einen zumindest vordergründig eher moderaten Wahlkampf und wird ihr Resultat von 2010 (16,7 Prozent) halten oder sogar zulegen können: In den Umfragen geben sich 15 bis 20 Prozent als Jobbik-Wähler aus. Jobbik steht als einer der Wahlgewinner fest und wird sich somit im ungarischen Parteiensystem etablieren können. Die grüne Partei »Lehet Más a Politika« (deutsch: Die Politik kann anders sein), kurz LMP, die 2010 über sieben Prozent erhielt, kämpft nach ihrer Spaltung (ein Teil der Fraktion hat eine neue Partei gegründet und sich dem Oppositionsbündnis angeschlossen) mit der Fünfprozenthürde und muss um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Je nach Umfrage sind 24 bis 40 Prozent der Wähler noch unentschieden bzw. möchten ihre Wahlpräferenz bei Umfragen nicht nennen. Nicht nur die hohe Zahl der Unentschiedenen führt dazu, dass genaue Wahlprognosen sehr schwierig sind. FIDESZ-KDNP haben ihre verfassungsändernde Mehrheit genutzt, um das ungarische Wahlsystem komplett umzukrempeln. Das Parlament wurde von momentan 386 Sitzen auf 201 verkleinert. Daher spielen zukünftig die Direktmandate der 106 Wahlkreise (bisher 119) eine wichtigere Rolle als die Listenplätze. Dabei wurden die Wahlkreise so verändert, dass FIDESZ-KDNP einen Vorteil hat. Nach Berechnungen des Think-Tanks »Political Capital« müsste das linke Bündnis 300.000 Stimmen mehr als FIDESZ-KDNP erzielen, um auch eine Mehrheit der Mandate zu erringen. Vorteilhaft für die Regierung ist auch, dass erstmalig Ungarn, die außerhalb Ungarns leben, an den Wahlen teilnehmen dürfen.



Der Wahlkampf: Modell Ost oder West?

Das Regierungsbündnis bestreitet den Wahlkampf ohne ein konkretes Programm. FIDESZ verspricht lediglich ein »weiter so« und plakatiert »Viktor Orbán. Der Ministerpräsident«. Allerdings wird angedeutet, dass man sich eine Reduktion der Flat-Tax unter zehn Prozent, die Umwandlung der Versorgungsbetriebe (Wasser, Strom, Gas) in Non-Profit-Betriebe und eine weitere Nationalisierung des Bankensektors vorstellen kann. Die Opposition wird als nicht führungsfähig dargestellt, so dass sich Viktor Orbán auch bisher standhaft weigert, an öffentlichen Debatten mit aus seiner Sicht nicht ernst zu nehmenden Herausforderern teilzunehmen. Stattdessen läuft eine Image-Kampagne der Regierung, die »Ungarn geht es besser/leistet mehr« propagiert.

Dennoch läuft der Wahlkampf für Viktor Orbán nicht ganz unfallfrei. So verabredete er im Januar bei einem Staatsbesuch in Moskau den Ausbau des einzigen ungarischen Atomkraftwerkes mit russischer Unterstützung. Während Orbán dies als Erschließung neuer Kooperationsmöglichkeiten im Osten sowie als langfristige Sicherung kostengünstiger Energie für Ungarn anpreist, verweisen die Kritiker auf die hohen Kosten des Deals, die steigende Abhängigkeit von Russland und das intransparente und überhastete Verfahren. Spätestens mit der Krim-Krise zeigte sich, dass der Pakt mit Putin nicht ganz ohne Risiko ist und auch innerhalb der ursprünglich anti-kommunistisch ausgerichteten FIDESZ besteht Unbehagen über die neuen Freundschaften des Regierungschefs.

