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LATEINAMERIKA/1522: Guatemala - Und es geht doch (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive

Und es geht doch
Guatemala entledigt sich noch vor den Wahlen seiner korrupten politischen Elite - zumindest teilweise

Von Joachim Schlütter
September 2015


• Die Wahlen in Guatemala fanden inmitten einer tiefen politischen Krise statt. Die »UN-Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala« hatte mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft bis in die höchsten Spitzen von Staat und Gesellschaft reichende Korruptionsskandale aufgedeckt.

• Massive und anhaltende Proteste einer parallel entstandenen Bürger_innenbewegung und immer eindeutiger werdende Korruptionsvorwürfe zwangen zunächst Vizepräsidentin Roxana Baldetti und schließlich Präsident Otto Pérez Molina zum Rücktritt. Neben etlichen anderen Größen aus Politik und Gesellschaft befinden sich jetzt beide in Untersuchungshaft.

• Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen konnte Jimmy Morales, ein Fernsehkomödiant, mit seiner bisher unbekannten rechtskonservativen Partei FCN für sich entscheiden. Seine Konkurrentin in der zweiten Runde wird Sandra Torres sein, die Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei UNE.

• Jede Regierung, die aus dem zweiten Wahlgang am 25.10.2015 hervorgeht, wird Probleme mit der Legitimität ihres Machtanspruchs wie auch mit der Mehrheitsbeschaffung für ihre Projekte haben. Um regierungsfähig zu werden und den notwendigen sowie umfangreichen Reformprozess einzuleiten, sind nicht nur Allianzen mit mehr als zwei Parteien notwendig. Genauso wichtig ist heute ein Reformbündnis mit Zivilgesellschaft und Unternehmer_innenschaft.

*

Wahlen in Zeiten tiefster Krise

Der Bevölkerung Guatemalas blieb 2014 als das Jahr des Versagens der Regierung der rechtsgerichteten Partei Partido Patriota (PP) in Erinnerung. Der pensionierte General Otto Pérez Molina war mit dem Versprechen »harte Hand und Beschäftigung« angetreten. Die harte Hand des Staates sollte sich gegen die hohe Verbrechensrate und die alltägliche Gewalt richten. Mit neuen Arbeitsplätzen sollte die sehr schwierige ökonomische Lage der Bevölkerungsmehrheit gelindert werden.

Pérez Molina ist furios gescheitert. Morde und Eigentumsdelikte haben zugenommen. Die meisten Menschen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die großen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes wurden von der Regierung kooptiert, und die Zahl unabhängiger Gewerkschaften ist verschwindend gering. Die sehr niedrige Steuerquote (elf Prozent des BIP) sorgt für einen bettelarmen Staat. Im Jahr 2014 kollabierte das Krankenhaussystem. Das Schulsozialprogramm, mit dem eine hundertprozentige Einschulungsquote erreicht worden war, wurde ersatzlos gestrichen.

Das Wirtschaftswachstum Guatemalas war zwar mit 3,5 Prozent vergleichsweise hoch, reichte aber auch unter den besten Voraussetzungen nicht, neue Arbeitsplätze im nötigen Umfang entstehen zu lassen. Der Quetzal hat gegenüber dem US-Dollar - Geldwäsche sei Dank - stark zugelegt, was sich negativ auf die Exportchancen auswirkte. Im Außenhandel finden sich vor allem Primärgüter. Die rücksichtslose Rohstoffgewinnung hat vielerorts zu gewalttätigen Konflikten mit der indigenen Bevölkerung (42 Prozent der Gesamtbevölkerung) geführt. Die Wirtschaft hängt großenteils von den Rücküberweisungen der Migrant_innen ab, vor allem aus den USA.

Am 16.5.2015 deckte die Ende 2006 eingesetzte UN-Organisation Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala (Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala, CICIG) mit der Staatsanwaltschaft zunächst ein Korruptionskartell beim Zoll des Landes auf, das offensichtlich vom Präsidialamt gesteuert wurde. Aufgrund der Enthüllungen forderte eine über soziale Netzwerke spontan entstandene Protestbewegung der Mittelschicht den Rücktritt und die Bestrafung der korrupten Entscheidungsträger_innen in Regierung und Verwaltung sowie grundlegende politische Reformen. Unter diesem Druck und aufgrund immer massiverer Vorwürfe mussten zunächst Vizepräsidentin Roxana Baldetti und später auch Präsident Otto Pérez Molina ihren Rücktritt einreichen. Beide warten in der Untersuchungshaft auf ihre Gerichtsverhandlung.

