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LATEINAMERIKA/1613: Brasiliens neuer Präsident kündigt Sparpolitik an (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasiliens neuer Präsident kündigt Sparpolitik an

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro


(Rio de Janeiro/Berlin, 02. September 2016, npl) - "Ohne eine Reform der Sozialversicherung kann der Staat schon bald die Zahlung der Renten nicht mehr garantieren", sagte Michel Temer in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident Brasiliens. Damit macht er deutlich, wohin die Reise nach dem umstrittenen Regierungswechsel geht: Rentenreform, Revision des Arbeitsrechts, Sparmaßnahmen und Privatisierungen. Die Sozialpolitik der Vorgängerregierungen soll Vergangenheit sein. Temer gehört der wohlhabenden Elite an, die in den Transferleistungen immer nur "Wahlkampfgeschenke der Arbeiterpartei" gesehen hat.


Rousseff darf auch künftig politische Ämter ausüben

Die Kritik, seine Machtübernahme sei ein Putsch, wies Temer von sich. "Putschisten sind die anderen, die mit unverantwortbarer Wirtschaftspolitik die Verfassung verletzten." Am Mittwoch stimmten 61 von 81 Senator*innen für die Absetzung der bereits suspendierten Präsidentin Dilma Rousseff und beendeten ein monatelanges Tauziehen um die Macht. Ihr werden illegale Haushaltstricks und Kreditvergaben ohne Genehmigung vorgeworfen. Überraschend ist, dass Rousseff auch in Zukunft politische Ämter wird ausüben dürfen. Die für ein Verbot notwendige Zweidrittelmehrheit kam in einer zweiten Abstimmung nicht zustande.

Nach der Senatsentscheidung sprach Rousseff von einer "Machtübernahme mittels eines parlamentarischen Putsches". Die Senator*innen, die für ihre Absetzung stimmten, hätten die Verfassung in Stücke gerissen. "Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich mit einem Staatsstreich konfrontiert werde", erklärte Rousseff mit Bezug auf die Militärdiktatur (1964-1985), während der sie verhaftet und gefoltert worden war.


Annäherung an USA statt alternative oder regionale Allianzen

Kurz nach der Entscheidung wurde Temer als neuer Staatschef vereidigt. Danach brach er zu seinem ersten großen Auftritt auf internationaler Bühne nach China auf, wo der bisher recht unbekannte Politiker sich der G20-Gruppe vorstellen wird. Auf einen herzlichen Empfang bei den Vertreter*innen der Brics-Gruppe, der neben Brasilien und China auch Indien angehört, darf er sich nicht freuen. Die neue Außenpolitik setzt seit Beginn der Übergangsregierung im Mai auf eine Annäherung an die USA, statt wie zuvor auf alternative oder regionale Allianzen.

In fast allen großen Städten des Landes protestierten Tausende Menschen am Mittwoch gegen den Machtwechsel. Zumeist wurden die Demonstrationen von einem großen Polizeiaufgebot begleitet. In der Metropole São Paulo kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die den Protestmarsch mit Tränengas und Gummigeschossen blockierte. Bereits in den Tagen zuvor hatten Aktivist*innen brennende Barrikaden errichtet und ein Verkehrschaos verursacht. Roberto Amaral, Koordinator der Protestplattform Frente Brasil Popular, sieht weitere Konfrontationen voraus: "Um das angekündigte Regierungsprogramm umzusetzen, muss Temer auf Repression setzen."


Bolivien, Ecuador und Venezuela riefen Botschafter zurück

International droht die Machtübernahme der Konservativen neue Brüche unter den lateinamerikanischen Staaten auszulösen. Die Linksregierungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela riefen aus Protest gegen die Senatsentscheidung ihre Botschafter zurück. Auch Nicaragua und Kuba äußerten sich besorgt. Brasiliens Außenminister José Serra reagierte gewohnt undiplomatisch: Er warf den Staaten "Unkenntnis der Lage in Brasilien" vor und rief ebenfalls die Botschafter zurück. Andere Staaten wie Chile oder Paraguay und auch die USA bezeichneten den Regierungswechsel als verfassungskonform und wünschten sich "weiterhin gute Beziehungen".


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2016

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