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LATEINAMERIKA/1518: Mexiko - Wenn Menschen verschwinden, ein Staat frißt seine Kinder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. September 2015

Mexiko: Wenn Menschen verschwinden - Ein Staat frisst seine Kinder

von Daniela Pastrana



Bild: © Daniela Pastrana/IPS

In der Suppenküche der Pfarrei San Gerardo in Iguala hängen die Fotos von Menschen, die im Bundesstaat Guerrero verschwunden sind
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

IGUALA, MEXIKO (IPS) - Die Suppenküche der Pfarrei San Gerardo in Iguala, einer Stadt im südwestlichen Bundesstaat Guerrero, ist zu einer Gedenkstätte des Grauens geworden: Von den Wänden blicken die Gesichter Dutzender 'Verschwundener - Menschen, die verschleppt und aller Wahrscheinlichkeit nach umgebracht wurden.

Die meisten Opfer stammten aus dem nördlichen Teil Guerreros, dem ärmsten mexikanischen Bundesstaat, der auch als Schauplatz der Gewalt berüchtigt ist. Die Datenbank der Organisation, die nach den Vermissten sucht, enthält 350 'Fälle' und jede Woche kommen neue hinzu.

Familien, die ihre Angst davor überwunden haben, Verdächtigungen auszusprechen und die Vermissten zu suchen, kommen jeden Dienstag in die Pfarrei, um sich gegenseitig zu trösten und sich abzusprechen, wie sie die Suche ihrer Angehörigen voranbringen können. Derzeit ist die Entdeckung eines Geheimgrabes in den Bergen, die Iguala umgeben, Hauptthema. Dort könnten die 43 vermissten Studenten des Lehrerkollegs von Ayotzinapa verscharrt sein, die am 26. September 2014 verschleppt wurden.

An jenem Tag waren die Studierenden von der Bezirkspolizei Igualas angegriffen worden. Die sorgfältigen Untersuchungen eines von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beauftragten Expertenteams ergaben, dass es damals zu einer konzertierten Aktion unterschiedlicher Sicherheitskräfte einschließlich der Bundespolizei und dem Militär gekommen war, die Stunden anhielt und an mindestens neun unterschiedlichen Orten durchgeführt wurde.

Die Bezirkspolizei hat demnach fünf Zivilisten, unter ihnen zwei Studenten, getötet. Die Leiche eines weiteren Studenten, der zuvor gefoltert worden war, wurde in der Nähe einer Müllhalde gefunden. 43 seiner Kommilitonen - die meisten waren im ersten Semester - wurden verschleppt.


Geringe Erfolgsquote bei der Suche nach vermissten Studenten

Obwohl die Verbrechen bereits vor einem Jahr begangen worden sind, wurde erst ein weiteres Opfer aufgefunden. Die Leiche war verkohlt und steckte in einem Plastiksack. Möglicherweise sind die Ermittler inzwischen auf die sterblichen Überreste eines weiteren Studenten gestoßen. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Von allen anderen Verschleppten fehlt nach wie vor jede Spur.

Durch die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Verbrechen wurden Allianzen zwischen lokalen Politikern und dem organisierten Verbrechen aufgedeckt. Auch riefen die Ereignisse vor einem Jahr Erinnerungen an die im Januar 2007 vom damaligen Präsidenten Felipe Calderón gestarteten Militäroperationen mit insgesamt 20.000 'Verschwundenen' wach.

Der seit Dezember 2012 amtierende Staatschef Enrique Peña Nieto hat die Politik der harten Hand seines Amtsvorgängers beibehalten. Doch die Auswirkungen dieser Strategie unter dem neuen Präsidenten sind weitgehend unsichtbar geblieben, da sich die Medienberichterstattung vor allem auf die Verfassungsreform konzentriert, die den Energie- und Telekommunikationssektor für private Investoren geöffnet hat.

Allein im ersten Amtsjahr hatte die Peña Nieto-Regierung fast 500 Millionen US-Dollar für Werbezwecke ausgegeben, wie eine gemeinsame Studie des mexikanischen 'Fundar-Zentrums für Forschung und Analyse' und der Londoner Menschenrechtsorganisation 'Artikel 19' belegt.

Die Gewalt in Mexiko hat keineswegs abgenommen. Einem Bericht der Zeitung 'El Universal' im Vorfeld des Jahrestages der Entführung der Studenten zufolge bezifferten die Staatsanwaltschaften des Landes die Zahl der 2014 'Verschwundenen' mit mehr als 5.000. Das sind 14 pro Tag.

Von den brutalen Verbrechen ist auch der nördliche Bundesstaat Nuevo León betroffen, wo seit 2011 31.000 Knochenfragmente auf einer Ranch gefunden worden sind. 31 Opfer konnten identifiziert werden.