Inmitten der so entstandenen tiefsten politischen Krise seit Jahrzehnten fanden am 6.9.2015 die allgemeinen Wahlen statt. Rund 7,6 Millionen Wahlberechtigte konnten sich für eine_n der Präsidentschaftskandidat_innen der 13 Parteien bzw. Parteienbündnisse entscheiden. Außerdem wurden 158 Abgeordnete sowie 336 Bürgermeister_innen und die Gemeinderäte und -rätinnen gewählt.

Der Friedhof politischer Parteien

Im Gegensatz zu anderen Ländern Zentralamerikas mit stabileren politischen Strukturen hat sich Guatemala zu einem »Friedhof der politischen Parteien« entwickelt. Jede Wahl bringt neue Parteien auf den Plan. Bis heute wurde kein Präsident wiedergewählt, die meisten Parteien verschwinden nach der Wahlperiode, weil sie durch Wahlbetrug, Bereicherung und Korruption das Vertrauen der Wähler_innen verspielen. Abgeordnete wechseln regelmäßig die Partei oder gründen eine neue. Dies betraf in der letzten Legislaturperiode 60 Prozent aller Abgeordneten.

Bei jeder Wahl konkurrieren mindestens zehn Parteien um die Präsidentschaft, die Mehrheit verfügt über kein politisches Programm und steht ideologisch im Mitte-rechts-Raum. Die Parteienfinanzierung im Land ist vorwiegend illegalen Ursprungs aus einem korrupten System mit feudalen Zügen zwischen Abgeordneten, ihren Bürgermeister_innen sowie der organisierten Kriminalität. Der oder die jeweilige Parlamentsabgeordnete verpflichtet »seine« bzw. »ihre« Bürgermeister_innen, einen Teil der illegalen Einnahmen aus manipulierten Ausschreibungen öffentlicher Aufträge weiterzugeben. Auch bei den Baudurchführungen schöpft das Kartell durch Senkung der Ausgaben Gewinne ab. Die Betrogenen bekommen Straßen, die dann beim nächsten Starkregen weggespült werden.

Parteien und Kandidat_innen

13 Kandidat_innen aus elf Parteien und zwei Koalitionen aus jeweils zwei Parteien bewarben sich um die Präsidentschaft. Allein drei hatten Aussicht auf Erfolg: Jimmy Morales von der Frente de Convergencia Nacional Nación (FCN), Sandra Torres von der Unidad Nacional de la Esperanza (UNE) und Manuel Baldizón von der Libertad Democrática Renovada (LIDER).

Die FCN (erste Runde der Präsidentschaftswahl 2015: 23,85 Prozent) wurde 2008 von pensionierten Militärs, vor allem aus den Bürgermilizen Patrullas de Autodefensa Civil (PAC), gegründet. Die Partei definiert sich als rechtsnational und ist in ihrer Organisation räumlich bisher auf Guatemala-Stadt beschränkt. Ihr Kandidat Jimmy Morales ist ein politischer Außenseiter, der erstmals 2011 für den Bürgermeister_innenposten in Mixco kandidierte und damals auf dem letzten Platz landete. Morales ist professioneller Comedian, dessen Show seit 15 Jahren im öffentlichen Fernsehen einen festen Sendeplatz hat. Mit seiner Bekanntheit gelang es ihm, von der Unzufriedenheit mit den politischen Eliten zu profitieren. Er verfügt weder über politische Erfahrung noch über ein Regierungsteam, hat jedoch starken Rückhalt bei der jungen Bildungselite zwischen 18 und 30 Jahren. Sein wichtigstes Wahlversprechen war die Förderung der Bildung als Voraussetzung für den sozialen Aufstieg.

