Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → AUSLAND


LATEINAMERIKA/1720: Brasilien - Sonia Guajajara, die Kriegerin der Worte (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 141, 3/17

Die Kriegerin der Worte

Sonia Guajajara - ein Porträt

von Silvia Jura


"Wir sind die Hüterinnen von Mutter Erde, der Wälder, des Wassers und der Luft (...), und jeden Tag werden wir dafür angegriffen. Wir leisten Widerstand gegen die Ausbeutung der Natur (...). Unsere Lebensart ist eine große Bereicherung für die Welt", meinte Sonia Guajajara bei ihrem Vortrag zur Dekolonisierung im Rahmen der Akademie des Verlernens in der Night School in Wien im Mai 2017.


Sonia Bone Guajajara, vom kriegerischen Volk der Guajajara, wurde 1974 im freien indigenen Territorium Araribóia, Maranhão im Amazonasgebiet geboren. Sie ist Mutter von drei Kindern und wurde schon von klein auf von der Ältesten ihres Dorfes zur Kriegerin der Worte erklärt. Um ihren vorbestimmten Weg zu gehen, musste sie für ihr Recht auf Bildung kämpfen. Sie musste ihr Dorf verlassen, in der nächstgelegenen Stadt als Kindermädchen und Hausangestellte arbeiten, um die Grundschule besuchen zu können. Auf die Oberstufe ging sie in einem anderen Bundesstaat, in Minas Gerais, gefördert durch ein Begabtenstipendium.

Sie wurde schon früh mit den Vorurteilen des "anderen" Brasilien konfrontiert, mit der Ignoranz gegenüber ihrem Volk und der Unterdrückung ihres Volkes: "Ich habe immer versucht zu zeigen, dass Indio sein nicht nur heißt, bunt bemalt herumzugehen, im Wald zu wohnen oder Federschmuck zu tragen. Unsere Aufgabe ist es, an der Gesellschaft zu partizipieren, sie mitzugestalten und die Menschheit vor dem Chaos zu bewahren."


Die Sprecherin der Indigenen Brasiliens

Sonia Guajajara ist heute die legitime Vertreterin aller 900.000 Indigenen Brasiliens. Die Ältesten, Häuptlinge und Führungspersönlichkeiten der Guajajara nannten sie immer schon "die große Kleine" - und der Name ist ihr geblieben. Sie war das kleine Mädchen, das immer zu politischen Treffen mitreiste und mitschreiben konnte, die immer dabei war und sich nützlich machte. So wurde sie zur Sekretärin der Regionalvertretung der Indigenen im Maranhão, der COAPIMA, gewählt. Mit Unterstützung der Frauen kandidierte sie schließlich als Präsidentin, wurde gewählt und leitete die Organisation sechs Jahre lang. Dann ging es weiter in die COIAB, die Koordination der Indigenen des Amazonas, nach Manaus - und heute vertritt sie alle Amazonasvölker im Rahmen der APIB, der nationalen Vertretung, und ist auch deren nationale Vize-Koordinatorin.

Sonia konnte sich aufgrund ihrer Fähigkeiten - die Gabe des Wortes wurde ihr auf den Weg mitgegeben - durchsetzen. Immer wieder wurde sie wegen ihres Geschlechts in die hinteren Reihen geschoben, immer wieder zum Schweigen verdammt. Sonia wird von Kolleginnen zum Gedankenaustausch und zur Vernetzung eingeladen, ihr wird versichert, dass sie nicht allein in ihrem Kampf ist. In den indigenen Völkern ist die Führung oft in weiblicher Hand, es gibt tausende Frauen an der Spitze der Bewegung. Ihre Sichtbarkeit wird jedoch durch den brasilianischen, machistischen Filter getrübt.

Beim letzten Acampamento Terra Livre in Brasilia führten vier Frauen den Sturm auf das Parlament an - Sonia war eine von ihnen. In den Medien wurde das weder kommentiert noch gezeigt. Vorurteile treffen indigene Frauen doppelt - als Indigene und als Frau.


