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LATEINAMERIKA/1965: Covid-19 in Mexiko - In banger Erwartung der kommenden Wochen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Mexiko
Covid-19 in Mexiko: In banger Erwartung der kommenden Wochen

Von Gerold Schmidt


Covid-19-Pandemie in Mexiko: Kommen Mexiko und seine Menschen einigermaßen davon oder bahnt sich eine Katastrophe an? Kann die berühmte Kurve abgeflacht werden oder gerät sie außer Kontrolle?

(Mexiko-Stadt, 26. April 2020, npla) - Mexiko hat am Dienstag, 21. April, den Beginn der dritten und schwierigsten Phase der Covid-19-Pandemie im Land erklärt. Der Höhepunkt der Infektionswelle wird spätestens für die erste Maihälfte erwartet. Voraussichtlich werden die Fälle in den nächsten Tagen stark ansteigen. Derzeit herrscht noch eine gewisse Ruhe vor dem Sturm. Die Frage ist: Kommen Mexiko und seine Menschen einigermaßen davon oder bahnt sich eine Katastrophe an? Kann die berühmte Kurve abgeflacht werden oder gerät sie außer Kontrolle?

In den vergangenen Wochen versuchten die Gesundheitsbehörden hinsichtlich der Intensivbettenkapazitäten, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung und allgemeiner medizinischer Ausstattung das nachzuholen, was die Monate zuvor versäumt wurde. Besser gesagt: Was wie in vielen anderen Ländern die vergangenen 20 Jahre bewusst unterlassen wurde. Mexiko ist vom jahrelangen Verfall des öffentlichen Gesundheitssystems und einer Zweiklassen-Gesellschaft bei der medizinischen Versorgung geprägt. Nach den vorliegenden Daten könnte aber nicht nur das Gesundheitswesen kollabieren. Auch die Wirtschaft insgesamt befindet sich bereits in extremen Schwierigkeiten.


14.600 Infizierte, 1.300 Tote: Präsident strahlt Optimismus aus

Offiziell hat Mexiko am Sonntag, 25. April die Marke von 14.677 infizierten Personen erreicht. 1.351 Menschen starben bis zu diesem Stichtag am Coronavirus in Mexiko. Die Dunkelziffer derjenigen, die sich bereits angesteckt haben, dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Die Regierung selbst rechnet mit einem Multiplikationsfaktor zwischen acht und neun. Unklar ist, inwieweit dem staatlichen Erfassungssystem zu vertrauen ist. Angesichts fehlender Testkapazitäten setzen die Gesundheitsbehörden nicht auf möglichst viele und flächendeckende Proben. Sie versuchen, den Verlauf der Epidemie aus statistisch aussagekräftigen Stichproben herauszulesen. Das ist nicht unumstritten.

Noch vor wenigen Wochen schien vor allem Präsident Andrés Manuel López Obrador (Amlo) seinem brasilianischen Amtskollegen Jair Bolsonaro den Rang als lateinamerikanischer Oberverharmloser unter den Regierungschefs ablaufen zu wollen. Als die Gesundheitsbehörden bereits von sozialer Distanzierung redeten, nahm er noch regelmäßig das Bad in der Menge. Nach wie vor versucht er, die sanitäre und wirtschaftliche Lage schön zu reden. Vielleicht ist es seine Strategie, vor allem Ruhe und Optimismus auszustrahlen. Aber inzwischen überlässt er weitgehend den Gesundheitsexpert*innen das Feld, wenn es um konkrete Maßnahmen geht.


Aggressionen statt Applaus für Krankenhauspersonal

Diese hoffen, auf dem Höhepunkt der Krise mit gut 20.000 Intensivbetten und 12.000 Beatmungsgeräten für Corona-Erkrankte auszukommen. Die Bettenzahl könnte halbwegs erreicht werden. Feldkrankenhäuser, die Umwandlung von Militärkrankenhäusern sowie Verhandlungen mit Privatkrankenhäusern haben die Kapazitäten deutlich aufgestockt. Die Angaben zu den fehlenden Beatmungsgeräten schwanken deutlich. Klar ist nur: Wahrscheinlich wird es nicht genug geben. In den Städten Tijuana und Mexicali sind drei US-Unternehmen ansässig, die die Geräte herstellen bzw. zusammensetzen. Aber sie liefern für die USA und europäische Staaten. Erst die vorübergehende Schließung des Unternehmens Smith Healthcare in Mexicali rang diesem die Verpflichtung ab, "einen Teil" der Produktion an die Behörden des Bundesstaates Baja California zu verkaufen. Amlos neuer Busenfreund Donald Trump versprach Mexiko am Mittwoch 500 Beatmungsgeräte. Noch vor wenigen Tagen hatte Mexikos Präsident getwittert, es seien Tausend.

Einen Wettlauf mit der Zeit gibt es beim Gesundheitspersonal. Der öffentliche Gesundheitssektor stellt im Eiltempo Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen ein. Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen im Ruhestand werden aufgefordert, in den Beruf zurückzukehren. Überall fehlt es jedoch an ausreichender und geeigneter Schutzkleidung. Zudem: Während das Krankenpersonal in anderen Ländern ebenfalls unter miserablen Arbeitsbedingungen leidet, aber zumindest von der Bevölkerung gefeiert wird, häufen sich in Mexiko Aggressionen gegen diesen Sektor. Viele Menschen fürchten sich davor, von Krankenhauspersonal mit dem Coronavirus angesteckt zu werden. Mehrfach wird die Trauer, sich von toten Angehörigen nicht verabschieden zu können, in Form von Wut am Personal ausgelassen. Inzwischen stellt die Nationalgarde vor einem Großteil der Krankenhäuser Wachen auf.


Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht sind in Mexiko Volkskrankheiten

Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht sind in Mexiko inzwischen Volkskrankheiten, bei denen das Land weltweit auf den vorderen Rängen steht. Das macht Covid-19 auch für viele jüngere Mexikaner*innen gefährlich. Für den Fall, dass die schlimmsten Erwartungen übertroffen werden, macht derzeit der Entwurf eines umstrittenen bioethischen Ratgebers für das Gesundheitswesen die Runde. Dabei geht es auch um das sogenannte Triage-Verfahren, nach dem eine Prioritätenliste über Leben und Tod von Patient*innen entscheidet. Tendenziell sollten in der ersten Fassung jüngere Patient*innen mit besseren Überlebenschancen den Vorzug bekommen. Das ist nun relativiert worden. Als ein Verfahren, um über die Verteilung knapper medizinischer Ressourcen zu entscheiden, wird der "Münzwurf" diskutiert.

Die mittel- und langfristigen Folgen der Coronakrise für die mexikanische Wirtschaft sind kaum absehbar: Bereits von Mitte März bis Ende der ersten Aprilhälfte entließen mexikanische Unternehmen 350.000 Beschäftigte. Ende April könnte sich diese Zahl bereits verdoppelt haben. Arbeitslosengeld gibt es nicht. Prozesse gegen illegale Entlassungen ziehen sich in der Regel über Jahre hin. Pessimistische Rechnungen gehen von mehr als 1,5 Millionen weggefallener formaler Arbeitsplätze nach der Coronakrise in Mexiko aus. Immer mehr Arbeiter*innen machen von der Möglichkeit Gebrauch, vorzeitig Geld von ihren Rentenkonten abzuziehen. Damit sind spätere Konflikte vorprogrammiert, wenn die ohnehin knappe Rente erst recht nicht mehr reichen wird. Nahezu 60 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeiten im informellen Sektor. Sie können es sich nicht leisten, der dringenden Empfehlung "bleib zuhause" Folge zu leisten. Während in reichen Stadtteilen wie dem Viertel Coyoacán in Mexiko-Stadt die Straßen tatsächlich leergefegt sind, herrscht in Vorstädten wie Chalco oder Nezahualcoyotl nach wie vor reges Treiben. Die Wochenzeitschrift "proceso" veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 5. April das Foto eines Plakates an einem Orangenstand: "Geschätzter Kunde. Wir informieren Sie, dass wir solange arbeiten werden, bis der Coronavirus uns umbringt."