Die UNE (19,76 Prozent) wurde im Jahr 2002 gegründet, um die Wahl von Álvaro Colom zum Präsidenten (2008-2012) zu ermöglichen. Bereits 2011 förderte die Partei die Präsidentschaftskandidatur von Sandra Torres, die dann aber als Frau des Präsidenten aus verfassungsrechtlichen Gründen doch nicht kandidieren durfte. Bei den diesjährigen Wahlen kandidierte Torres, nun geschieden, erneut. Die UNE definiert sich als sozialdemokratische Partei. Ihr Führungsteam einschließlich der Präsidentschaftskandidatin zeichnet sich durch einen progressiven Diskurs aus. Gleichwohl vereint die UNE Abgeordnete und Bürgermeister_innen aus ganz unterschiedlichen politischen Richtungen. Hauptthemen des Parteiprogramms sind die Sozialpolitik und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Vor allem von der urbanen Mittelschicht wird die Partei abgelehnt - einer der Gründe, weshalb Torres als Vizepräsidentschaftskandidaten Mario Leal aufgestellt hatte, den Spross einer millionenschweren Unternehmer_innenfamilie.

LIDER (19,65 Prozent) ist eine Persönlichkeitspartei, die erst 2010 gegründet wurde, um die Präsidentschaftskandidatur von Manuel Baldizón zu propagieren. Baldizón saß zuvor für die Partido de Avanzada Nacional (PAN) im Kongress (2004-2008) und später auch für die UNE (2008-2010). 2010 gründete er seine eigene Partei LIDER, als deren Präsidentschaftskandidat er bei den Wahlen 2011 auf dem zweiten Platz landete. Die Partei verfolgt einen rechtsgerichteten, demagogischen Kurs. In der aktuellen Legislaturperiode stellte sie zunächst 15 von 158 Abgeordneten, doch durch die Abwanderung und den Kauf von Abgeordneten konnte sie sich 60 Sitze sichern. LIDER hat öffentliche Fragerunden gegenüber Minister_innen und Regierungsangestellten durchgesetzt, die sich über Wochen und Monate hinzogen und das Parlament während der letzten zwei Jahre weitgehend gelähmt haben. Der Partei wird in besonderem Maße Korruption vorgeworfen; fünf ihrer Abgeordneten und ihr Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Edgar Barquín, sind Ziel einer Untersuchung der CICIG. Barquín sieht sich einer Anklage wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung und Geldwäsche ausgesetzt. Der Wahlkampf von Baldizón konzentrierte sich auf den ländlichen Raum und dort auf die Ärmsten der Armen, an die er Wahlgeschenke verteilte - eine verbreitete Form des Wahlkampfs in Guatemala, die die finanzstarken Parteien bevorteilt.

Von der Korruption zur politischen Krise

Die Einsetzung der CICIG hatten Organisationen der Zivilgesellschaft nach den Friedensverhandlungen (1992-1996) in einem zähen Prozess und mit internationaler Unterstützung zwischen 1999 und 2006 durchgesetzt. Während der Verhandlungen war vereinbart worden, die geheim operierenden Anti-Guerilla-Einheiten aufzulösen. Diese hatten sich in diversen Regierungspositionen festgesetzt, zunächst um ihre Operationen unauffällig zu finanzieren oder um im Zoll eigene Waffenimporte in das Land zu schleusen, bzw. Waffenimporte der Guerilla zu verhindern. Später erwuchs hieraus ein kriminelles Netzwerk, mit dessen Hilfe sie sich rücksichtslos bereicherten. Diese Strukturen galt es mithilfe der CICIG und der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft aufzulösen. Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft konnte durch internationale Präsenz und politischen Druck sowie die Aufmerksamkeit der Berichterstattung gewahrt werden, doch es dauerte Jahre, bis erste handfeste Ergebnisse vorlagen.