Das Bündnis der Herausforderer aus dem linken und liberalen Spektrum versucht, die Wahl zu einem Richtungsentscheid über die zukünftige Ausrichtung des Landes zu machen. Die Losung lautet daher: Ost oder West? Gemeint ist damit nicht nur die außenpolitische Orientierung des Landes, sondern die Frage, ob ein zunehmend autokratischer und national-populistischer oder ein demokratisch und sozial orientierter Politikstil verfolgt werden soll.

Beim Wahlprogramm hat sich das »Regierungswechsel«Bündnis auf einige zentrale Wahlversprechen konzentriert. So sollen 250.000 richtige Jobs in neuen privaten Sektoren geschaffen und eine Job- und Ausbildungsgarantie für Jugendliche eingeführt werden. Außerdem soll die Reduktion der Nebenkosten nach sozialen Kriterien umgestaltet, die Mehrwertsteuer für essenzielle Lebensmittel reduziert, die Steuern für Mikro-Betriebe gesenkt, die Pensionen erhöht und die Wartelisten für Behandlungen in Krankenhäusern deutlich reduziert werden.

Doch bisher zahlen sich die Wahlversprechen sowie die Frage nach dem richtigen Kurs Ungarns nicht aus. Stattdessen kämpft das Bündnis mit einigen Korruptionsskandalen. So stellte sich Anfang Februar heraus, dass der MSZP-Vizevorsitzende Gábor Simon über geheime, nicht deklarierte Bankkonten verfügt. Zwar trat Simon von allen Ämtern zurück und tritt nicht zur Wahl an, doch wird spekuliert, dass es sich bei den Geldern um eine schwarze Wahlkampfkasse der MSZP handeln könnte. Auch wenn die Gelder bereits 2008 und 2009 eingezahlt wurden, stellt dieser Skandal den Erneuerungsanspruch der MSZP infrage. Dazu kommen weitere alte Skandale, die von interessierter Seite wieder aufgewärmt und von Regierungsseite genüsslich ausgeschlachtet werden. Laut einer Umfrage ist diese Diskreditierungsstrategie erfolgreich, da die MSZP von 26 Prozent der Befragten mit Korruption in Verbindung gebracht wird, FIDESZ kommt - trotz einer Reihe von Skandalen in ihrer Regierungszeit - nur auf 16 Prozent.

Die grüne LMP versucht sich als alternative Partei der Mitte in Szene zu setzen und hofft auf die bürgerlichen und progressiven Wähler, die sich weder von den Parteien des rechten noch des linksliberalen Spektrums vertreten fühlen. Da das »Regierungswechsel«-Bündnis einige umstrittene Politiker wie den ehemaligen Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány umfasst, könnte diese Strategie aufgehen. Auch die von der Regierung geplante Erweiterung des einzigen ungarischen Atomkraftwerks könnte der grünen Partei Auftrieb geben.

Die rechtsextreme Jobbik fährt eine Doppelstrategie. In der Öffentlichkeit gibt man sich als biedere, national gesinnte Partei. Von lokalen Wahlkampfveranstaltungen wird aber berichtet, dass die Jobbik-Kandidat/innen durchaus auch weiterhin anti-semitische Töne anschlagen und gegen kriminelle Ausländer und Roma hetzen.


Drei Szenarien für den Wahlausgang: Wie groß wird die Mehrheit?

Szenario 1: Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass das FIDESZ-KDNP-Bündnis zwar eine erneute Zweidrittelmehrheit verpasst, dafür aber mit einer absoluten Mehrheit im Parlament komfortabel weiterregieren kann. Da Viktor Orbán seine Verfassungsmehrheit bereits für einen Komplettumbau des Staates genutzt und Gefolgsleute in allen wichtigen Institutionen platziert hat, ist der Rahmen für die zukünftige Regierungsarbeit gesteckt. Die Frage ist nur, ob Orbán seine dritte Regierungszeit für eine Konsolidierung nutzen und moderatere Töne anschlagen wird, oder ob er unter Missachtung europäischer Werte seinen Freiheitskampf gegen vermeintliche innere und äußere Feinde fortführen wird.