Trotz Hilfsmaßnahmen schrumpft das Bruttoinlandsprodukt

Die Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes in 2020 wird immer weiter nach unten korrigiert. Schien anfangs ein Rückgang der Wirtschaftskraft um drei bis vier Prozent noch realistisch, ist inzwischen ein negatives "Wachstum" von sechs Prozent fast schon optimistisch. Anstatt an ein umfangreiches staatliches Konjunkturprogramm zu denken, hält Amlo wie an einem Fetisch an der schwarzen Haushaltsnull und seiner Ablehnung, neue Schulden aufzunehmen, fest. Erst in der letzten Aprilwoche scheint er diese Position ein wenig aufzuweichen. Das Finanzministerium gab festverzinsliche Staatspapiere im Umfang von sechs Milliarden Dollar aus. Die Zentralbank kündigte neben einer Leitzinssenkung an, 750 Milliarden Pesos (etwa 25 Milliarden Euro) in den Finanzsektor zu pumpen. Die finanziellen Belastungen des Staates sollen andererseits durch weitere Gehaltskürzungen von Funktionär*innen und Einsparungen der Ministerien, die zum Teil schon heftige Budgetkürzungen hinnehmen mussten, ausgeglichen werden.

Die Sozialprogramme will die Regierung nicht antasten. Die kleine universelle Alterspension wird für vier Monate im Voraus bezahlt. Für kleinere und mittlere urbane Unternehmen, nicht notwendigerweise nur aus dem formellen Sektor, hat die Regierung inzwischen ein Kreditprogramm aufgelegt. Eine Million Unternehmen soll Kredite von 25.000 Pesos (derzeit 1.000 Euro) beantragen können. Kaum ausreichend, meinen viele. Fünfmal so viele Unternehmen könnten die Unterstützung wahrscheinlich brauchen. Steuererleichterungen lehnt die Regierung grundsätzlich ab, bisher jedenfalls. Der Präsident hat recht, wenn er auf die Milliardenbeträge verweist, die mexikanische Großunternehmen dem Fiskus noch schuldig sind. Einen finanziellen Rettungsschirm für sie schließt er kategorisch aus. Das mexikanische Großkapital liegt angesichts sinkender Popularitätswerte des Präsidenten in Lauerstellung. Angesichts der Abwesenheit einer ernsthaften Parteienopposition hält sich Gustavo de Hoyos, Vorsitzender des Unternehmerdachverbandes Coparmex für zunehmend befugt, dieses Vakuum auszufüllen.


Regierung hält an Großprojekten fest

Zu allem Überfluss trifft der massive Ölpreisverfall Mexiko. Den staatlichen Ölkonzern Pemex und die sechs staatseigenen Raffinerien wollte Amlo wieder profitabel machen, gar eine neue Raffinerie bauen. Die Milliarden, die die Regierung bisher in diese Vorhaben gesteckt hat, könnten verloren sein. Die kurzfristige Erleichterung über Mexikos Deal mit der OPEP und Trumps geleistete "Vermittlerdienste" bei der Verhandlung über niedrigere Produktionsmengen ist bereits wieder verflogen. Dennoch hält López Obrador bisher noch an seinen Großprojekten Raffinerie, internationaler Flughafen und dem sogenannten Maya-Zug fest.

Die einberufene mexikanische Gesundheitsrat hat die Maßnahmen der sozialen Distanzierung bis zum 30. Mai verlängert. Regional begrenzt soll es zuvor ab Mitte Mai Lockerungen geben. Offiziell wird der 25. Juni als Datum angegeben, an dem die Pandemie "überstanden" sein soll. Ende April lebte das Prinzip Hoffnung noch: Von den bisher zur Verfügung stehenden knapp 12.000 "Covid-19-Betten" wurden am 26. April nur 20 Prozent benötigt. Von den Beatmungsgeräten, deren genaue Zahl jedoch nicht genannt wurde, sind demnach sogar nur zwölf Prozent in Nutzung. Andrés Manuel López Obrador erklärte daraufhin, der Coronavirus "konnte gezähmt werden". Es könnte für Mexiko kaum eine bessere Nachricht geben, als die, dass er mit seinem Optimismus am Ende alle Kritiker*innen Lügen straft. Sicher ist das in keinster Weise.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2020

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