Am 16.4.2015 gab die CICIG die Existenz einer korrupten Struktur in der Zollverwaltung des Landes bekannt, die offenbar unter Aufsicht des Privatsekretärs der Vizepräsidentin, Juan Carlos Monzón, stand und jahrelang verschiedenen Unternehmen gegen »Gebühren« ermöglicht hatte, wöchentlich rund 150.000 US-Dollar Zolleinnahmen zu hinterziehen. Als Monzón flüchtete und die CICIG der Vizepräsidentin Roxana Baldetti vorwarf, in diesem Korruptionskartell als die »Nr. 2« agiert zu haben, sah sich auch Präsident Pérez Molina einem immer stärker werdenden Korruptionsverdacht ausgesetzt. Um von sich abzulenken, verlängerte er erst einmal den Auftrag der CICIG um weitere zwei Jahre.

Vor diesem Hintergrund organisierte sich innerhalb weniger Tage über die sozialen Netzwerke eine Protestbewegung der städtischen Mittelschicht. Am 25. April versammelten sich 30.000 Menschen auf dem Platz der Konstitution, um die Absetzung von Roxana Baldetti zu fordern. Zunächst versuchte der Präsident, seine Vizepräsidentin zu schützen, musste sie aber fallen lassen, als immer mehr Details ihrer Beteiligung an dem Zollbetrug bekannt wurden. Baldetti trat am 9. Mai zurück und wurde nach Aberkennung ihrer Immunität in Untersuchungshaft genommen.

In den Folgewochen brachte die CICIG in bemerkenswert effizienter Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft weitere Verdächtige aus kriminellen Strukturen in der Verwaltung, der Polizei, dem Parlament, den Gemeindeverwaltungen und sogar der Justiz vor Gericht. Auch im Institut der Sozialversicherung IGSS konnte eine kriminelle Gruppierung aufgedeckt werden. Sie stand unter Führung ihres eigenen Präsidenten - einem Freund des Staatspräsidenten. In diesem Kartell kassierten der Präsident der Zentralbank sowie andere Angestellte des öffentlichen Dienstes und selbst ein Gewerkschaftsfunktionär bei einem Ausschreibungsbetrug eine Million US-Dollar und überließen einer windigen Firma die Versorgung von Dialysepatient_innen. In der Folge starben mehr als 20 Menschen.

Derweil gelang es Student_innen aus der Protestbewegung, an der staatlichen Universität San Carlos in Guatemala-Stadt eine Volksversammlung vor allem mit indigenen Organisationen aus dem ländlichen Raum einzuberufen und sie zu überzeugen, an den Protesten teilzunehmen. Am 31. Mai kamen so mehr als 60.000 Menschen auf dem Platz der Konstitution zusammen und forderten den Rücktritt des Präsidenten. Damit war eine wirkungsvolle Gegenmacht auf breiterer Basis entstanden: Eine internationale Organisation, Staatsanwaltschaft und Zivilgesellschaft wehrten sich erfolgreich gegen die korrupte traditionelle politische Elite und deckten wichtige Teile rücksichtsloser Machenschaften auf.

Während die massiven Proteste anhielten, gab es immer neue Nachrichten über die Selbstbedienungsmentalität und kriminelle Energie der politischen und administrativen Elite des Landes: Eine Reihe von Strafverfahren gegen weitere hohe staatliche Funktionsträger_innen wurden eröffnet, darunter auch LIDER-Abgeordnete mit ihrem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft und der Ex-Parlamentspräsident Pedro Muadi sowie verschiedene Bürgermeister_innen. Hier trat deutlich die Verstrickung des Staatapparates in kriminelle Vereinigungen des Drogenhandels zutage. Es folgten zahlreiche Rücktritte oberster Chargen, und die Ermittlungen kamen dem Präsidenten immer näher. Als dann sein Schwiegersohn und Privatsekretär angeklagt wurde, war klar, dass nur Präsident Otto Pérez Molina die »Nr.1« im Zollkartell gewesen sein konnte.

Pérez Molina wurde im Parlament der Strafvereitelung und Verschwörung beschuldigt. Trotzdem weigerte er sich zurückzutreten. Mittlerweile hatten sich die meisten sozialen Organisationen und nach anfänglichem Zögern auch der mächtige Unternehmer_innenverband CACIF gegen den Präsidenten gestellt. Dabei wurde offensichtlich, dass die Führungselite des Landes nicht mehr über genügend politische Macht verfügte, um die krisenhafte Entwicklung zu steuern, und es schließlich vorzog, sich den allgemeinen Forderungen anzuschließen. Aufgrund des steigenden Drucks der Bürger_innenbewegung stimmten am 1. September alle anwesenden Abgeordneten (138 von 158) - inklusive jener der Regierungspartei - dafür, die Immunität des Präsidenten aufzuheben. Diesem Druck gab Pérez Molina dann in der Nacht zum 2. September nach und trat zurück.