Das Oppositionsbündnis wird bereits bei den Europawahlen Ende Mai getrennte Wege gehen. Dennoch wird kein Weg an der Aufarbeitung der Gründe für den verpassten Regierungswechsel und dem Aufbau einer schlagkräftigen Opposition vorbeiführen, wenn man bei den nächsten Wahlen einen Regierungswechsel bewerkstelligen will.

Jobbik wird seinen Erfolg von 2010 wiederholen und vielleicht sogar ausbauen können. Damit hat sich die rechtsextreme Partei erfolgreich im ungarischen Parteiensystem etabliert und es geschafft, weite gesellschaftliche Kreise anzusprechen. Es ist nicht auszuschließen, dass ihr dies für die Europawahlen einen weiteren Schub gibt und sie so zum Erstarken der rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien im Europaparlament beiträgt.

Szenario 2: Sollte die LMP an der Fünfprozenthürde scheitern und das Oppositionsbündnis nur wenige Wahlkreise direkt erobern können, könnte Viktor Orbán wieder eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichen. Dies würde das Regierungsbündnis als klare Legitimation ihrer bisherigen, oftmals stark kritisierten Politik verstehen und seinen nationalistisch-populistischen Kurs fortsetzen. In den Oppositionsreihen würde eine heftige Diskussion über die Gründe und die Verantwortlichen für die erneute Wahlniederlage einsetzen. Sollte Jobbik sogar mehr Stimmen als das linke »Regierungswechsel«-Bündnis erzielen, letzte Umfragen sehen beide Gruppierungen bei 20 Prozent, würde dies das linke Lager schwer erschüttern. Aus progressiver Sicht ist dies das »Worst-Case-Szenario«.

Szenario 3: Bei einer hohen Wahlbeteiligung und einem größeren Zuspruch unter den bisher unentschiedenen Wählern für die Opposition als vermutet, könnte Viktor Orbán knapp die absolute Mehrheit verpassen. In diesem Fall würde er wahrscheinlich eine Minderheitsregierung bilden und sich wechselnde Mehrheiten organisieren. Keine andere Partei wird in der Lage sein, eine Regierungsmehrheit zu bilden. Dieses »Best-Case-Szenario« für die Opposition ist allerdings sehr unwahrscheinlich.



Ausblick: Kleines Land, große Auswirkungen

Mit dem zu erwartenden Sieg von Viktor Orbán stellt sich die Frage nach der zukünftigen Ausrichtung Ungarns und den daraus resultierenden Folgen für die Europäische Union. Wird er seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik, seinen Freiheitskampf gegen vermeintliche innere und äußere Feinde und die Öffnung nach Osten fortsetzen? Oder schwenkt er auf einen Konsolidierungskurs um, der mehr auf Kooperation und Verständigung sowie eine Annäherung der gesellschaftlichen Lager setzt? Letzteres ist nicht ausgeschlossen, aber momentan schwer vorstellbar.

Eine triumphale Wiederwahl wird die Regierung als große Legitimation ihrer Politik der letzten Jahre verstehen. Die 2010 erreichte Zweidrittelmehrheit verdankte FIDESZ auch der enttäuschenden Regierungsarbeit der sozialliberalen Vorgängerregierung. Ein Erfolg 2014 wird als klare Zustimmung zum offensiven national-populistischen Regierungsstil Viktor Orbáns und seinem Freiheitskampf gegen innere und äußere Feinde verstanden werden. Warum sollte Orbán daher einen Politikwechsel einleiten? Im Gegenteil, es ist damit zu rechnen, dass er auch zunehmend auf der europäischen Bühne versuchen wird, seinen national-konservativen Kurs, der auf populistische Maßnahmen, Betonung gemeinsamer christlicher Wurzeln und scharfe Kritik an linker und linksliberaler Politikentwürfe setzt, salonfähig zu machen.

