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LATEINAMERIKA/1382: Mexiko - Jedes Tuch ein zerstörtes Leben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. November 2012

Mexiko: Jedes Tuch ein zerstörtes Leben - Angehörige der Opfer von Calderóns Anti-Drogen-Krieg verabschieden den Präsidenten auf ihre Weise

von Daniela Pastrana


Künstler sticken die Namen von Verschwundenen auf Tücher - Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Künstler sticken die Namen von Verschwundenen auf Tücher
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 30. November (IPS) - Im ganzen Land wehen weiße Tücher im Wind. Bestickt sind sie mit den Namen von verschwundenen Töchtern, Söhnen, Kommilitonen und Arbeitskollegen. Auf diese Weise verabschieden Hinterbliebene von Verschwundenen sowie Aktivisten und Künstler den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón aus seinem Amt.

Zum 1. Dezember endet die Amtszeit Calderóns, und die Legislaturperiode von Enrique Pena beginnt. Viele Mexikaner sind erleichtert. Nachdem Calderón im Jahr 2006 die Amtsgeschäfte übernommen hatte, militarisierte er den Kampf gegen die organisierte Drogenkriminalität. Tausende Menschen kamen in der Folge ums Leben.

Im Juni 2001 traf sich Calderón mit Vertretern der Friedensbewegung. Diese forderten von ihm, ein Mahnmal für die Verschwundenen auf den Weg zu bringen. Stattdessen hat die Regierung lediglich ein Mausoleum für Soldaten eingerichtet. Ein Gebäude, das die Regierung 'Mahnmal für die Opfer' nennt und auf militärischem Gebiet steht, erkennen die Angehörigen der Opfer nicht an.


"Calderón hat unsere Familie auseinandergerissen"

"Calderón hat tausenden von Familien große Schmerzen zugefügt", sagt Leticia Hidalgo aus der nordmexikanischen Stadt Monterrey, eine der Initiatorinnen der Tuchaktion. "Er hat unser Leben verändert, uns als Familie auseinandergerissen. Von unserem Sohn bleibt uns nichts als die Erinnerung und die Liebe zu ihm. "

Hidalgos Sohn Roy Rivera war 19 Jahre alt, als er am 11. Januar 2011 verschleppt wurde. Die Entführer des Philosophiestudenten forderten Lösegeld, das die Familie auch zahlte. Aber ihren Sohn sahen sie dennoch nie wieder. Hidalgo hat auf das Tuch den Wunsch gestickt, dass Roy bald nach Hause zurückkehrt. "Mein Sohn, ich gebe dich in Gottes Hände. Wir erwarten dich bald zurück, sehr bald. Deine Mama und Richi."

Hidalgos Stickerei findet seinen Platz zwischen anderen weißen Kopftüchern im Park Alameda Central in Mexiko-Stadt. Viele wurden von Familienangehörigen von Verschwundenen und Toten beschriftet, einige auch von anderen Zeitzeugen. Auch auf anderen Plätzen der Stadt wehen Tücher. "15. Januar, Bundesstaat Nuevo León. Zwei Frauen sterben bei einer Schießerei in der Kolonie Balcones de Altavista in Monterrey. Stickerei: Eine andere Frau", steht auf einem der Tücher auf dem zentralen Platz im Stadtteil Coyoacán.

Bestickte Tücher sind auch in anderen Ländern Lateinamerikas ein Zeichen des Protests von Angehörigen Verschwundener. Die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien, die die Wiederkehr ihrer während der Militärdiktatur der 70er und 80er Jahre verschwundenen Kinder fordern, tragen seit Jahrzehnten Kopftücher.

Die Idee, den Präsidenten mit Tüchern aus seinem Amt zu verabschieden, hatte in Mexiko eine Künstlergruppe. Das Kollektiv 'Fuentes Rojas' färbte zunächst das Wasser einer Reihe von Springbrunnen rot ein. Gedacht war das als Anklage gegen die blutige Sicherheitsstrategie Calderóns. Während ihrer Treffen begannen sie schließlich zu sticken. Die erste Aktion realisierte die 'Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde' im August 2011. Daraufhin wiederholten sie die Aktion jeden Sonntag auf dem zentralen Platz in Coyoacán.


"Das Ergebnis sinnloser Gewalt"

"Wir wollten die Bevölkerung dafür sensibilisieren, dass hier in Mexiko eine große Tragödie stattfindet", erklärt die Künstlerin Elia Andrade gegenüber IPS. Jedes einzelne Tuch steht für ein zerstörtes Leben, jeder Stich für eine Träne. Jeder Faden symbolisiert den Schrei der Verzweiflung angesichts von Tod und Straflosigkeit. "Für uns war das ein symbolischer Akt, um die Verschwundenen sichtbar zu machen und zu zeigen: Das ist das Ergebnis dieser sinnlosen Gewalt."

Die rot bestickten Tücher in Mexiko-Stadt sind aber nur der Anfang. Angehörige und Aktivisten in anderen Landesteilen haben die Aktionsform übernommen und für sich adaptiert. In Nuevo León beispielsweise, dem Bundesstaat mit der höchsten Zahl an Vermissten, haben sich die Mütter Verschwundener für einen grünen Faden entschieden. "Grün ist die Farbe der Hoffnung - und wir hoffen noch immer, dass wir unsere Kinder wiederfinden", sagt Hidalgo, die seit März dieses Jahres gemeinsam mit anderen Frauen vor dem Rathaus in Monterrey Kopftücher bestickt. Mittlerweile haben sie 200 fertig.

Auch in Guadalajara, der Hauptstadt des ostmexikanischen Bundesstaates Jalisco, wird gestickt. "Sticken ist ein Akt der Liebe und der Erinnerung", schreibt die Initiatorin Teresa Sordo im Blog der Gruppe der Friedensstickerinnen. Viele der Namen, die sie auf die Kopftücher schreiben, entnehmen sie einer Liste des Kollektivs 'Unsere scheinbare Kapitulation', dessen Mitglieder die Namen aller Verschwundenen auflisten, die sie in den Tageszeitungen finden. (Ende/IPS/jt//2012)


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http://movimientoporlapaz.mx/
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IPS-Tagesdienst vom 30. November 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2012