Vizepräsident Alejandro Maldonado Aguirre stieg zum Präsidenten auf und wurde vom Parlament mit der Wahl eines neuen Vizepräsidenten beauftragt. Am 9. September präsentierte er eine Riege konservativer Kandidat_innen, die mit ihm und dem noch existierenden Parlament bis zum 14.1.2016 die Geschicke des Landes lenken und den Übergang zu einer neuen Regierung organisieren sollen.

Die Wahlergebnisse

Die Wahl stand unter dem massiven Eindruck der politischen Krise. Der Wahlvorgang selbst war transparent und wurde professionell durchgeführt. Am Morgen nach der Wahl waren 96 Prozent der Stimmen ausgezählt und die vorläufigen Ergebnisse im Internet veröffentlicht. Während noch im März die Prognosen LIDER, UNE und PP vorne sahen, ging nun der Newcomer Jimmy Morales mit knapp 24 Prozent der Stimmen als vorläufiger Sieger aus dem ersten Wahlgang hervor. Er will konsequent gegen die Korruption im Land vorgehen.

Gegen ihn wird am 25. Oktober Sandra Torres, Kandidatin der UNE mit 19,76 Prozent der Stimmen, antreten. Torres lag nur 18.000 Stimmen vor Manuel Baldizón, dem LIDER-Kandidaten, der 19,38 Prozent erreichte.

Eine positive Überraschung war die hohe Wahlbeteiligung. Aufgrund der Krise und der generellen Kritik am politischen System waren viele von einem Rückgang der Wahlbeteiligung ausgegangen. Tatsächlich aber war sie mit 71,3 Prozent höher als bei den Wahlen 2011 und eine der höchsten in der Geschichte Guatemalas.

Jimmy Morales ist es offensichtlich gelungen, viele Unzufriedene zu motivieren, die sonst nicht zur Wahl gegangen wären oder ihren Unmut durch Enthaltung oder ungültige Stimmzettel ausgedrückt hätten. Der große Verlierer ist Manuel Baldizón, der trotz seines sechs Jahre geführten millionenschweren Wahlkampfes als Verkörperung der alten Politik knapp auf dem dritten Platz landete. Sollten er oder sein Vizepräsidentschaftskandidat ihre Immunität verlieren, drohen auch ihnen Anklagen der Staatsanwaltschaft.


Ergebnisse der allgemeinen Wahlen am 6.9.2015
 Präsidentschaftswahl 
Partei
Stimmen
%
FCN NACION
UNE
LIDER
FUERZA
VIVA
TODOS
PP
CREO und UNIONISTA
UCN
PAN
WINAQ und URNG
EG
PRI
MNR
1.152.394
948.809
930.905
313.628
286.730
259.673
214.532
166.960
163.974
149.925
101.347
43.916
41.554
28.383
23,99
19,76
19,38
6,53
5,97
5,41
4,47
3,48
3,41
3,12
2,11
0,91
0,87
0,59
Gültige Stimmen
Ungültig
Leere Stimmzettel
Abgegebene Stimmen
4.802.730
216.363
251.396
5.270.484
100
 
 
 

*

 Parlamentswahl 
Partei
Parlamentssitze
Lider
UNE
Todos
PP
FCN
EG
UCN
VIVA
CREO und UNIONISTAS
FUERZA
PAN
Convergencia
WINAQ und URNG
44
36
17
17
11
7
5
5
5
3
3
3
2
Gesamt
158