Digitaler Kampf

Sonia Guajajara ist freie Redakteurin bei Midia Ninja, einem unabhängigen Web-Nachrichtendienst. Wer sie auf Facebook besucht, bekommt Einblick in ihr vielschichtiges Leben, das sie vom tiefsten Urwald bis zur UNO-Generalversammlung nach New York gebracht hat.

Sonia reist viel, doch sie bleibt niemals lange von zu Hause weg. Die Sehnsucht nach ihrer Familie, ihrem Dorf, ihrem Wald ist zu groß. Sie lässt uns in den sozialen Netzwerken an politischen Treffen der Ältesten in einem entlegenen Dorf im Amazonas oder an der Initiation ihrer Tochter teilnehmen - aber genauso ruft sie zur virtuellen Partizipation an der Entwicklung eines Forderungskataloges an den norwegischen König im Rahmen der Interfaith Rainforest Initiative auf oder informiert über die aktuelle politische Lage in Brasilien.

Sonia trat auf der UNO-Hauptversammlung gegen die herrschenden Vorurteile gegen Indigene auf. Wo immer sie auftaucht, hält sie messerscharfe Reden und glasklare Vorträge. Sonias zentrales Thema ist die Forderung nach territorialer Anerkennung der indigenen Ländereien und die Umsetzung der Verfassung von 1988.


Demarcação ja - Landmarkierungen jetzt

Die Anerkennung der territorialen Ansprüche der Indigenen Brasiliens ermöglicht erst die Kontrolle über das eigene Land, die eigene Lebensweise und ein (Über-)Leben in Würde. Die Anerkennung der Landrechte ist die Grundlage des Rechts auf Diversität und die eigene Kultur. Im eigenen Land leben die Ahn_innen.

Die Frage der territorialen Anerkennung ist eine politische. Die aktuelle Putschist_innenregierung Brasiliens unter Michel Temer und die aufstrebenden Kräfte rechts außen versuchen mit aller Gewalt, die legitimen Ansprüche der Indigenen zu unterbinden. Es ist die Lobby der Großgrundbesitzer, die derzeit das brasilianische Parlament dominiert, gestützt von der Lobby der Evangelikalen. In Sondermaßnahmen wurden NGOs, Anthropolog_innen und frühere Regierungsvertreter_innen, die Landmarkierungen zugunsten der Indigenen durchgeführt haben, kriminalisiert. Bereits erfolgte territoriale Anerkennungen werden wieder aufgehoben.

So wird konsequent an der Zerstörung der nationalen Organe zum Schutz der Indigenen gearbeitet und ebenso an der Zerstörung der indigenen Kulturen. Im Juli 2017 wurden Militärpolizei und Bundespolizei beauftragt, die soziale Ordnung der Indigenen zu regeln. Das klingt nach autoritärem Staat.

Der Landkampf gegen die Indigenen wird von der Gier der Großgrundbesitzer, des Agrobusiness und der Multinationalen angetrieben: Indigene Ländereien sind Naturreservate, oft finden sich dort Bodenschätze und Wasserreserven. Das Interesse der neoliberalen Putschist_innen Brasiliens ist die Veräußerung der Länder an multinationale Konzerne. Nestlé und Coca-Cola sitzen schon auf der größten Trinkwasserreserve der Welt, dem Aguifero Guarani. Im Amazonas wird nach Gold und Edelmetallen geschürft, der Regenwald muss Sojaplantagen und Rinderweiden weichen. Und die Indigenen werden, wieder einmal, vertrieben, ermordet, gefoltert.

Der Widerstand der Indigenen gegen die Putschist_innen ist groß - und wirkt auf weltlicher und spiritueller Ebene. Beim 14. Acampamento Terra Livre im April 2017 besetzten 6.000 Indigene das Regierungsviertel, um auf die Landfrage hinzuweisen und die Umsetzung der Verfassung von 1988 zu fordern. Sonia Bone Guajajara, die kleine große Frau, kämpfte an ihrer Spitze. Sie hat noch einen langen Weg vor sich.


Zur Autorin: Silvia Jura arbeitet als freie Journalistin, Kuratorin, Kultur- und Sozialanthropologin sowie Kulturarbeiterin und lebt abwechselnd in Salvador/Bahia und Wien.
www.silvias.net, www.globalista.net

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 141, 3/2017, S. 32-33
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang