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LATEINAMERIKA/1546: Brasilien - Tauziehen um die Macht geht weiter (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien
Tiefe Spaltung - Tauziehen um die Macht geht weiter

Von Andreas Behn



(Rio de Janeiro, 21. März 2016, taz) - Das Tauziehen um die Macht in Brasilien geht in eine neue Runde. In Justiz, Politik und auf der Straße zeigt sich immer deutlicher, dass das größte Land Lateinamerikas tief gespalten ist. Vordergründig geht es um die Frage, für oder gegen die regierende Arbeiterpartei PT zu sein. Weniger laut sind die Stimmen, die Parteien aller Couleur wegen deren Nähe zu korrupten Machenschaften misstrauen und gegen ein politisches Rollback sind. Aufgrund spektakulärer Ermittlungen in einem Korruptionsskandal und einer schweren Wirtschaftskrise steht die Mitte-Links-Regierung von Rousseff unter starkem Druck.

Nach den Massendemonstrationen der konservativen Opposition, bei denen Millionen in gelb-grünen Nationalfarben vor einer Woche den Rücktritt von Präsidentin Rousseff forderten, dominierten rote Fahnen und T-Shirts am Freitag, 18. März, die Straßen aller größeren Städte des Landes. Die Schätzungen reichen bis zu einer Million Teilnehmer*innen, allein in der Metropole Sao Paulo und in den Hauptstädten des ärmeren Nordostens wie Recife und Salvador demonstrierten jeweils um die hunderttausend Menschen. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Parteien hatten unter dem Motto "Verteidigt die Demokratie" und "Es wird keinen Putsch geben" zu den Kundgebungen aufgerufen.

Vor allem Ex-Präsident Lula da Silva, dem die Staatsanwaltschaft und die Opposition eine Verwicklung in die Korruptionsaffäre um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras vorwirft, wurde auf Transparenten und in Sprechchören Solidarität bekundet. Auch Rousseff wurde gegen das von der Opposition eingeleitete Amtsenthebungsverfahren in Schutz genommen. Viele machten aber auch deutlich, dass sie die Ausrichtung der Regierungspolitik nicht unbedingt teilen und nicht zur Unterstützung der PT, sondern vor allem gegen das aggressive Vorgehen oppositioneller Gruppen demonstrierten. "Demokratie bedeutet, einen Wahlsieger zu akzeptieren", erklärte Lula vor zehntausenden Anhänger*innen während der Kundgebung in Sao Paulo in Bezug auf die Wiederwahl von Rousseff im Oktober 2014.


Justiz streitet weiter über die Ernennung von Lula zum Kabinettschef

Den ersehnten Rückenwind von der Straße vermisst Rousseff in der Justiz. Zur juristischen Posse geriet ihre Berufung von Lula zum Kabinettschef vergangene Woche, um die Regierung mit dem einst so populären Namen zu stärken. Drei Erstinstanzrichter untersagten Lula vorläufig den Amtsantritt aufgrund der Vermutung, er sei nur zum Minister ernannt worden, um ihn vor Untersuchungshaft zu schützen. Zweimal bereits kassierte die zweite Instanz diesen Befund, bis der Oberste Richter Gilmar Mendes am Freitag Abend erneut beschied, dass Lula nicht Minister werden dürfe. Die Regierung ging in Berufung und wartet nun auf das endgültige Urteil des Plenums des Obersten Gerichtshofs.

Angesichts der politischen Krise ist die Regierung so gut wie handlungsunfähig. Der erst kürzlich berufene Justizminister kündigte an, gegen das Durchsickern von Ermittlungsdetails, Kronzeugenaussagen und vor allem Telefonmitschnitten an die Presse vorzugehen. Für Minister Eugênio Aragão sind solche Veröffentlichungen illegal und politisch motiviert, während Chefermittler Sérgio Moro die Auffassung vertritt, dass die Öffentlichkeit ein Recht habe, all diese Details zu erfahren.


Rousseff unter Dauerbeschuss

Dilma Rousseff befindet sich geradezu unter Dauerbeschuss. Der Kronzeuge und Senator Delcídio Amaral wiederholte am Wochenende in Zeitungsinterviews seine Aussage, dass sowohl Rousseff wie Lula von dem ganzen Korruptionsgeflecht - Bauunternehmer füllten die Kassen korrupter Politiker*innen mit Bestechungsgeld, um als Gegenleistung lukrative Aufträge von Petrobras zu bekommen - wussten und die Ermittlung behinderten. Gleichzeitig treibt das Parlament das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff, das einer neuen Meinungsumfrage zufolge von über 60 Prozent der Brasilianer unterstützt wird, in ungewohnter Eile voran. Dabei wird oft vergessen, dass im Rahmen der Korruptionsaffäre mangels Beweisen gegen die Präsidentin weder ermittelt wird noch eine Anklage seitens der Justiz formuliert wurde.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2016

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