Jagd auf Menschenrechts- und Sozialaktivisten

"Anders als vorher befinden sich jetzt vor allem Menschenrechtler und Mitglieder organisierter Sozialbewegungen in der Schusslinie", meint Héctor Cerezo, der seit vier Jahren versucht, die Fälle 'verschwundener' Kollegen und Sozialaktivisten aufzuarbeiten. Seit Peña Nieto im Amt ist, dokumentierte er 81 Entführungen von Menschenrechtlern. Unter Calderón waren es 55 gewesen. "Insgesamt werden seit 2006 136 Aktivisten vermisst, von denen wir wissen, dass sie von staatlichen Sicherheitskräften mitgenommen worden sind."

Auch wenn die Zahl angesichts tausender 'Verschwundener' niedrig erscheint, deutet sie Cerezo zufolge darauf hin, dass der mexikanische Staat die soziale Kontrolle verschärft hat.

Der Bericht 'Die Menschenrechte in Mexiko schützen: Politische Unterdrückung, eine verbreitete Praxis', der am 27. August vom 'Mexikanischen Cerezo-Komitee' und der 'Nationalen Kampagne gegen Verschwindenlassen' veröffentlicht wurde, listet 860 Menschenrechtsverstöße gegen Sozial- und Menschenrechtsaktivisten im Zeitraum Juni 2014 bis Mai 2015 auf. Dazu zählen kollektive Übergriffe gegen 47 zivilgesellschaftliche Organisationen und 35 Gemeinschaften sowie die Zunahme willkürlicher Verhaftungen, die sich nahezu verdoppelt haben.

Die Festnahmen erfolgten während der Proteste landwirtschaftlicher Saisonarbeiter im nordmexikanischen Bundesstaat Baja California, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen, und Lehrerkundgebungen vor den Parlamentswahlen im Juni in Guerrero und im südlichen Bundesstaat Oaxaca, wo zwei Demonstranten getötet wurden.

Héctor Cerezo vom Cerezo-Komitee ist der festen Überzeugung, dass die Entführung der Studenten des Lehrerkollegs von Ayotzinapa im Zusammenhang mit der staatlichen Strategie steht, die soziale Kontrolle zu verschärfen. "Die Brutalität, das Ausmaß der Aggression und die Tatsache, dass die Regierung solche hohen politischen Risiken eingeht, lässt sich nicht allein mit der Drogenpolitik erklären. Das Verschwinden der Studenten war als Drohung an die Adresse der Menschenrechts- und Sozialbewegungen gedacht", ist er überzeugt.

Die Verbrechen haben die Gesellschaft und die Medien aufgerüttelt. Recherchen von Journalisten ergaben inzwischen, dass in den zentralen Bundesstaaten Mexiko und Michoacán in diesem Jahr mindestens 80 Personen von der Armee extralegal hingerichtet wurden - angeblich im Zuge von "Schießereien" mit kriminellen Banden.


Eltern suchen ihre Kinder

In Iguala suchen zivile Brigaden die Berge um die Stadt nach ihren vermissten Angehörigen ab. Sie fanden 104 Leichen in geheimen Gräbern, von denen bisher erst neun identifiziert werden konnten.

"Verschwindenlassen ist kein auf Ayotzinapa beschränktes Phänomen, sondern geschieht im ganzen Land", erklärte Graciela Pérez, die seit drei Jahren im Süden von Tamaulipas, 750 Kilometer nördlich von Iguala, nach ihrer vermissten Tochter sucht. Im Januar und Februar fand sie 50 geheime Gräber.

Wie von Menschenrechtsgruppen gefordert, wird die Interamerikanische Menschenrechtskommission eine Delegation entsenden, die vom 28. September bis 2. Oktober die Gräber besuchen wird. Und dem Parlament wurden die Entwürfe von vier Gesetzen vorgelegt, die Verschwindenlassen zu einem eigenen Straftatbestand machen sollen.

Am 23. September - einen Tag vor ihrem Treffen mit dem mexikanischen Präsidenten - traten die Eltern der vermissten Studenten in einen 43-stündigen Hungerstreik. Am 26. September werden die Teilnehmer eines Protestmarsches durch die mexikanische Hauptstadt die Aufklärung des Schicksals der 43 vermissten Studenten fordern. (Ende/IPS/kb/25.09.2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/09/el-cancer-de-los-desaparecidos-llena-de-dolor-y-lucha-a-mexico/
http://www.ipsnews.net/2015/09/forced-disappearance-a-cancer-eating-away-at-mexico/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 25. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2015

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