Viktor Orbán bezeichnet sich selber als Pro-Europäer. Auch sieht er Ungarn aufgrund seiner christlichen Geschichte als natürliches Mitglied Europas. Doch die Europäische Union ist für ihn nur ein Vehikel, um den Einfluss und die Möglichkeiten seines Landes zu mehren. Parlamentspräsident László Kövér (ebenfalls FIDESZ-Gründungsmitglied) erklärte in einem Radiointerview recht ungeschminkt, dass die EU nicht eine Wertegemeinschaft, sondern eine nützliche Finanzierungsquelle für Ungarn sei. Auf europäische Kritik an der Regierungspolitik wird aber empfindlich reagiert. So reiste Viktor Orbán im Sommer 2013 nach Brüssel, um persönlich zum sogenannten Tavares-Bericht des Europäischen Parlaments, der auf rund 40 Seiten die Rechtsentwicklung in Ungarn seit seiner Amtsübernahme kritisiert und Änderungen anmahnt, Stellung zu nehmen. Aus seiner Sicht ist der Bericht »zutiefst ungerecht und beleidigend« und er kündigte einen Kampf gegen alle an, die aus Ungarn eine Kolonie machen wollen.

Für Ungarn stellt sich die Frage, was passiert, wenn sich die Wirtschaftspolitik mit geringen Einkommenssteuern, hohen Verbrauchssteuern und Sondersteuern auf bestimmte Wirtschaftssektoren mittelfristig als Investitions- und Konsumbremse erweist und aufgrund der eingegangenen neuen Verschuldungen bei Russland und den bereits verstaatlichten (und und schon verkonsumierten) privaten Rentenkassen der Staatshaushalt nicht mehr steuern lässt? Was passiert, wenn Viktor Orbán in zwei Jahren vor dem Scherbenhaufen seiner Politik steht? Wird er einen von großen Teilen der Gesellschaft getragenen Neuanfang versuchen oder wird er neue Sündenböcke im In- und Ausland suchen, um von seiner Verantwortung abzulenken? Heute schon sehen viele Ungarn den Systemwechsel als verfehlt an und sind auch von den demokratischen Abläufen, wie sie sie in den letzten 25 Jahren kennenlernen durften, nicht begeistert.

Die Unzufriedenheit der Wähler mit dem herrschenden System, die Unfähigkeit, die Korruption einzudämmen und eine gute Regierungsarbeit abzuliefern, sowie das zunehmende Lagerdenken und die sich verschärfende soziale Lage sind Nährstoffe für rechtsextreme Parteien wie Jobbik. Im 70. Gedenkjahr des Beginns des Holocausts in Ungarn wird eine klar anti-semitische Partei ein zweistelliges Wahlergebnis einfahren. Ihre Wählerschaft findet sich in allen Gesellschaftsschichten. Besonders junge Menschen aller Bildungsniveaus fühlen sich von dem nationalistischen und rechtsextremistischen Gedankengut stark angesprochen.

Die Wahlen mögen bereits entschieden sein, der Regierungschef ist bereits ein alter Bekannter, und Ungarn ist nur eines von insgesamt 28 EU-Mitgliedsländern und verfügt auch nur über rund zehn Millionen Einwohner. Dennoch darf es niemandem in Europa egal sein, wie diese Wahlen ablaufen und was sie bedeuten können.



Anmerkungen

[1] Siehe auch: Die Orbán-Regierung und ihre »unorthodoxe« Wirtschaftspolitik
(http://fesbp.hu/common/pdf/Nachrichten_aus_Ungarn_mai_2013.pdf).

[2] Die sich allerdings in relativen Zahlen kaum verändert hat und weiterhin bei über 80 Prozent des Bruttosozialproduktes liegt.



Über den Autor

Jan Niklas Engels ist gesellschaftspolitischer Berater und Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ungarn mit Sitz in Budapest. Zuvor leitete er das Projekt »Internationaler Monitor der Sozialen Demokratie« des Referates Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2014