Das Parlament ist weiterhin fragmentiert. Keine der Parteien und auch keines der Parteienbündnisse verfügt über die Mehrheit der 158 Sitze. Trotz der verlorenen Präsidentschaftswahl stellt LIDER die stärkste Fraktion. Hier bleibt abzuwarten, wie sich die Korruptionsvorwürfe gegenüber führenden Mitgliedern auswirken. Schon jetzt haben sich zehn LIDER-Abgeordnete für unabhängig erklärt, Baldizón hat alle seine Parteiämter niedergelegt und ist bereits außer Landes. Gegen seinen Vizepräsidentschaftskandidaten Édgar Barquín wurde ein Ausreiseverbot wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ausgesprochen. Die bisherige Regierungspartei PP schaffte es bei den Präsidentschaftswahlen mit 4,47 Prozent nicht über die Fünfprozenthürde, doch blieb sie mit 17 Abgeordneten im Parlament vertreten - was sie davor bewahrte, aus dem Parteienverzeichnis gestrichen zu werden. Die FCN des Gewinners der Vorwahlen, Jimmy Morales, landete aufgrund (noch) fehlender regionaler Strukturen mit elf Sitzen auf dem fünften Platz. Die Minderheitsparteien des linken Spektrums kamen insgesamt auf fünf Sitze, allein drei davon gingen an die neue Convergencia por la Revolución Democrática (CRD). Bei den Gemeindewahlen zeigte sich eine gewisse Kontinuität zu den vorhergehenden Wahlen: LIDER wird in 120 der 338 Gemeinden regieren, PP in 80 und UNE in 59, während die FCN lediglich drei Bürgermeister_innen stellt.

Jede Regierung, die aus dem zweiten Wahlgang am 25.10.2015 hervorgeht, wird Probleme mit der Legitimität ihres Machtanspruchs wie auch mit der Mehrheitsbeschaffung für ihre Projekte haben. Zum einen gibt es berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Finanzierung des Wahlkampfes aller Parteien. Jimmy Morales wurde beispielsweise von seinem Arbeitgeber Sendezeit für seine Wahlkampagne gewährt. Zum anderen wird sich der oder die zukünftige Präsident_in nach Amtsantritt am 14.1.2016 nicht nur mit einer Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme konfrontiert sehen, sondern auch mit dem Zwang, Kompromisse mit mehr als einer Parlamentspartei eingehen zu müssen. Denn nur so können die dringend notwendigen Reformen eingeleitet werden.

Reformen und Voraussetzungen

Jede Regierung wird sich dadurch legitimieren müssen, einen Prozess in Gang zu setzen, der über die Reform des Wahlrechts und des Parteiengesetzes hinausreicht und auf eine umfangreiche Staatsreform abzielt. Zentrale Bedeutung hat dabei der Kampf gegen die Korruption, die staatliche wie private Strukturen und Handlungen weitgehend durchdrungen hat. Dabei wird der Erhalt der Arbeitsfähigkeit der bisher so erfolgreichen Staatsanwaltschaft und der CICIG enorm wichtig sein. Es wird Zeit brauchen, das Vertrauen der Bürger_innen zurückzugewinnen. Gleichzeitig sollte schon in den ersten Monaten des kommenden Jahres eine Steuerreform umgesetzt werden, die nicht nur die Einnahmeseite verbessert, sondern auch die Einkommensverteilung gerechter gestaltet.

Durch die politische Krise sind die sozialen Probleme des Landes in den Hintergrund getreten. Die extreme Armut auf dem Land, die Folgen von Trockenheit und Klimawandel für den Agrarsektor und die ländliche Bevölkerung, Preissteigerungen für Nahrungsmittel, Arbeitslosigkeit und fehlende Sicherheit werden sich in neuen Forderungen und Protesten bemerkbar machen, mit denen eine Regierung nur umgehen kann, wenn sie die dafür notwendigen staatlichen Mittel aufbringt und auch die politische Legitimität ihrer Maßnahmen sichert. Um solche Reformen auf den Weg zu bringen, bedarf es nicht nur einer parlamentarischen Mehrheit, sondern auch der Zusammenarbeit mit der Unternehmer_innenschaft und den Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Herausforderung für die neue Regierung wird sein, ein Reformbündnis über politische Grenzen hinweg aufzubauen.


Über den Autor

Joachim Schlütter ist Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in El Salvador, Guatemala und Honduras mit Sitz in San Salvador (El Salvador).


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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2015

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