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LATEINAMERIKA/1471: Venezuela - Richtung Sozialismus oder Übergabe ans Kapital? (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 28 vom 11. Juli 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Richtung Sozialismus oder Übergabe ans Kapital?
In Venezuela hat der Rücktritt eines Ministers Fragen aufgeworfen

von Günter Pohl



In Venezuela ist eine Debatte um die Ausrichtung des Landes in Gang gekommen, nachdem der Planungsminister Jorge Giordani am 20. Juni zurückgetreten ist. Professor Giordani veröffentlichte dazu einen Text mit dem Titel "Zeugnis und Verantwortung vor der Geschichte".

Giordani, der mit einer Unterbrechung seit 1999 zu der bolivarianischen Regierung um Hugo Chávez gehörte, war einer der wenigen marxistisch orientierten Regierungsmitglieder. Die Wirtschaftswebsite "venezuelanalysis.com" sieht in dem Schritt einen Bruch in der Wirtschaftspolitik des Landes, inmitten einer Zeit von "hoher Inflation, Produktionskürzungen und Druck auf das Währungssystem" Venezuelas. Dem Portal zufolge ist die Nachricht an der Wall Street gut angekommen; nun würden pragmatischere Kräfte an Einfluss gewinnen. Neuer starker Mann in der Wirtschaft des eng mit Kuba befreundeten Staates würde nun Ölminister Rafael Ramírez, der auch Direktor der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA ist, aus deren Führung Giordani vor Kurzem ebenso abgelöst worden war wie aus der Leitung der Zentralbank. Nachfolger Giordanis ist Ricardo Menéndez, früherer Industrieminister.

In seiner Erklärung beklagt Jorge Giordani, dass viele seiner Vorschläge von Präsident Nicolás Maduro nicht befolgt worden seien. Giordani warf Maduro auch Führungsschwäche und Wiederholungen der Ideen von Hugo Chávez vor ohne eigene Initiativen zu entwickeln. Giordani warnte in seiner Stellungnahme vor der "Wiedereinführung kapitalistischer Finanzmechanismen zur Wiederinbesitznahme von Ölrenten über den Finanzenweg". Jorge Giordani schlägt für das Land aktuell einen stärkeren Kampf gegen die Korruption sowie die Vergeudung bei öffentlichen Ausgaben vor. Ohne dessen Namen konkret zu nennen, antwortete Maduro, dass es für niemanden eine Entschuldigung gebe, wenn er "sich vom revolutionären Projekt und dem Erbe von Kommandant Chávez lossagt".

Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) wandte sich am 23. Juni in Gestalt ihres Generalsekretärs Óscar Figuera an die Öffentlichkeit. Dabei betonte er, dass das Dokument Giordanis gewiss einen Beitrag und eine Gelegenheit darstellt, eine große Debatte loszutreten, die letztlich erlaubt zu zeigen, wohin sich der bolivarianische Prozess bewegt und welche Erfolge und Fehler er auf dem Weg einer Sozialismusperspektive aufweist.

Die Erklärung Professor Giordanis sei weder komplett falsch noch die volle Wahrheit; vielmehr müsse sie genutzt werden. Vieles von dem, was Giordani kritisiert, sei von der PCV seit Jahren angemahnt worden - so die Forderungen nach einer neuen revolutionären volksnahen Wirtschaftspolitik; die nach einer neuen Arbeitsgesetzgebung, die nach einer kollektiven Leitung des revolutionären Prozesses; die nach Teilhabe und Kontrollmöglichkeiten der Arbeiter/innen bei Regierungsangelegenheiten aller Art; und auch die nach einer Entwicklung der Produktivkräfte. Andererseits habe in der Erklärung des Professors Selbstkritik gefehlt, war er doch in den fünfzehn Jahren des bolivarianischen Prozesses einer der zentralen Akteure gewesen.

Óscar Figuera sieht heute "die Notwendigkeit, dass die Führung des Landes dem Volk die Wahrheit sagt", damit in der Folge korrigiert werden kann, was korrigiert werden muss. Es müsse geklärt werden, welches die großen Linien einer autonomen, unabhängigen und souveränen Entwicklung des bolivarianischen Vaterlands sind.

Figuera fragte auch nach der Befindlichkeit der revolutionären Kader: "Sind alle, die 1998 mit Präsident Chávez die Führung des Landes übernommen haben, noch revolutionäre Subjekte? Die, die reicher geworden sind - sind sie auch korrupt? Und sollten sie weiterhin Führer im Prozess sein?" Das revolutionäre Subjekt, die Klasse, müsse jedenfalls als historischer Träger der Veränderungen anerkannt werden, wenn man es ernst mit dem Sozialismus meine. Alle Räte seien politisch oder parlamentarisch anerkannt worden, aber vor der Gründung der "Sozialistischen Arbeiterinnen- und Arbeiterräte" habe man wohl Angst, so der PCV-Generalsekretär.

Für die PCV steht letztlich die Frage, ob es mit einer Transition Richtung Sozialismus weitergeht oder mit einer Versöhnungsoption mit Perspektive der Übergabe des Prozesses an das Großkapital. Die Partei ist dabei immer einen klugen Weg gegangen, hat sie doch jeweils eine geschickte Balance zwischen notwendiger Distanziesung von opportunistischen Elementen und populistischen Politikansätzen in der Regierung und bedingungsloser Verteidigung der revolutionären Inhalte des Prozesses gehalten. Die Debatte, die nun in Venezuela auf den Rücktritt des marxistischen Wissenschaftlers Giordani vom Amt des Planungsministers folgen müsste, wäre tatsächlich ein Schritt hin zu einer Klärung. Denn es gibt perspektivisch weder erdölbasierten noch kapitalgeduldeten Sozialismus. Die Stimmen in Venezuela, die ihre sozialistischen Ideen auf wissenschaftlicher Grundlage erheben, müssen lauter werden.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 28 vom 11. Juli 2014, Seite 7
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2014