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LATEINAMERIKA/1423: Partei-Interessen verhindern konkrete Fortschritte in Brasilien (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Juli 2013

Brasilien:
Wenig Hoffnung auf Reformen - Partei-Interessen verhindern konkrete Fortschritte

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Junge Demonstranten in Brasilien
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 12. Juli (IPS) - In Reaktion auf die Massenproteste in Brasilien hat Staatspräsidentin Dilma Rousseff zahlreiche politische Reformen und eine Volksbefragung angeregt. Doch die Bemühungen scheinen an der Bürokratie und den endlosen Diskussionen in ihrer Partei zu scheitern - den Faktoren, über die sich die Demonstranten so sehr ereifern.

Nachdem Millionen junger Brasilianer wochenlang in den großen Städten auf die Straße gegangen waren, hat die Präsidentin, die der linken Arbeiterpartei PT angehört, am 3. Juli dem Parlament vorgeschlagen, eine Volksbefragung zu mehreren strittigen Themen abzuhalten, die danach von den Abgeordneten beraten werden sollen.

Dazu zählen etwa die öffentliche und private Finanzierung von Wahlkämpfen oder die Frage, ob weiterhin auch Stellvertreter von Senatoren gewählt werden sollen. Debattiert werden sollen außerdem die Regeln, nach denen bei den Wahlen des Unterhauses und der Stadträte Parteibündnisse gebildet werden können und ob das geheime Votum im Parlament abgeschafft werden soll.

"Wir wissen zwar noch nicht, wie die Fragen des Plebiszits konkret abgefasst werden. Im Prinzip sollen die Wähler kundtun können, ob sie für Parlamentsberatungen über politische Reformen sind", sagt Mauricio Santoro, Berater der Menschenrechtsorganisation 'Amnesty International'.


Präsidentin schlägt Einberufung verfassunggebender Versammlung vor

Ursprünglich hatte Rousseff eine eingeschränkte Form einer verfassunggebenden Versammlung vorgeschlagen. Doch Santoro zufolge löste die Idee eine so große Kontroverse aus, dass sie sofort wieder verworfen wurde. "Um den Forderungen der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen, betrachten wir es als wesentlich, das politische System Brasiliens umfassend und unverzüglich zu reformieren", hatte Rousseff erklärt.

Nach Ansicht Santoros hat es gewisse Reformbemühungen gegeben, die aber nicht zu signifikanten Ergebnissen führten.

Über politische Reformen wird in Brasilien bereits seit etwa 15 Jahren diskutiert. Die unterschiedlichen Interessen der Parteien standen diesen Debatten jedoch im Wege. Angesichts der kontroversen Haltungen, die sich in den vergangenen Tagen sogar innerhalb der Regierungskoalition gezeigt haben, sind die Chancen auf Erneuerung gering.

Der Widerstand der Parteien gegen einen Wandel sei ein "nationales Übel", meint Fernando Lattman-Weltman vom Labor für Politische Studien der Getulio-Vargas-Stiftung (FGV). Die Opposition und die Wahlbehörden haben zudem die Wirksamkeit eines Plebiszits und einer nachfolgenden Parlamentsdebatte in Frage gestellt. Die Regierung will diese Pläne vor den nächsten Wahlen 2014 umsetzen.

Die Volksbefragung an sich stößt ebenfalls auf Kritik. Santoro hält es durchaus für möglich, politische Reformen auch ohne eine verfassunggebende Versammlung anzugehen. "Es kann bereits viel erreicht werden, indem Gesetze oder Parteistatuten geändert werden. Selbst wenn eine Änderung der Verfassung notwendig werden sollte, kann diese ohne das Parlament erfolgen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass anstatt einer einfachen Mehrheit 60 Prozent der Stimmen benötigt werden."

"Wenn die Politik über Reformen spricht, soll die Aufmerksamkeit von den Protestierenden abgelenkt werden. Diese fordern mehr Mitsprache bei Entscheidungsfindungen", sagt der Politikwissenschaftler Ricardo Ismael von der Päpstlichen Katholischen Universität in Rio de Janeiro. "Sie versuchen, die Energie der Straßenproteste für sich zu vereinnahmen. Dabei wird allerdings deutlich, dass die Demonstranten das Plebiszit nicht als ihr eigenes Anliegen betrachten. Sie wollen mehr Krankenhäuser und eine Verbesserung des öffentlichen Transportsystems."

Die Demonstranten kritisieren zudem Straffreiheit, Korruption und die Kungelei von Politikern aus dem Regierungslager und der Opposition. Nach Ansicht von Ismael kommt es nun vor allem darauf an, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und schwarze Kassen zur Finanzierung von Wahlkampagnen zu verhindern. Zudem sollten private Zuwendungen im Wahlkampf begrenzt oder ganz verboten werden. Indem die Wähler Informationen über die Herkunft der Wahlkampfgelder erhalten, soll die Transparenz gestärkt werden. Der Experte ist jedoch der Meinung, dass diese Fragen erst im Parlament beraten werden sollten, bevor ein Plebiszit abgehalten wird.


Kritik an nicht gewählten Stellvertretern von Senatoren

Lattman-Weltman hält es indes für essenziell, dass das Parlament die Frage nach den Stellvertretern von Senatoren regelt. Wenn in Brasilien ein Senator sein Amt aus irgendeinem Grund aufgibt, rückt ein nicht gewählter Stellvertreter nach. "Es ist lächerlich, wenn die Wähler für einen Senator stimmen, ohne zu wissen, wer ihn eventuell ersetzen wird", kritisiert Lattman-Weltman.

Im Zentrum der Kontroversen stehen jedoch die Modalitäten für die Wahl der Parlamentarier und Mitglieder der Stadträte. Bisher werden 'offene Listen' präsentiert. Die 'überschüssigen' Stimmen werden auf andere Kandidaten aus der Partei verteilt. Gefordert wird nun, dass die Mandate an Kandidaten gehen, die die Stimmenmehrheit erhalten. Eine weitere Option wäre eine 'geschlossene Liste' und die Abgabe von Stimmen für Parteien statt für Kandidaten. Diese Alternative wird von den traditionellen Parteien bevorzugt. Außerdem steht die Einführung von zwei Wahlgängen zur Diskussion. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:
http://portal.fgv.br/
http://www.ipsnoticias.net/2013/07/reforma-politica-brasilena-cae-en-su-propia-trampa-partidaria/
http://www.ipsnews.net/2013/07/brazilian-political-reform-falls-into-own-party-trap/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Juli 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2013